Anders Lindseth, ein 1946 geborener norwegischer Philosoph, ist Professor für praktische Philosophie am Zentrum für praktisches Wissen der Hochschule in Bodø und an der medizinischen Fakultät der Universität Tromsø. Seit 1989 führt er eine philosophische Praxis, seine Tätigkeit reflektiert er in seinem Buch „Zur Sache der philosophischen Praxis. Philosophieren in Gesprächen mit ratsuchenden Menschen“, das 2005 bei Karl Alber (Freiburg im Breisgau/München) erschienen ist. Von 1983 bis 2003 war er stellvertretender Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis (IGPP).
Im Oktober 2017 war er zu Gast im Wiener Institut für Paar- und Familientherapie. Sabine Klar hat einen sehr instruktiven Bericht über dieses zweitägige Seminar verfasst:
Sabine Klar, Wien: Die „Sache“, die auf dem Spiel steht – eine Fortbildung über die philosophische Praxis
Im Oktober 17 lud das Institut für Paar- und Familientherapie auf Anregung von Klaus Schmidsberger den Philosophen Anders Lindseth zu einer 2tägigen Fortbildung ein. Schon im Vorfeld schickten wir ihm eine Menge Fragen, die sich u.a. mit dem Unterschied zwischen philosophischer Praxis und Psychotherapie beschäftigten und damit, ob es sich dabei um eine in einer speziellen Ausbildung erworbene, zu bezahlende Dienstleistung handelt oder um etwas ganz anderes bzw. ob die philosophische Praxis auch Anwendungen für Mehrpersonensettings kennt. Wir studierten außerdem einen Artikel (Anders Lindseth: Von der Methode der philosophischen Praxis als dialogischer Beratung). Dass mich die Thematik interessiert, bräuchte ich hier wahrscheinlich nicht mehr erwähnen – ich arbeite ja seit 18 Jahren unter dem Titel „Therapy meets Philosophy“ im IAM mit einem Philosophen zusammen.
Lindseth studierte in Norwegen Philosophie, Mathematik und Psychologie und betreibt seit 1989 – neben seiner Anstellung an der Universität – eine philosophische Praxis in Tromsø. Tom Andersen und Harry Goolishian interessierten sich für seine hermeneutischen Kommentare zu Fällen. Philosophie muss aus seiner Sicht immer an der konkreten menschlichen Erfahrung ansetzen („Wenn man philosophisch denkt, kann alles ein philosophisches Problem sein“). In der Fortbildung des IPF berichtete er uns über seine „Aha-Erlebnisse“ in der Philosophie und zog einen großen Bogen von den antiken Philosophen bis ins 20. Jahrhundert. Der Dialog mit uns kam dabei leider etwas zu kurz, was mich aber nicht daran hindern wird, hier die aus meiner Sicht wesentlichen Aspekte, die auch im Hinblick auf die systemische Praxis wichtig sein könnten, zusammenzufassen (einfachheitshalber in der von ihm gewählten Reihenfolge). Eines kann man ganz grundsätzlich sagen: philosophische Praxis ist jedenfalls nicht Behandlung – man tut nichts mit Menschen, man löst sich von dem Druck, ein Ziel zu erreichen (das tun aus Lindseths Sicht aber erfahrene Psychotherapeut_innen auch).
Unter Berufung auf Platon und Sokrates unterscheidet er die Begriffe „episteme“ (Einsicht, wahres bzw. begründetes Wissen; dialogischer Zugang) und „doxa“ (Meinung, Standpunkt, Auffassung; monologischer Zugang). Auf dem Weg des Lebens („hodos“) versuchen wir uns zu orientieren und geraten dabei in Krisen, die ermöglichen, sich anders zu entscheiden und anders zu unterscheiden. Im Unterschied zu „doxa“, wo ein Standpunkt behauptet wird, steht bei „episteme“ das Erkenntnisinteresse im Vordergrund. Darin besteht das Philosophieren (im in Frage stellen, im sich Wundern). Wenn sich jemand täuscht, ist nicht das Problem, dass er die Wahrheit nicht kennt, sondern dass er seine Täuschung für die Wahrheit hält. Der Lebensweg ist voller Diskrepanzen – philosophische Praktiker greifen auf den Meta-Weg, den Meta-Hodos („Methodos“) zurück. Motto: ein Leben, das eine kritische Prüfung nicht aushalten kann, ist es nicht wert zu leben. Es braucht einen Gesprächspartner, der für meine Diskrepanzerfahrungen offen ist, der verweilt, wo er nicht weiß, worum es sich handelt, der Halt macht bei etwas, das er nicht versteht, der prüft, wie ein Begriff gemeint ist (hermeneutischer Zugang als Prinzip des berührten Nicht-Wissens).
