Vom 14. bis 16. September diesen Jahres fand in Wiesbaden die wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) statt, die unter dem Titel „Karussell der Kulturen – systemisch-interkulturelle Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft“ stand. Barbara Kuchler hat einen sehr informativen Tagungsbericht verfasst, der auch denjenigen, die nicht an der Tagung teilnehmen konnten, eine gute inhaltliche Einordnung ermöglicht.
Barbara Kuchler, München: Beratungen im Dorf der Unbeugsamen: Bericht von der DGSF-Jahrestagung 2023
Ein Viertel der in Deutschland lebenden Menschen hat in irgendeiner Weise eine Migrationsgeschichte, und im Übrigen auch ein zunehmender Anteil der systemischen Praktiker, wenn auch noch deutlich weniger als ein Viertel. Angesichts dessen ist es zeitgemäß, dass die diesjährige Tagung der DGSF sich mit dem Thema Kultur und interkultureller Austausch beschäftigte. Anregend und durchaus nicht in allem einig waren die Vorträge, Workshops und Diskussionsbeiträge, die unter dem Titel „Karussell der Kulturen“ in Wiesbaden geboten wurden.
Um den Begriff der Kultur macht man dabei besser einen weiten Bogen. Es gibt zweihundertfünfzig verschiedene Kulturbegriffe, konnte man lernen, was einerseits abschreckend ist, andererseits aber auch praktisch, denn es gilt dann: „Woran immer Sie bei diesem Begriff denken, es ist richtig“ (Kirsten Nazarkiewicz). Aber auch wenn man nicht sagen kann, was Kultur eigentlich ist: Dass Kulturen öfter zusammenstoßen und dass die Koexistenz verschiedener Kulturen nicht immer einfach ist, kann jeder täglich erleben. Dabei ist „Kultur“ manchmal auch ein Tarnbegriff für „Rasse“ (ein Begriff, der in Deutschland gar nicht geht), oder alternativ „Ethnizität“ (ein möglicher, aber nicht immer leichtgängiger Begriff) (Astride Velho). Die Tagung beschäftigte sich auch mit Fragen in dieser zweiten Richtung, also Fragen von Rassismus und Diskriminierung, die ja in gewissem Maß quer zur Kulturdimension liegen – denn nicht jeder, der rassistisch diskriminiert wird, hat zwangsläufig auch einen anderen Kulturhintergrund, und nicht jeder, der kulturell anders sozialisiert ist, ist ethnisch oder sonst äußerlich erkennbar.
Menschen, die mit irgendeinem nicht mehrheitskonformen Merkmal in Deutschland leben, etwa mit einem am Namen ablesbaren Migrationshintergrund, sind in erheblichem Maß der Diskriminierung, Kategorisierung und kategorialen Zuschreibung ausgesetzt. Beispielsweise wird auch an überdurchschnittlich „aufgeklärten“ Einrichtungen wie Universitäten und Universitätsbibliotheken Studierenden mit nicht-deutschem Namen immer wieder nicht zugetraut, dass sie dort tatsächlich zum Studieren hingehen (Benjamin Bulgay). Solche Erfahrungen können mehr oder weniger belastend sein, und jeder und jede verarbeitet sie auf seine oder ihre Weise. Im Idealfall oder im wunderbarst-möglichen Fall kann man als Antwort auf rassistische und ähnliche Anfeindungen beschließen, für derlei Dinge einfach „keine Zeit“ zu haben: „Wenn mir jemand rassistisch kommt, dann habe ich für ihn keine Zeit. Ich drehe mich um und gehe.“ (Auma Obama) Diese Reaktion klingt in der Theorie wunderbar, dürfte in der Praxis aber ein ziemlich hohes Ressourcenlevel voraussetzen, etwa an Status, Bildungsstand, Mobilität, Wahlfreiheit, Selbstsicherheit. Im schlimmsten Fall, bei wiederholten und heftigen Erlebnissen in dieser Richtung, können Rassismuserfahrungen sogar zu einer kumulativen Traumatisierung führen. Die traumatisierende Wirkung kommt dabei durch die latente Dauerpräsenz des Themas zustande, durch den Umstand, dass man nie sicher sein kann, wann und wo die Sache wieder hochploppen wird, und man keine Erholungspausen findet (Astride Velho).
Menschen mit Migrationserfahrung fehlt in ihrem neuen Leben oft ein Wohlfühl-Ort oder Wohlfühl-Kontext, eine „Heimat“. Sie berichten oft von einer inneren Verdreifachung von partiellen oder imaginierten Heimaten (Reenee Singh): Es gibt einerseits die alte Heimat, das Herkunftsland, das man aber oft lange zurückgelassen hat und vielleicht gar nicht mehr wiedererkennen würde, wenn man dort wäre; es gibt andererseits die neue Heimat, wo man sich aber nur begrenzt wohl fühlt und nur begrenzt ankommt und ankommen darf; und es gibt schließlich eine ideale oder idealisierte Heimat, gewissermaßen die alte Heimat, wie sie in ihren Positivaspekten war oder erinnert wird, die aber eben nur in der Vorstellung existiert und real nicht aufgefunden werden kann. Die Erfahrung des Diskriminiertwerdens hat dabei Effekte nicht nur auf Einzelne, sie schlägt auch auf soziale Systeme zurück, etwa auf Paardynamiken. Beispielsweise sind gemischt-ethnische Paare auf der Straße immer wieder missbilligenden Blicken ausgesetzt, worauf die beiden Partner oft unterschiedlich reagieren: Typisch ist, dass der von der Mehrheitsnorm abweichende und in diesem Punkt lang sensibilisierte Partner sich dadurch schneller und tiefer angegriffen fühlt, was der andere Partner dann als Überempfindlichkeit erlebt, und das kann zu Konflikten und Spannungen im Paar führen (Reenee Singh).
