systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

Kontext 2024

Heft 1

Haun, Markus W. ( 2024): Editorial: Systemik und Systemtheorie – Engel und Teufel? In: Kontext, 55 ( 01), S. 3-4. 

Abstract: Der Sozialpsychologe Kurt Lewin hat bekanntlich den Satz »Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie« geprägt. Das Heft in Ihren Händen lädt Sie ein zum Innehalten zwischen Praxis und Theorie, zwischen »Systemik« als systemischer Praxis einerseits und Systemtheorie (Luhmannscher Prägung) andererseits. Barbara Kuchler hat dazu einen gleichermaßen fundierten wie inspirierenden Beitrag vorlegt. Sie sieht Systemiker:innen als Akteure in kleineren Beziehungssystemen der Integration von Unterschieden verschrieben. Dabei kann Integration beispielsweise bedeuten, dass das Ungelebte gelebt wird (»Ich habe endlich mal ›Nein‹ gesagt«). Hingegen sieht Kuchler Systemtheoretiker:innen als kühle Beobachter:innen größerer sozialer Systeme, die sich der immer präziseren Beschreibung der sozialen Welt durch immer elaboriertere Unterschiedsbildungen widmen. Luhmann habe auf Einheitsanmutungen recht allergisch reagiert, schreibt Kuchler. Wie ließe sich nun der Unterschied im Operieren mit Unterschieden zwischen Systemik und Systemtheorie erklären? Kuchler liefert dazu zwei Hypothesen: (1) Es ist die Rolle bzw. der Kontext. Systemiker:innen müssen unterstützende Impulse bereitstellen, die anschlussfähig sind für die Unterstützung suchenden Personen. Systemtheoretiker:innen arbeiten an abstrakten Problemen und sind dabei keinem professionsgebundenen Ethos verpflichtet. (2) Systemiker:innen arbeiten inhaltlich mit kleinen personnahen Beziehungssystemen (bspw. die Familie), Systemtheoretiker:innen hingegen mit sozialen Systemen, die intern nicht aus Beziehungen bestehen, quasi »Nicht- Beziehungssystemen«. 

Call for Papers – Debattenheft des KONTEXT zum Thema: Was emotionalisiert uns an der Genderdebatte? In: Kontext, 55 ( 01), S. 5-6. 

Kuchler, Barbara ( 2024): Engel und Teufel, Heiler und Spalter: Zum Verhältnis von Systemik und Systemtheorie. In: Kontext, 55 ( 01), S. 7-45. 

Abstract: Systemik und akademische – soziologische – Systemtheorie gelten normalerweise als verwandte Arbeitsrichtungen und werden oft als praktischer und theoretischer Arm desselben Paradigmas verstanden. Bei näherem Hinsehen zeigen sich aber große Unterschiede in den Denkweisen und Theorietechniken. Beide arbeiten gern mit Zweierunterscheidungen, oder binären Unterscheidungen, Dichotomien, Polaritäten, polaren Gegensatzpaaren. Aber systemische Praktiker tun dies in der Regel mit einem Interesse an Integration, Balance, Ausgleich, Ganzheit, Rundheit, Versöhnung gegensätzlicher Kräfte und Tendenzen, sie versuchen ungesunde Spaltungen und Verhärtungen aufzulösen und dem System einen Zugang zu seinen verschütteten anderen Seiten zu ermöglichen. Dagegen haben Systemtheoretiker kein Problem mit dem Sich-Eingraben von Unterschieden in die Welt, sie können mit der Idee von Ganzheit und Rundheit nichts anfangen und sehen Systeme als ein Ordnungsprinzip, das einen grundsätzlichen Schnitt durch die Welt zieht, also Unterschiede schafft, die nie wieder »geheilt« oder überbrückt oder in Richtung auf Einheit geführt werden können. Diese Unterschiede im theoretischen Weltzugriff hängen mit den unterschiedlichen Rollen von Systemikern versus Systemtheoretikern als klientenorientierten Beratern einerseits versus distanzierten Beobachtern andererseits zusammen – als »Engeln« oder »Teufeln« –, und vielleicht auch mit der unterschiedlichen Natur der jeweils schwerpunktmäßig betrachteten Systemen, die im einen Fall Individuen und kleine, personnahe Systeme sind (Beziehungssysteme) und im anderen Fall größere, abstraktere, anonymere soziale Systeme (Nicht-Beziehungssysteme).