Unter Berufung auf Spinozas Lehre vom Erkennen (17.Jahrhundert) unterscheidet Lindseth die Begriffe „imaginatio“ (Vorstellungsvermögen; Meinungsbildung) von „ratio“ (logisches Denken und Schlussfolgern) und „intuitio“ (das Allgemeine im Einzelnen sehen). Während „ratio“ zu etwas Generellem kommen will, hat „intuitio“ keinen Generalisierungsanspruch, sondern ist am einzelnen Fall orientiert und versucht von dort aus, das Allgemeine zu erkennen (sie entspricht qualitativen Forschungsansätzen). In Bezug auf Spinozas Affektlehre unterscheidet er zwei Affekte – „aktive“ (ich habe den Affekt, stehe zu ihm) und „passive“ (er hat mich im Griff, ich erleide ihn). Es geht darum, aus der Passivität in die Aktivität zu kommen, woraus sich eine gewisse Freiheit ergibt (wir sind Menschen, die in Vorstellungen und Gefühlen gefangen sind, sie aber durchschauen können, um nicht mehr so von ihnen hin- und hergerissen zu werden). Kant ist für Lindseth (neben Platon) einer der am meisten missverstandenen Philosophen. Berührt hat ihn hier – so wie bei Spinoza – der Freiheitsgedanke. Kant versteht Freiheit als Selbstbestimmung (sich nach Gesetzen richten, die man selbst setzt, Handeln nach dem „kategorischen Imperativ“). Wir erfahren uns als heteronom bestimmt, können empirisch nie genau sagen, dass wir autonom sind – haben aber die Möglichkeit zur Autonomie.
Neuzeitliches Denken behauptet, dass Menschen eine objektive Beobachterposition einnehmen und die Welt erkennen können, wie sie ist – das Subjekt wird am Rand der Welt situiert (Subjekt beherrscht Welt als Objekt). Im 19. Jahrhundert entsteht eine Gegenbewegung, die zurück will zu einem Orientierungswissen, das es früher auch schon gab – bei dem wir mit Leben, Welt, Wirklichkeit verbunden gesehen werden. In der Phänomenologie sind wir Teilnehmende – Teilnahme ist Voraussetzung für Beobachtung. Während z.B. für Descartes Bewusstsein als kognitive Fähigkeit verstanden wird, losgelöst vom Gewissen (das dann zu etwas Moralischem mutiert), besteht der moderne Begriff von Bewusstsein in einer Teilnahme (wir nehmen teil und wissen davon).
Hermeneutik ist die Kunst des Auslegens von Texten (es gibt sie seit es Texte gibt). Die Idee, das wirklich Wesentliche begreifen zu wollen, impliziert einen gewissen Erkenntnisfortschritt – laut Heidegger z.B. können wir auch besser und schlechter verstehen. Dekonstruktion braucht viel Gelehrsamkeit und einen skeptischen Zugang (nicht mit Sicherheit wissen; nicht gefangen sein in Auslegungsweisen). Laut Gadamer ist Verstehen Verständigung „in der Sache“ – wir müssen dabei einer Sache gerecht werden. Konstruktionist_innen wie z.B. K. Gergen geht es laut Lindseth nicht um „die Sache“ als etwas Drittes – manche Systemiker_innen würden dazu neigen, die von der Natur gegebene „Sache“ nicht so ernst zu nehmen. Beim Bezug auf „die Sache“ geht es um etwas – man muss auf das „Material“ (menschliches Leben) Rücksicht nehmen, es ist nicht alles nach Belieben konstruierbar. Auch wissenschaftliche Diskurse müssen die „Sache“ kennen, um die es geht.
Hermeneutische Zugänge haben also nichts mit Beliebigigkeit zu tun. Manchmal helfen Vorwissen oder Erfahrungen, besser zu verstehen – sonst wird man leicht Opfer der Begrenztheit des eigenen Verstehens. „Die Sache“ („matter at stake“) ist das, worum es geht (für jeden einzelnen, aber auch generell menschlich), das „was auf dem Spiel steht“, was wir verstehen wollen – die grundlegenden Lebensthematiken. Die Frage nach dem, was auf dem Spiel steht, gehört zu einem von Lindseths Schwerpunkten. Der Ausdruck im Zusammenhang mit so einer „Sache“ macht beim Zuhörenden einen Eindruck. „Epochê“ („ἐποχή“; Zurückhaltung seines Urteils) ist hier der Verzicht, sofort zu wissen bzw. sich sofort einzusetzen (z.B. um zu helfen, zu intervenieren, ein Ziel zu erreichen, einen Auftrag zu erfüllen usw.). All das verschließt den Raum des Auskundschaftens der „Sache, um die es geht“. Lindseth spricht in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf Husserl von „eidetischer Reduktion“ (die Zurückführung auf unumgängliche Lebensthemen; „eidos“ ist das Bild, die Thematik, die Idee, die erscheint). Heikel ist es hier, zu schnell zu sein – „die Sache“ soll von selbst erscheinen können. Aus Lindseths Sicht werden solche unumgänglichen Lebensthemen eigentlich recht oft umgangen – es gibt hier Wesentliches, Essenzielles zu entdecken.
