
Evelyn Niel-Dolzer ist Psychologin und Psychotherapeutin (SF), arbeitet in freier Praxis und ist Lehrtherapeutin sowie Wissenschafts- und Forschungsbeauftragte an der Lehranstalt für Systemische Familientherapie in Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte und Weiterentwicklung der systemtherapeutischen Theoriebildung, Phänomenologie und Systemtheorie, Intersubjektivität, Dialog zwischen gegenwärtigen psychoanalytischen und systemtherapeutischen Schulen und Konversationsanalyse.
Im Februar 2025 hat sie auf der Fachtagung „Systemische Biografiearbeit“ einen sehr hörens- und lesenswerten Vortrag gehalten, den sie dankenswerterweise dem systemagazin zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat. Die Lektüre kann ich nur empfehlen.
Evelyn Niel-Dolzer: Sich erzählen lassen. Der Erzählraum als Spiel-Raum
Sich erzählen lassen – diese drei einfachen Worte sprechen in schöner Doppeldeutigkeit zweierlei aus: ‚Ich lasse erzählen‘ – ich bin Zuhörer*in bei anderen und ‚Ich lasse mich erzählen‘ – ich spreche aus mir heraus zu anderen.
Erzählen (und Erzähltes) entfaltet sich so in einem Raum zwischen Menschen, die füreinander Sprechende und Hörende sind. Diesen Erzählraum zugleich offen und strukturiert zu gestalten, gehört zur Grundkompetenz Systemischer Biografiearbeit und ist in jeglichem Umgang mit Klient*innen von Bedeutung. In der Beweglichkeit, die dieser Spiel-Raum bietet, wird das Erkunden und Ausdrücken der eigenen Geschichte lebendig und zeigt transformatorische Wirkung.
Aleida Assmann hat gestern in ihrem Vortrag „Lässt sich die Vergangenheit reparieren?“ die Wirkmächtigkeit von Biografiearbeit in einen weit gesteckten Sinnhorizont gestellt: „Was im Kleinen ausgefochten wird, das gilt auch im Großen“ – die Verfasstheit einer Gesellschaft lässt sich unter anderem an ihrer Erinnerungsbereitschaft und praktizierten Gedächtniskultur bemessen; mit weitreichenden Folgen für die Erschaffung sozialer Schranken oder deren Überwindung.
Herta Schindler wird – nach mir – auf die individuellen Gedächtnisebenen Bezug nehmen, sodass wir individuelle und kollektive Gedächtnisebenen nicht als voneinander getrennte Prozesse verstehen müssen, sondern eher als Schichtungen, die ineinander übergehen. Wie die „Blickscharniere“, wenn wir Kippbilder betrachten, die uns zu spontanen Wahrnehmungswechseln verhelfen und wir je nach Blick-Fokussierung zwei Gestalten in einer sehen können und eine in zwei. Sie kennen gewiss eines der bekanntesten Kippbilder, in dem man mal eine weiße Vase in der Mitte sieht und mal zwei schwarze Gesichter im Profil, die sich einander zugewandt anblicken. Jede Gestalt macht die jeweils andere sichtbar, indem sie in den Hintergrund tritt.
Ich darf zwischen diesen beiden erfahrenen Expertinnen und selbst keine Expertin für Biografiearbeit nun zu Ihnen sprechen, um gewissermaßen wie durch die Linse eines Mikroskops Ihre Aufmerksamkeit auf ein Detail in diesen Schichtungen zu lenken. Mikroskop, das leitet sich ja her von griechisch μικρός mikrós, was „klein“ bedeutet und σκοπεῖν skopeín, das wir mit „betrachten“ ins Deutsche übersetzen können. Wir betrachten nun also zwischen diesen beiden Vorträgen von Frau Assmann und Frau Schindler „etwas ganz Kleines“. Aber Bedeutsames. Etwas, das in allen Prozessen der Biografiearbeit in all ihren vielfältigen Formen auf der kollektiven und individuellen Ebene seine Wirksamkeit entfaltet: Das Erzählen.
Ich möchte Ihnen zeigen, was ich sehe, wenn ich dieses „Erzählen“ unter die Lupe – unter das Mikroskop – nehme und durch die optische Vergrößerung beim Hineinzoomen ein interessantes dynamisches Geschehen beobachten kann: Erzählen und Zuhören sind nicht zwei Geschehen, sondern eines. Ähnlich wie im Kippbild verhelfen einander Erzählen und Zuhören zu ihrer Gestalt und verleihen einander Existenz. Das eine gäbe es nicht ohne das andere. Man kann sie – erzählen und zuhören – unterscheiden, aber nicht trennen. Sie durchdringen einander, indem sie sich voneinander abgrenzen und grenzen sich voneinander ab, indem sie einander durchdringen. Sie ermöglichen einander wechselseitig ihr Da-Sein. Erzähler:in und Zuhörer:in gibt es nur miteinander. Niemand will einfach nur erzählen. Wer etwas sagen will, will immer jemandem etwas sagen. Alles andere wäre vollkommen sinnlos. Erzähler:in und Zuhörer:in verleihen einander wechselseitig ihre Präsenz und sind umgekehrt unverbrüchlich auf die Präsenz der jeweils Anderen angewiesen.