Familien wiederum leiden oft unter der Spannung zwischen dem Wunsch der Eltern nach Bewahrung der kulturellen Identität und Angst vor Identitätsverlust, und dem Wunsch der Kinder nach Integration in den Kontext des Aufnahmelandes (Ahmad Mansour). Diese Konflikte können durch eine Dynamik verstärkt werden, die darin besteht, dass Migranten manchmal kulturell an dem Punkt stehenbleiben, quasi einfrieren, an dem sie ihr Herkunftsland verlassen haben, und die weitere kulturelle Entwicklung dort nicht mehr mitmachen – parallel dazu, dass in Familien manchmal Beziehungskonstellationen, Beziehungswünsche, Aufträge usw. an dem Punkt einfrieren, an dem eine wichtige Beziehungsperson stirbt, weil die Beziehung sich dann nicht mehr weiterentwickeln kann. Die Eltern sind dann besonders kulturkonservativ eingestellt, die Kinder sind erstens kulturell teils schon ans Aufnahmeland angepasst und sind zweitens einfach Kinder, Jugendliche, junge Wilde, und das birgt besonderes Konfliktpotential.
Was die Diskriminierung von Menschen mit abweichendem kulturellen oder ethnischen Hintergrund angeht, stellen sich für die systemische Arbeit zwei Fragen. Die eine betrifft die Haltung gegenüber diskriminierenden Praktiken anderswo, und hier ist die Haltung der systemischen Community eindeutig und einhellig: Wir sind gegen Rassismus, Diskriminierung und jede Art von vorschneller Kategorisierung von Personen und versuchen solche Erfahrungen unserer Klienten bestmöglich aufzufangen und einzuhegen, möglicherweise auch politisch dagegen Stellung zu beziehen. Das andere ist die Frage, wie wir selbst in diesen Dingen aufgestellt sind und ob wir nicht, ungewollt und „strukturell“, auch Teil einer insgesamt diskriminierenden Gesellschaft und Nutzer einer vielfach diskriminierenden Sprache sind.
„Man könnte denken, die ganze Welt ist von struktureller Diskriminierung befallen, aber es gibt ein Dorf unbeugsamer Systemiker, wo das nicht so ist“ – aber dem sei leider nicht so (Jonathan Czollek). Vielmehr ist die Dominanz einer Mehrheitskultur und die Markierung des Abweichenden tief eingeschrieben in unsere Sprache, in unsere Wahrnehmungsgewohnheiten und teils auch in wohlmeinende Praktiken. Es kann etwa vorkommen, dass in einem Kindergarten ein „interkulturelles Frühstück“ abgehalten wird und Kindern mit nicht-deutschem Namen oder dunklem Teint gesagt wird: „Bringt etwas Leckeres zu essen aus eurem Land mit!“ Das ist dann gut und integrativ gemeint, es kann aber eine implizite Teilung in „die von hier“ und „die von anderswo“ transportieren und den betreffenden Kindern einen kategorialen Stempel verpassen, selbst wenn diese das betreffende Land noch gar nie gesehen haben (Astride Velho). Eine solche implizite Zweiteilung heißt auf Neudeutsch „Othering“, und solche Anderskategorisierung geschieht eben manchmal durchaus in guter Absicht. Sie muss auch nicht unbedingt nur negative Zuschreibungen enthalten, es kann auch positive Zuschreibungen geben, etwa im Stil von: „Als Person der Kategorie X bist du besonders sexy/ besonders gut im Tanzen/ besonders interessant/ usw.“ Positive Zuschreibungen sind aber trotzdem Kategorisierungen und damit grundsätzlich nicht besser als negative. Auf Griechisch kann man auch sagen: Es gibt nicht nur Xenophobie, sondern auch Xenoromantik, also eine automatische und undifferenzierte Faszination für das Fremde, und das ist psychologisch auch nicht reifer und im sozialen Umgang auch nicht viel weniger problematisch (Barbara Bräutigam).
Im systemischen Arbeiten können solche kategorialen Vorannahmen und Stereotype dann Fragerichtungen verzerren oder beeinflussen. Welche Annahmen bilden sich im Kopf etwa über eine Klientin mit Kopftuch? Welche Fragen würde man ihr nicht stellen, die man einer Klientin ohne Kopftuch schon stellen würde, und umgekehrt? Dieses Verzerrungsrisiko tritt einerseits auf in Situationen mit kultureller Differenz zwischen Berater und Klient, manchmal aber auch umgekehrt in Situationen mit besonderer kultureller Übereinstimmung. Es ist auch eine Gefahr, wenn ein Berater sich in kultureller Hinsicht in bestimmten Klienten wiedererkennt („Ah, auch ein Franzose!“, „Ah, auch eine Muslimin!“), denn es kann sein, dass er dann Vorverständnisse einrasten lässt, Fragen nicht stellt, sich zu leicht identifiziert oder sich in Solidarisierungen und Koalitionen ziehen lässt.
Weiter hält die Sprache allerlei Stolpersteine und Diskriminierungsautomatiken bereit, und allein das Problem der Benennung von Gruppen und Personmerkmalen ist vielfach ungelöst. Wie nennt man etwa diejenigen Personen, die vor fünfzig Jahren „Ausländer“ geheißen hätten? Gibt es dafür eine Kollektivbezeichnung, und wenn nein, wie ersetzt man ihr Fehlen? Wenn es ein Wort gibt, welches könnte das sein? „Einwanderer“? „Migranten“? „Migrantische Deutsche“? „Neudeutsche“? Auf der Tagung war die charmante Variante der „ausländischen Deutschen“ zu hören („Wenn wir ausländischen Deutschen uns zusammentun …“, