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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Brücken über Gräben

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Etwas vom Schönsten, was ich in Therapien erlebe, ist die reale Begegnung von erwachsenen Kindern mit ihren Eltern. Auf den ersten Blick ist es zwar einfacher, wenn beide Generationen über die Bilder klagen, die sie sich voneinander machen. «Schrecklich, diese Mutter. Sie hat mir nie gegeben, was ich gebraucht hätte.» Oder: «Unser Sohn hat die falsche Frau erwischt. Wenn die wüsste, wie wir Schwiegereltern unter ihr leiden.» Generationenprobleme können auch zu lösen versucht werden mit sogenannten Familienaufstellungen, bei denen fremde Rollenspieler vor möglichst viel Publikum die persönliche Sicht eines Mannes oder einer Frau von ihrer Herkunftsfamilie inszenieren. Lösungen für den «Aufsteller» werden dann von dem Gruppenleiter vorgegeben, indem er die richtige Ordnung zwischen den Generationen, zwischen Frauen und Männern und der Rangfolge der Geschwister herstellt und den Spielern mitteilt, wer wem Anerkennung oder Sühne zu leisten hat. Die entsprechenden Sprachregeln erinnern an katholisch- kirchliche Rituale. Es geht um Verneigungen vor denen, die einem das Leben schwer gemacht haben, oder um Würdigung jener, die keinen «guten Platz» hatten in der Familie. Diese Inszenierung einer individuellen Sichtweise schliesst die real Betroffenen (Vater, Mutter oder Geschwister) aus.
Vielleicht wirkt sie gerade deshalb so tröstlich? Vor allem für das Publikum, welches den Prozess auf der Bühne mit seinen Tränen begleitet. Wer hat keine unerledigten Geschichten in seiner Familie und kann sie nicht stellvertretend beweinen?
Bei mir gibt es in Therapien weder stellvertretende Familienmitglieder noch ein mitschluchzendes Publikum, dafür Menschen, die miteinander aus gemeinsam gelebter Vergangenheit Zukunft gestalten. Tränen können dazu gehören, manchmal kommen sie auch mir vor Rührung, dass endlich Brücken über Gräben gebaut werden.
Kürzlich sass ich mit einem 80-jährigen Vater und seiner 45-jährigen einzigen Tochter zusammen. Es ging um die emotionale Verstrickung der Frau mit ihrer verstorbenen Mutter und ihre Schuldzuweisung an den Vater: «Du hast dich nur um deine Arbeit gekümmert und uns Frauen nie ernst genommen, darum musste ich immer für meine Mutter da sein.» Wohl zum ersten Mal bekam aber dann im Gespräch auch die Geschichte des Vaters Raum: Er erzählte von seiner Mühe, das marode Familiengeschäft zu sanieren und von seiner Erfahrung, dafür aus Ehe und Familie ausgeschlossen zu werden. Das gemeinsame Erzählen ergab zwar keine Wunderlösung, dafür eine Annäherung von Vater und Tochter, die sich schrittweise im Alltag fortsetzt.

Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.

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