Wie ein atmender Organismus ist ein Gespräch – diese dynamische Einheit von Erzählen und Zuhören, die sich, wie jeder lebende Organismus durch seinen kontinuierlichen „Stoffwechsel“ am Leben erhält. „Ich will mich mit jemandem austauschen“, sagen wir alltagssprachlich nicht ohne Grund, wenn wir das drängende Bedürfnis spüren, jemandem etwas zu erzählen. Wir wissen aus Erfahrung und intuitiv um die transformatorische Wirkung, eines „Gesprächs-Austausches“: danach ist „man“ „ausgetauscht“, also eine Andere. Und zwar beide: Erzähler:in und Zuhörer:in.
Wie ein atmender Organismus ist ein Gespräch, dem zwei entspringen. Aus dem „Austausch“ in der Einheit von Erzählen-Zuhören, gehen zwei „veränderte Individuen“ hervor und gehen weiter ihres Weges.
Das sehe ich, wenn ich durch mein Mikroskop schaue: Zwei, die „sich austauschen“ und dabei in etwas Drittes hineingeraten: in ein Gespräch, eine dynamische Wechselbewegung von Erzählen und Zuhören. Das Erzählen kann nur deshalb transformatorische Wirkung entfalten, weil es sich dabei nicht um die singuläre „Sprach-Produktion eines solitären Individuums“ handelt, sondern um ein Resonanzphänomen. Im Erzählen-Zuhören überlassen sich Zwei einem „unverfügbaren Dritten“, einem Resonanzraum, einem Spiel-Raum, in dem Stimmen erklingen und Ohrenhörend werden können. Aneinander. Das Ohr der Zuhörer:in und die Worte der Erzähler:in verdanken einander ihr Da-Sein. Keines gäbe es, ohne das andere.
So wenig sind Erzählen und Zuhören voneinander zu trennen, wie sie weder eindeutig aktiv noch eindeutig passivsind. Beide, das Erzählen und das Zuhören sind – unter meinem Mikroskop – von einer eigentümlichen Mischform: sie sind weder rein aktiv, noch rein passiv. Und wie uns die Linguistik lehrt, waren das früher – vor der „Erfindung des Passivs“ (der sogenannten grammatikalischen „Leideform“) sehr viele Verben unserer Sprache. Es gab – sprachgeschichtlich betrachtet – die längste Zeit überhaupt keine reine Passivform. Es gab – bevor es in den meisten heute gesprochenen Sprachen ausgestorben ist – das sogenannte Mediopassiv, weil man damals nämlich noch etwas ganz Bestimmtes zur Sprache bringen wollte: Und zwar dass das Subjekt eines Satzes – also z.B. „Ich“ oder „Du“ als Subjekt einer bestimmten Erfahrung – offenkundig weder eindeutig „etwas aktiv tut“ noch, dass ihm etwas bloß passiv widerfährt, sondern „irgendwie beides gleichzeitig“. Das Involviert- und Eingemischtsein im Mit-Sein mit Anderen, wollte hier ausgedruckt werden. Seit dem Aussterben des Mediopassivs muss das grammatikalische Subjekt sich nun aber entscheiden: entweder es kommt in der „Tätigkeitsform“ vor oder in der „Leideform“. Entweder es ist aktiv oder es ist passiv. Und so drängt uns die grammatikalische Logik leicht das Missverständnis auf: wer spricht, tut etwas, ist aktiv – wer nicht spricht, hört bloß zu, ist passiv.
„Ich habe doch bloß zugehört und nichts getan“, dieser Satz hält sich hartnäckig – in allen Ausbildungen, bei denen Zuhören eine wesentliche Rolle spielt. Und auch dann noch, wenn die Zuhörer:in die evidente Erfahrung macht, dass sich während des Zuhörens bei der Erzähler:in unzweifelhaft „etwas“ verändert hat. Ja genau genommen, die Erzähler:in selbst sich verändert während ihr zugehört wird. Obwohl „man doch gar nichts gemacht hat“. Die zunehmende Nachfrage nach immer neuen „Tools“, Methoden und Werkzeugen, die aktiv zur Anwendung gebracht werden können, damit man „etwas machen kann und nicht bloß zuhört“, wird am Ausbildungsmarkt reichlich bedient.
Aber horchen wir noch einmal genauer hin: Können wir ohne mediopassive Verbformen tatsächlich keine Erfahrungen mehr mit-teilen, in denen wir uns gleichzeitig als Tätige und geschehen Lassende zur Sprache bringen? Unsere untrügliche Erfahrung, im Tun und Lassen eingemischt zu sein? Keineswegs! Wir haben uns nämlich etwas einfallen lassen: Wir greifen nach Reflexivformen, und Sie haben eben eine davon gehört: wir lassen uns etwas einfallen.
Wir sagen weder „Ich falle etwas ein“ (die aktive „Tätigkeitsform“) noch sagen wir „Mir wurde etwas eingefallen“ (die passive „Leidensform“). Wir sagen „Ich lasse mir etwas einfallen.“ Das lebendige sprechende „Subjekt“ kommt hier also doppelt vor: einmal als aktives ICH, das etwas tut, und gleichzeitig als „SICH“ oder „MIR“, dem etwas – passiv – zufallen möge. Etwas Drittes ist also im Spiel ein aktives Passiv oder ein passives Aktiv, ein Tun und Lassen zugleich.