Retzer, Arnold & Fritz B. Simon ( 2024): Teuflische Systemiker. Kommentar zum Artikel von Barbara Kuchler: »Engel und Teufel, Heiler und Spalter: Zum Verhältnis von Systemik und Systemtheorie«. In: Kontext, 55 ( 01), S. 46-53. 

Abstract: Um der Rolle der systemischen »Engel« gerecht zu werden, wollen wir zunächst benennen, welchen Aspekten der Thesen der Autorin wir zustimmen: Die Kontexte von Systemtheorie und Systemik sind unterschiedlich, so dass die »Denktechniken« (um hier den Theoriebegriff zu vermeiden) beider Ansätze unterschiedliche Funktionen zu erfüllen haben. Systemtheoretiker (Luhmannscher Prägung) zielen akademische Anschlussfähigkeit und Reputation bzw. Karriere usw. an und müssen daher logische Konsistenz ihrer Argumentation innerhalb der Prämissen des gegebenen fachlichen Diskurses realisieren. Systemiker als Therapeuten und Berater brauchen hingegen Denktechniken, die ihnen als Praktiker, die sich alltäglich in nicht einseitig kontrollierbaren Situationen (Therapie, Beratung) finden, schnelles Agieren ermöglichen. Sie müssen dabei in der Lage sein, so zu intervenieren, dass die Klienten diesen Prozess als sinnvoll erachten und – gegebenenfalls – zur nächsten Sitzung kommen (um erst einmal Minimalziele zu benennen). Zuzustimmen ist auch der Beschreibung, dass beide Ansätze den Fokus auf Unterscheidungen richten. Soviel zur Übereinstimmung mit den Thesen von Frau Kuchler. Die Darstellung der systemtheoretischen Prämissen wollen wir nicht kommentieren, da die Autorin dort ihren originären Kompetenzbereich hat, den in Frage zu stellen wir uns nicht anmaßen. Unser Kommentar – genauer: unsere Kritik – bezieht sich also nur auf die Darstellung dessen, was die Autorin als Systemik zu verstanden haben meint.

Beher, Stefan ( 2024): Das Eckige ins Runde? Engel, Teufel und das Spiel mit Unterscheidungen in Systemtheorie und systemischer Praxis. In: Kontext, 55 ( 01), S. 54-63. 

Abstract: »Lebendige machen alle den Fehler, dass sie zu stark unterscheiden«, klagte einst Rilke (1975) in seinen Duineser Elegien: »Engel (sagt man) wüssten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten«, heißt es dort. Für scharfe Kontraste, so lehrt uns die Genesis, kann man sich dagegen an den Erzengel Luzifer (wörtlich: »Lichtbringer«) halten. Oder an die Systemtheorie? Wie hell deren kantige Unterscheidungen – bei Spencer Brown symbolisiert durch einen Winkel – auch das erleuchten, was sich immerhin recht lebendig unter dem Label der »Systemik« entwickelt, diese Frage stellt Barbara Kuchler zur Diskussion. Engel und Teufel, Heiler und Spalter: Während uns »Systemiker« und »Systemtheoretiker« in einer »grundlegende[n] Annahme auf Verwandtschaft und Kontinuität« gemeinhin präsentiert werden, als ob sie »gut zusammenpassen und auf einem gemeinsamen theoriekonstruktiven Mist gewachsen sind«, identifiziert Kuchler hier einen »Gegensatz«, einen »Zusammenstoß« zweier Denkweisen, die sich, wenn nicht auf »verschiedenen intellektuellen Planeten«, so doch in einem »flir- renden intellektuellen Spannungsfeld« zueinander befinden. »Wenn Systemiker Unterscheidungen gebrauchen«, so ihre These, »sehen sie darin die Chance auf Balance, Ausgleich, Ganzheit, Rundheit, Gesundheit«, nicht etwa, wie Systemtheoretiker, ein analytisches Potential, das unterkühlt und provokativ auf die Zusammenhänge der sozialen Welt blicke. Dieser unterschiedliche Unterscheidungsgebrauch resultiere, so ihre Hypothese, zum einen aus ihren unterschiedlichen sozialstrukturellen Positionen, zum anderen aus unterschiedlichen Gegenstandsbereichen. »Systemiker«, so Kuchler, seien mit »Beziehungssystemen« beschäftigt, die charakteristischerweise Strukturpolaritäten aufweisen und daher engelhafter Unterschiedsnivellierung bedürfen. Wir wollen ihre Thesen im Folgenden – wie sollte es anders sein! – mit Blick auf einige Unterscheidungen diskutieren.

Lutterer, Wolfgang ( 2024): Engelchen und Teufelchen … Ein Kommentar. In: Kontext, 55 ( 01), S. 64-70. 

Abstract: Barbara Kuchler erweist mit ihrer Analyse zum Verhältnis von Systemik und Systemtheorie beiden Communities einen ausgesprochen großen Dienst. Zunächst, indem sie einige der Unterschiede zwischen beiden Theorieanlagen, welche nur allzu zu oft im Diskurs verschwimmen, explizit macht. Des Weiteren, indem sie zum Kommentar und damit zur Ergänzung sowie zum Widerspruch einlädt. Idealerweise führt dies zu einer längst überfälligen Klärung von Unterschieden wie Gemeinsamkeiten beider Felder, zu der es mich freut, beitragen zu dürfen. Dieser Kommentar ist in zwei Abschnitte gegliedert. Zunächst wird das diskursive Angebot von Barbara Kuchler angenommen und der von ihr vorge- schlagenen heuristischen Dichotomie weiter nachgespürt. Im zweiten Abschnitt setze ich mich darüber hinweg und versuche aus systemischer Sicht eine etwas andere Perspektive zu eröffnen. Damit ist dieser Beitrag »einseitiger« als der Kuchlersche, indem er eine Positionierung innerhalb des systemischen Dis- kurses einnimmt und von dort aus seine Beobachtungen formuliert.

Eidenschink, Klaus ( 2024): Zur fehlenden Systemtheorie der Psychodynamik. In: Kontext, 55 ( 01), S. 71-79. 

Abstract: Der Text von Barbara Kuchler füllt thematisch eine Lücke und war im Grunde überfällig. Die häufig anzutreffende Gleichsetzung von systemisch und systemtheoretisch ist praktisch wie theoretisch falsch und braucht eine gründliche professionelle Diskussion. Daher bin ich sehr dankbar, dass Kuchler mit ihrem Text zu dieser Klärung anregt.

Kuchler, Barbara ( 2024): Replik. In: Kontext, 55 ( 01), S. 80-86. 

Abstract: Ich freue mich über die Resonanz auf meinen Text, über die vielen Denkanregungen in den Kommentaren und auch über die Gelegenheit zum Zurückfragen, die ich hier noch habe. Ich genieße den Schlagabtausch der Argumente – was aggressiver klingt, als ich es meine –, und ich erlaube mir deshalb, mehr oder weniger halsstarrig und lernunwillig meinen Standpunkt zu behaupten, in der Überzeugung, dass meine Absicht eine zutiefst gute ist, ich will nicht sagen: engelhafte, aber jedenfalls keine destruktive. Ich greife sehr selektiv nur drei Punkte heraus, erstens zur Richtung von Therapie, zweitens zur Theorie psychischer Systeme, und drittens zur Theorie/Praxis-Differenz.

Bräutigam, Barbara ( 2024): Genogrammatische Lektüren: »Valentinstag« oder die Frage nach dem Glück – ein Roman von Richard Ford (2023). In: Kontext, 55 ( 01), S. 88-90. 

Riemer, Christine ( 2024): Rezension – Klaus-Christian Knuffmann (2022): Mein Lebenswerk in besten Händen. 12 kurzweilige Geschichten für eine gelingende Unternehmensnachfolge. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht). In: Kontext, 55 ( 01), S. 91-92. 

Riemer, Christine ( 2024): Rezension – Frank Ertel et al. (2023): Gespräche auf den Punkt. Impulse für zielorientierte Kurzgespräche. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht). In: Kontext, 55 ( 01), S. 92-93. 

Crone, Ilke ( 2024): Rezension – Peter Ebel, Heiko Kleve & Julia Strecker (Hrsg.) (2022): Systemische Supervision in Lehre und Praxis. Heidelberg (Carl-Auer). In: Kontext, 55 ( 01), S. 94-95. 

Crone, Ilke ( 2024): Rezension – Martin Lemme & Bruno Körner (2022): Die Kraft der Präsenz. Heidelberg (Carl-Auer). In: Kontext, 55 ( 01), S. 95-97. 

Polchau, Anne ( 2024): Rezension – Peter Fonagy & Tobias Nolte (Hrsg.) (2023): Epistemisches Vertrauen. Stuttgart (Klett-Cotta). In: Kontext, 55 ( 01), S. 97-98.