Aufgabe der Philosophie ist es übrigens nicht, das Leben einfacher für die Klient_innen zu machen – sie ist eine große Herausforderung und braucht Mut, sich in den eigenen Freiraum vorzuwagen. Das Schlimmste ist allerdings nicht der Gegenwind (denn da bekommen wir noch Bedeutung), sondern wenn wir auf Gleichgültigkeit stoßen (wenn das, was uns betrifft, niemand beachtenswert findet).
In Bezug auf die Ethik unterscheidet Lindseth „Handlungsethik“ (Betonung von Prinzipien und Konsequenzen; in Lehrbüchern verankert) von „relationaler Ethik“ (Menschen, die in Beziehungen zueinander stehen; „sich vorwagen auf ein Entgegenkommen zu …“; da steht das Leben selbst auf dem Spiel). Heikel bei der Bezugnahme auf „die Sache“ ist, wenn ich glaube zu wissen, worum es geht, wenn ich nach einer vorgegebenen Methode handle oder mich darauf versteife, was ich verstanden habe. Stattdessen besteht die Aufgabe darin, einen Raum zu schaffen, wo es möglich ist, sich zu öffnen – einen Aufmerksamkeitsraum, wo man sich gehört fühlt und sich selbst zuhören kann, wo der Ausdruck zur „Sache“ auf den Zuhörenden wirkt und Resonanz entsteht. Dieser Raum schließt sich, wenn der Zuhörer etwas dagegen hat, was wir sagen oder wie wir es sagen oder wenn er sein Vorwissen einbringt um sich zu beweisen bzw. etwas gut machen zu wollen. Dann kommt der Ausdruck des Redenden im Vorwissen und nicht im Leib des Zuhörenden an. Man beraubt den Sprecher des Ausdrucks, indem man den Ausdruck zu einer Information macht, mit der aber nur die Professionistin etwas anfangen kann. Aus solchen interventionistischen Ansätzen ergibt sich auch Leistungsdruck.
Wenn man eigenes Vorwissen nicht sofort ins Spiel bringt, bedeutet das nicht, dass man keines haben darf. Es geht darum, es in Klammer zu setzen, um es ev. später zu verwenden, wenn es dazu dienen kann, einem Eindruck folgend etwas Hilfreiches zum Ausdruck zu bringen. Probleme ergeben sich, wenn wir glauben, dass „die Sache“ im Vorwissen verankert ist und nicht im Ausdruck – dadurch wird das unterbewertet, was zum Ausdruck kommt. „Die Sache“ ist dort verborgen, wo wir selbst etwas entdecken, das zum Ausdruck kommt. Resonanz ist etwas Dialogisches – wir können als Professionist_innen nicht wissen, was „die Sache“ ist. Es braucht auf beiden Seiten Menschen, die dafür offen sind (nicht solche, die bloß viel reden oder sich selbst bestätigen wollen). Lindseth meint, dass nur Menschen, denen es um etwas (nämlich „die Sache“) geht – die also ein Erkenntnisinteresse haben – Gäste in einer philosophischen Praxis werden.
Er nahm dann noch Bezug auf Phänomene wie Vertrauen, Misstrauen, Liebe, Kränkung, Scham, Schuld und Angst – doch darauf möchte ich hier aus Platzgründen nicht mehr eingehen. Stattdessen verweise ich auf sein Buch (s.u.). Am Schluss meinte er noch, dass ihm die philosophischen Gespräche das Liebste sind, das er tut – denn sie sind immer wesentlich.
Empfohlene Literatur:
Anders Lindseth: Zur Sache der Philosophischen Praxis. Philosophieren in Gesprächen mit ratsuchenden Menschen. Verlag Karl Alber 2005
Weiteres auf Englisch:
(mit freundlicher Genehmigung aus Netzwerke, ÖAS 2018)