Werfen Sie also mit mir einen Blick durch mein Mikroskop – vielleicht sehen Sie ja auch, was ich sehe, während Sie sich auf mich einlassen und bereit sind, sich von mir etwas erzählen zu lassen.
Sie lassen sich etwas erzählen.
Sind sie da in einer passiven Rolle? Ja und nein. Ganz unbestreitbar gibt es da gerade eine gewisse Asymmetrie zwischen Ihnen und mir und einen Unterschied zu einem Gespräch, in dem „wir uns austauschen“. Während Sie sich durchaus gerade etwas von mir erzählen lassen, lasse ich mich jetzt nicht erzählen. Ich spreche eher zu Ihnen als mitIhnen. Ich – meinerseits – lasse mich nicht erzählen, denn: Ich bin auf meine Worte bereits: … vorbereitet. Ich werde nicht überrascht sein, welche Worte mir über die Lippen kommen, denn ich habe sie bereits vorbereitet. Für Sie nämlich. Es trifft durchaus zu, dass ich Ihnen etwas erzähle, aber ich lasse mich im Moment nicht erzählen. Würde ich das tun, würden Sie vermutlich sagen (oder wenn Sie sehr höflich wären, bloß denken): Was fällt Ihnen ein! Und Sie würden damit Ihrer Empörung Ausdruck verleihen, die Sie angesichts meiner unvorbereiteten Worte nachvollziehbar empfinden würden.
Wir befinden uns hier nämlich in einem Vortrags-Raum, keinem Erzählraum. Wir befinden uns hier – wie wir therapeutisch sagen – in einer anderen Situation. Und darum lässt sich an diesem Unterschied etwas unmittelbar erleben, weil es in dieser Vortragssituation fehlt: der gemeinsame Spiel-Raum, der kreatives, spontanes Sprechen ermöglicht. Es fehlt das „Unverfügbare“, denn ich verfüge bereits über alle Worte, die ich sprechen will und werde. Ich habe sie vorbereitet und gebe sie wieder. Ich wiederhole also. Wären wir in einer anderen Situation – einem wahrhaftigen Austausch – würde ich die Stimmungen, die Sie beim Zuhören „befallen“, an Ihrem Ausdruck nicht nur wahrnehmen, sondern sie hätten unmittelbar und auf einer mir nicht bewussten Ebene wiederum auf mich eine rückbezügliche Wirkung. Ich würde andere Worte wählen, auf anderes zu sprechen kommen, je nachdem ob ich Besorgnis, Langeweile, Bewunderung, Interesse usw. an Ihnen wahrnehmen kann, während ich spreche. Als lebendiges (und nicht grammatikalisches) Subjekt wäre ich mir meines Mit-Seins mit Ihnen als mir Zuhörende immer gewahr und deshalb würde ich, was ich an Ihnen und Ihren Gesichtern wahr-nehme, als Antworten auf mich verstehen, als responsives Mit-Bestimmen, welche Worte mir als nächstes über die Lippen kommen. Sie wären eingemischt in mein Erzählen, obwohl sie – scheinbar – „noch gar nichts aktiv getan haben“. Ihr Zuhören wäre es, das Wirkung und Auswirkung auf mein Erzählen hätte: darauf, was mir einfällt, und was nicht; was ich als Thema weiterverfolge und welches ich lieber wieder fallenlasse, lieber nicht darauf zu sprechen komme; Ihr Zuhören hätte Wirkung darauf, welche Worte ich in den Mund nehme, ob ich sie dann doch lieber wieder hinunterschlucke oder sie mir über die Lippen kommen lasse.
Hier – im Vortragsraum – „erzähle ich aber einfach weiter“: unbeirrbar von Stimmungen, die ich durchaus auch von hier aus in Ihren Gesichtern „lesen“ und in der uns verbindenden Atmosphäre eines miteinander geteilten Raumes wahrnehmen kann. Ich sage, was ich vorbereitet habe, ohne dass die Resonanz, die durchaus spürbar für mich ist, Einfluss nimmt auf mein nächstes Wort. Und das übernächste. Die „Geschichte“, die ich Ihnen hier erzähle, ihr Verlauf und ihr Ende stehen fest. Felsenfest. Ihr Zuhören wird nichts daran ändern. Im Erzähl-Raum, im Spiel-Raum, wäre das eine Katastrophe. Im Vortrags-Raum aber eben nicht. Im Gegenteil, Sie wären empört und würden sagen:
Was fällt Ihnen ein! Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, hier unvorbereitet zu erscheinen!!
In einem Erzähl-Raum, der ein Spiel-Raum ist, weil er kreatives, spontanes Sprechen ermöglichen will, würde die Frage „Was fällt Ihnen ein?“ aber durchaus auch gestellt werden. Bloß: Die Frage würde anders tönen. Sie wäre eine Einladung an Ihr Gegenüber, sich selbst als ein sowohl aktives wie passives „Subjekt“, als ein „responsives Mit-Subjekt“ wahrgenommen zu empfinden. Sich selbst als wahrgenommen zu erleben, ist der „unverfügbare Zauber“, in dem sich die transformatorische Wirkung des Erzählen-Zuhören-Prozesses entfalten kann: the sense of feeling felt, wie wir in der Therapie sagen, das Empfinden empfunden zu werden. Aktiv und passiv.
Bestimmt haben Sie, als mit Biografiearbeit und der psychosozialen Arbeit mit Menschen vertraute Professionist:innen diese Frage schon oft gestellt: Was fällt Ihnen denn gerade dazu ein? Und Sie haben damit einen Erzählraum eröffnet, der einlädt, Spontanes auftauchen zu lassen und mitzuteilen. Sie haben dazu eingeladen, den Zauber unddas Risiko einzugehen, einen Raum zu verlassen, in dem sich nichts erneuern, verändern oder transformieren kann: in dem bloß stereotyp Wiederholtes, unverändert und unveränderlich Wiedergegebenes, von Anfang bis zum Ende oder bis zum Verstummen in der selben Tonlage und Wortwahl re-produziert wird. Sie würden zum Betreten eines zukunfts-offenen Spiel-Raums einladen, der Überraschungen bereithält: ein Resonanzraum, in dem sich Un-Erhörtes und Un-Vorhergesehenes ereignen wird, wenn beide sich ihm über-lassen.
Zauber und Risiko der Veränderung: die beiden gehören so untrennbar zusammen wie aktiv und passiv, wie erzählenund zuhören. Wenn ich Ihnen also hier – mit Blick durch mein Mikroskop – anbiete, den Spiel-Raum des Erzählens als einen Resonanz-Raum aufzufassen, ist damit keineswegs angedeutet, dass es sich um pures Vergnügen handelt. Es steht etwas auf dem Spiel. Für beide. Für die Erzählende in gleicher Weise wie für die Zuhörende. Resonanzgeschehen beschwöre ich hier nicht als ein Phänomen der Ein-Stimmigkeit und Zu-Stimmigkeit. Auch nicht des Gleich-Klangs oder gar des Gleich-Schritts:
Sie kennen vermutlich die eindrückliche Filmaufnahme davon, wie eine große Truppe von im Gleichschritt über eine Brücke marschierende Soldaten diese zum Einsturz bringen: Die physikalische Resonanz der Brücke, hervorgerufen durch den auf sie einwirkenden Gleichschritt der Stiefel, erzeugt in der Brücke eine Eigenschwingung, die sie im rhythmischen Mitschwingen mit den Marschierenden im wahrsten Sinne des Wortes zusammenbrechen lässt. Resonanzräume, damit sie gedeihlich sind, will ich damit sagen, sind auf Gegen-Satz und Gegen-Klang, auf Gegen-Stimmen und Gegen-Takte genauso angewiesen wie auf Zu-Stimmungen und taktvolles Mit-Schwingen. Auf ein Gegen-über, in dem nicht ohne Grund auch das Wort „gegen“ vorkommt. Resonanzräume – unter meinem Mikroskop – sind keine Räume reiner Harmonie und reinen Wohlklangs, sondern Räume der Ambiguität und der Spannung, Räume auch für „spannende Erzählungen“, die Spannung ins Spiel und in die Beziehung zwischen Erzählendem und Zuhörer:in bringen, sind Räume auch des Kon-flikts, des Zusammenkommens durch Zusammen-Stoßen. Resonanzräume sind unabweislich sowohl auf Kon-Sonanz (zusammen-klingen) als auch auf Dis-Sonanz (auseinader-klingen) angewiesen.
Das gemeinsame Betreten eines Erzähl-Raums als Spiel-Raum setzt deshalb wechselseitiges Vertrauen und vor allem auch Mut voraus, sich auf ein Risiko einzulassen: das Risiko der Verbundenheit. Einer Verbundenheit, die nicht reine Nähe ist und sein kann, sondern auch Abstand lässt und Abstand sucht. Die uns die Verbundenheit durch Nähe in der Ferne und durch Ferne in der Nähe in einem geteilten Raum gewahren lässt. Nicht Harmonie oder Glück ist der Zauber, den Resonanz möglich macht, sondern die Erfahrung der Verlebendigung aneinander. Die Erfahrung mit anderen lebendig zu sein. Sich als zuhörendes und antwortendes Selbst zu finden im eigenen Leben durch und im Mit-Sein mit ANDEREN. Im eigenen Leben anwesend zu sein, erweist sich als „anthropologische Konstante“, also als wohl eine der tiefsten Sehnsüchte, die wir Menschen kennen. Und sie erfordert Mut: Denn Präsenz, also für andere sichtbar und hörend anwesend zu sein, ist immer auch ein Risiko. Jedes lebende Wesen, nicht nur der Mensch, weiß um seine Verletzlichkeit und Sterblichkeit und: Wer berührt wird und sich berühren lässt, kann auch angegriffen werden.
Der Einladung zu folgen, einander in einem Spiel-Raum des Erzählens zu begegnen, um neue und noch unerhörte Worte zu hören, die mir im Gewahrsein einer mitkreierenden Zuhörer:in über die Lippen kommen werden, ist immer eine mutige Entscheidung: die mutige Entscheidung nämlich, sich zu überlassen – einem Geschehen, das transformatorisches Potential und Wirkung hat und dabei so wenig beliebig ist wie kontrollierbar.
Das sehe ich, wenn ich durch mein Mikroskop auf die verflochtene Dynamik zwischen Erzählen-und-Zuhören schaue und erkenne: der Vortrags-Raum ist kein Spiel-Raum, weil die sich zwischen uns entfaltende Resonanz sich nicht als responsive „Wirkmächtigkeit“ auf meine Worte auswirkt.
Aber stimmen Sie mir nicht zu schnell zu! Lassen Sie uns auch eine Gegen-Stimme, einen Ein-Wand hören:
Ist mein vorbereiteter Vortrag wirklich eine von aller Resonanz „bereinigte“ Erzählung? Ein von mir und nur aus mir geschaffenes Mach-Werk einer solitären aktiven „Produzentin“, also reines aktives TUN ohne passives LASSEN? Reines Sprechen ohne Antworten? Oder enthält auch mein vorbereitetes zu-Ihnen-Sprechen, in dem kein Wort mehr ver-rückt werden kann, Spuren von „erzählen lassen“? Von Zu-Fällen und Ein-Fällen? Von Responsivität und geschehen lassen?
Nein, natürlich gibt es auch in einer vorbereiteten Rede oder Erzählung kein reines Tun ohne Lassen! Weil es nur in der Logik der Sprache eindeutig voneinander geschiedene Welten von aktiv und passiv gibt, nicht aber im gelebten und erlebten Leben.
Natürlich „musste“ auch ich mir in der Vorbereitung etwas einfallen lassen. Musste mir etwas einfallen. Ich habe die Worte, die jetzt so artig vorbereitet über meine Lippen kommen auch nicht gemacht. Weder Worte noch Gedanken kann man „einfach machen“. Sie sind nichts, was ein Subjekt in autarker Selbst-Mächtigkeit kontrolliert produzieren kann.
Darum heißt es ja auch nicht: Ich mache Gedanken, sondern Ich mache mir Gedanken. Immer spielt es eine Rolle dieses kleine Reflexivpronomen „mir“, wenn es um lebendige Erfahrung geht, auch beim Denken. Dieses mikroskopisch kleine Wörtchen „MIR“, dieses unscheinbare Reflexivpronomen, das uns hier schon wieder begegnet, ist genauso bedeutungsvoll wie sein grammatikalisches Geschwister „mich“ in „mich erzählen lassen“:
Als eine, die sich (in der Vorbereitung) etwas einfallen lässt, bin ich nämlich nicht allein, auch wenn keine Kameraaufnahme dieses Vorgangs das bezeugen könnte: ich sitze allein in meinem Zimmer. Ich denke allein. Ich schreibe allein. Niemand ist bei mir. Sagt die Videoaufzeichnung, weil sie mich, aber nicht mein Erleben aufzeichnen kann. Ich aber kann mein Erleben bezeugen: Ich erinnere mich. Ich erinnere mich, wie ich da so saß in meinem Zimmer und mir selbst in einer, ja, ich möchte sagen geheimnisvollen „Doppelanwesenheit“ gegeben war. Ich war unbestreitbar die Akteurin, die nachdachte. Ich war aber auch gleichzeitig und unbestreitbar die Empfängerin von Gedanken, von denen ich buchstäblich getroffen wurde (also: grammatikalisch: passive Leidensform).
So tief – bis in unsere tiefsten Schichten – will ich damit sagen, ist unsere Subjektivität, mein „Ich-Sein“, responsiv verfasst, dass ich auch noch ganz allein in meinem Arbeitszimmer nachdenkend nie vollständig immun gegen das Hereinbrechen und Einfallen von Gedanken, Fantasien und Erinnerungen bin. Zum Glück, natürlich, denn wie sollte ich etwas denken, wenn mir nichts einfällt!
Ich bin Akteurin meines Denkens und Sprechens, ein aktives „Subjekt“, und gleichzeitig passiv getroffen von dem, was mir – von mir völlig unkontrollierbar – einfällt und zufällt. Und manchmal, ja, auch auf den Kopf fällt. Sie sehen: auch allein in einem Zimmer nachdenkend entgeht man nicht dem Risiko der Verbundenheit!
Kein Wort, das ich hier zu Ihnen spreche, hat seinen Ursprung in mir. Jedem Wort, das Sie mich sagen hören, ist etwas vorausgegangen. Etwas, von dem ich getroffen wurde und das meine Aufmerksamkeit im wahrsten Sinne des Wortes auf sich zog. Jedes Wort, das ich allein in meinem Zimmer aufschrieb, war eine Antwort. Jedes Wort aus meinem Mund, das Sie jetzt also hören, ist eine Antwort. Etwas hat mich da in meinem Zimmer, in dem ich allein saß, so sehr angesprochen, dass ich hingehört habe, um es Ihnen weiterzuerzählen. Diese Erfahrung von etwas „Ansprechendem“, dieser „fremde An-Spruch“, dieses „fremde Wort“ war es, auf das ich gehört habe und hingehört habe. Und das mich im Antwortenwollen meine Worte finden ließ.
Jedes Wort, das Sie mich sagen hören, ist mein „eigenes Wort“, gesprochen mit meiner Stimme und enthält doch unauslöschlich Spuren einer Fremdheit. Auch für mich. Und ich werde erst nach diesem Vortrag und weil Sie mir zugehört haben (und ich das wahrnehme während ich erzähle), auf neue Weise vertraut sein mit dem, was ich „vorbereitet“ habe und auf neue Weise befremdet sein über meine eigenen Worte.
Auch das Erzählen von vorbereiteten Worten unter der Bedingung, dass jemand zuhört, hat also transformatorische Wirkung. Weil wir als Sprechende Antwortende sind, und bis in unser „tiefstes eigenes Selbst“ hinein responsiv verfasst sind – immer angewiesen auf Austausch – tragen wir „Spuren des Fremden“ in allem „Eigenen“ und ist „Eigenes“ immer auch Angeeignetes; in sozio-kulturellen Praktiken Ausgetauschtes; so wie etwa die Mutter-Sprache, die ich mir ja als Fremd-Sprache (der Sprache der Anderen) in Begegnung und Austausch aneigne; aber natürlich beginnt der „Austausch mit dem Anderen“ bereits viel früher und vor der Aneignung einer symbolischen Sprache; sie beginnt bereits im mütterlichen Stoff-Wechsel während der Schwangerschaft, als körperlich-leiblicher Austausch, der bereits auf dieser basalen Ebene dem geheimnisvollen Prinzip des Abgrenzens durch Verbindung und des Verbindens durch Abgrenzung folgt.
Jeder Mensch und jede Erzählung trägt deshalb Spuren des Anderen, des Fremden und des Außer-Ordentlichen in sich. Keine Erzählung ist „meine“ im Sinne eines possessiven Individualismus. Sie ist „meine“ als immer auch andere und fremde Erzählung. Diese Bruchlinie, die durch jede Erzählung geht, weil sie durch jede Erfahrung geht, ist – zumindest unter meinem Mikroskop – die Bedingung der Möglichkeit für die transformatorische Wirkung des Erzählens.
Und sie ist – als winzig kleines und durch mein Mikroskop sichtbar gemachtes Detail – die Textur, aus dem auch der Stoff gewoben ist, von dem Aleida Assmann gestern gesprochen hat und Herta Schindler nachfolgend noch sprechen wird. Die Brüche und Bruchlinien unserer Erfahrung können nicht und brauchen nicht repariert zu werden: sie sind das „unverbrüchliche Dazwischen“, in dem etwas Mögliches und Not-Wendiges geschehen kann, das bislang in der Vergangenheit unmöglich war oder unmöglich gemacht wurde.
Transformation, also Ver-ÄNDERUNG, trägt ja das ANDERE und unsere unermüdliche Suche nach diesem ANDEREN, ohne den ich nicht „ICH-SELBST“ sein kann, in seinem Namen schon mit, wenn wir mutig einen Erzählraum betreten, in dem wir auf Ver-ÄNDERUNG, also das ANDERE hoffen, um zu uns SELBST zu finden.
Im Moment des Berührens und Berührtwerdens vom FREMDEN WORT, dem Wort des ANDEREN, das mich trifftund betroffen macht, wird meine ERFAHRUNG selbst fremd, wird meine Erfahrung anders, und ich mit ihr. Das Zuhören des Anderen selbst ist bereits als Antworten vor dem ersten Wort, erfahrbar: als Berührung im Erzählen. Und diese Berührung bezeugt mein Da-Sein, denn nur wer „da“ ist, kann berührt werden. Im Moment des Gewahrens meines vom ANDEREN bezeugten Da-Seins, erhebt sich eine Stimme, die ich als meine erkennen kann und will. Was ich also jetzt unter meinem Mikroskop sehe, ist folgende Entdeckung: Der Erzählraum als Resonanzraum ist ein Spiel-Raum, in dem etwas eingeübt wird. Nämlich mich in immer neuer Weise auf eine Vertrautheit zu verstehen, die sich vor dem Unvertrauten nicht verschließt, sondern sich ihm antwortend öffnet.
Wenn ich mir selbst jetzt zuhöre, während meine Stimme hier ertönt, höre ich viele Stimmen mit-klingen: Von ANDEREN, von klugen Frauen und Männern, und ganz sicherlich auch von weniger klugen. Und Sie hören sie auch. Sie hören aus meiner fremden Stimme viele Stimmen „heraus“, die Ihnen sicherlich bekannt und vertraut vorkommen. Da spricht zum Beispiel die hermeneutische Stimme Hans Georg Gadamers mit, wenn ich immer Resonanz-Raumund Spiel-Raum in einem Atemzug nenne. Das „Spiel“ im Spielraum ist der schöpferische Tanz, auf den sich Zwei miteinander einlassen. Spiel und Gespräch sind aus dieser Perspektive als Begriffe austauschbar: Beides kann man nicht führen, sondern folgt ihrem Verlauf. „Das eigentliche Subjekt des Spieles (…) ist nicht der Spieler, sondern das Spiel selbst“.[1] Die Spieler:innen spielen mit. Gadamer erinnert uns in seinen Reflexionen über das Spiel an alle möglichen Spiele: an das Spiel des Lichtes, das Spiel der Wellen, das Spiel der Kräfte, das Farbenspiel, das Schauspiel, das Wortspiel und das Gedanken- und Geduldsspiel als vielfältige Beispiele für Bewegungen, die an keinem Ziel oder Zweck festgemacht werden können, sondern sich ereignen: etwas spielt sich ab im Hin und Her der Bewegungen. „Es ist das Spiel, das gespielt wird“, schreibt er, „oder sich abspielt – es ist kein Subjekt dabei festgehalten, das da spielt.“[2] Ohne den heute gebräuchlichen Begriff der „Resonanz“ zu benutzen, beschreibt er das medio-passive Geschehen eines Gesprächs in der Analogie zum Spiel und zum Mit-Spielen: „Das Hin und Her gehört offenbar so wesentlich zum Spiel, daß es in einem letzten Sinne überhaupt kein Für-sich-allein-Spielen gibt. Damit Spiel sei, muß zwar nicht ein anderer wirklich mitspielen, aber es muß immer ein anderes da sein, mit dem der Spielende spielt und das dem Zug des Spielers von sich aus mit einem Gegenzug antwortet. So wählt die spielende Katze das Wollknäuel, weil es mitspielt, und die Unsterblichkeit des Ballspiels beruht auf der freien Allbeweglichkeit des Balles, der gleichsam von sich aus das Überraschende tut.“[3] „Alles Spielen ist ein Gespieltwerden“.[4]
Der Begriff des Spiel-Raums spielt also auf etwas an: nämlich auf eine Erfahrung, die möglich, aber nicht „aktiv herstellbar“ ist, eine Erfahrung, die wenig mit Tun und viel mit sich Überlassen zu tun hat. Eine Erfahrung der Teilhabe, nämlich. Ein Spiel vollzieht sich, indem es gespielt wird und dabei „etwas“ zur Darstellung, zum Ausdruck, zur Sprache kommt.
Ein Spiel, wie ein Gespräch, entwickelt sich. Wir haben daran teil – auch wenn sich natürlich das Spiel selbst vom Verhalten der Spieler:innen unterscheiden lässt. Damit soll aber nicht gesagt werden, dass der erforderliche Spiel-Raum ein grenzenloser Raum wäre. Und auch kein Raum, in dem Spiel- und Kunstfertigkeiten oder das Einüben von Geschicklichkeiten keine Rolle spielen würden. Im Gegenteil. Und er ist auch kein dem willkürlichen Ermessen beliebig überlassener Raum: Der Spiel-Raum für die Spiel-Bewegungen ist nicht einfach ein freier Raum, sondern ein für das Spiel ein- und ausgegrenzter und freigehaltener Raum. Die Abgrenzung des Spielfeldes ist im Wesentlichen eine Abgrenzung gegen eine geschlossene Welt der Verzweckung:[5] die Aufgaben, die sich den Spielenden im Spielverlauf stellen, sind keinen Zwecken unterworfen; sie sind Spiel-Aufgaben der Spielenden selbst, damit sich im Spiel etwas aussagt, damit sich im Hin und Her der Spielbewegungen etwas zur Sprache bringen kann.
„Jedes Spielen stellt dem Menschen, der es spielt, eine Aufgabe (…)“[6], heißt das in den Worten Gadamers. Diese Aufgabe zu wählen und sich dieser Spiel-Aufgabe zu stellen, hat transformatorische Wirkung:
„(…) weil der wirkliche Zweck des Spieles gar nicht die Lösung dieser Aufgabe ist, sondern die Ordnung und Gestaltung der Spielbewegung selbst.“[7]
Das „Spielerische“, also die Abgrenzung gegen Verzweckung als Bedingung der Möglichkeit für die Entfaltung eines kreativen, schöpferischen Prozesses darf aber keinesfalls mit Unernsthaftigkeit verwechselt werden.
„Das Spielen hat einen eigenen Wesensbezug zum Ernsten (…)“[8], betont Gadamer. Im Grunde ist das der eigentliche Zweck des Spiels: Im Spielen selbst liegt, so seine Worte „(…) ein eigener, ja, ein heiliger Ernst.“[9] „(…) Wer das Spiel nicht ernst nimmt, ist ein Spielverderber.“[10]
Ein „Zwischen“-Raum im wahrsten Sinne des Wortes, ist dieser Spiel-Raum: ein Raum zwischen weder und noch, zwischen aktiv und passiv, zwischen eigen und fremd; ein Ort, der weder von der Erzähler:in noch von der Zuhörer:in gemacht wird, sondern zu einem Ort werden kann, an dem beide „zu sich kommen“.
Da ist es wieder und immer wieder, dieses geheimnisvolle „sich“, dieses Reflexivpronomen, das anzeigt, dass Erzähler:in und Zuhörer:in einander so aktiv treffen wie passiv voneinander be- und ge-troffen sind. Erzählen und Zuhören sind ein Spiel, in dem Zuhörende und Erzählende einander an-spielen und als anspielendes Gegenüber wechselseitig präsent bleiben müssen, damit das Spiel sich entfalten kann, das Gespräch nicht verstummt. „Erfahrung, die zur Sprache drängt“, wie der Phänomenologe Bernhard Waldenfels[11] das so poetisch formuliert, ist auf einen Resonanzraum angewiesen, weil sie selbst eine genuine Resonanzerfahrung ist. Eine Mit-Erfahrung, die ein mit-wissendes Ohr treffen muss, um zu einer eigenen Erfahrung zu werden. Und der Erfahrung der Anwesenheit im eigenen Leben.
Kein Spiel ohne Risiko, das habe ich bereits erwähnt, immer steht auch „etwas“ auf dem Spiel, das ist sein Ernst.
„Verlieren“, allerdings, ist nicht das Risiko des Spielens. Im Gegenteil: Dass es etwas zu gewinnen gibt und somit auch Verlieren eine Option ist, ist ein attraktives Element vieler Spiele, ja sogar ein starkes Motiv, mit-zuspielen. „Niederlagen“, im Sinne von „misslingenden Gesprächen“ sind unvermeidbare Erfahrungen in Resonanz-Räumen: es ginge schließlich nicht um Unverfügbarkeit, wenn die Erfahrung, dass nicht immer alles sofort zu haben ist, ausgeschaltet werden könnte.
Und etwas „verlieren“ wollen wir im Spiel-Raum des Erzählens ja tatsächlich auch: Wir wollen im „Austausch“ auch „etwas loswerden“. Wir wollen ein paar Worte verlieren – so heißt es ja nicht von ungefähr. Und solange sich ein Gegenüber findet, das sie findet, finden sich weitere Worte ganz von allein. Sie fallen der Erzähler:in „einfach ein“, das Spiel geht weiter.
Unter meinem Mikroskop identifiziere ich das Scheitern des Gesprächs selbst, als das einzige Risiko. Und ich würde es dort festmachen, wo das Verstummen der Erzähler:in von der Zuhörer:in dauerhaft übergangen wird und unbemerkt bleibt. Unbezeugt. Wo das Verstummen von der Zuhörer:in nicht „an-gespielt“ wird. Also dann, wenn „Erfahrung resigniert aufgibt, nach Sprache zu drängen“ und niemand es bemerkt.
Die deutsche Schriftstellerin Judith Hermann hat in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen 2023 gesagt: „Geschichten schreiben heißt misstrauisch sein. Lesen heißt, sich darauf einzulassen.“[12]
Ich denke oft, das gilt auch für das therapeutische, möglicherweise auch das biografische Gespräch: Jemandem seine Geschichte zu erzählen, heißt auch – anfänglich und immer wieder -misstrauisch zu sein, denn es steht etwas auf dem Spiel. Zuhören heißt, sich darauf einzulassen. Immer wieder. Auch auf das Misstrauen und auch auf das Unvertrauen. Auf das Unvertraute im Anvertrauten.
Der Satz von Judith Hermann, den ich eben zitiert habe, war an dieser Stelle aber noch nicht zu Ende. Sie hatte noch weitergesprochen, und zwar:
„Jede Geschichte erzählt von einem Gespenst. Am Ende ist das Zentrum der Geschichte ein Schwarzes Loch, aber es ist nicht schwarz, und es ist nicht finster. Es kann im besten Falle glühen.“[13]
Während ich jetzt also am Ende meines Vortrags mein Mikroskop beiseitelege, denke ich: Das ließe sich auch über Vorträge sagen:
„Vorträge halten, heißt misstrauisch sein. Zuhören heißt, sich darauf einzulassen. Jeder Vortrag erzählt von einem Gespenst. Am Ende ist das Zentrum des Vortrags ein Schwarzes Loch, aber es ist nicht schwarz, und es ist nicht finster. Es kann im besten Falle glühen.“
Ich hoffe ganz fest, zum Glühen auf dieser Fachtagung ein wenig beigetragen zu haben.
Sie haben als Zuhörerinnen und Zuhörer diesen Vortrag und mein Sprechen möglich gemacht: Sie waren es auf die ich mich vorbereitet habe, natürlich nur in meiner Vorstellung, denn ich begegne Ihnen, oder den meisten von Ihnen, hier und jetzt zum ersten Mal. Sie waren es, die mich in der Vorbereitung – auf Sie, nicht auf den Vortrag – die Worte finden ließen, die ich hier verlieren durfte.
Ich danke Ihnen sehr für Ihr Zuhören!
[1] Gadamer, H.G. (1960/2010): Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Mohr Siebeck Tübingen. S 112
[2] Ebd. S 109
[3] Ebd. S 111, H.d.V.
[4] Ebd. S 112
[5] Ebd., S 113
[6] Ebd., S 113
[7] Ebd., S 113
[8] Ebd., S 107
[9] Ebd., S 107
[10] Ebd., S 108
[11] Waldenfels, Bernhard (2019): Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht. Suhrkamp, Berlin.
[12] Judith Hermann, Wir hätten uns alles gesagt. Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben. Frankfurter Poetikvorlesungen. Fischer Verlag, 2023, S 127 f
[13] Ebd., S 128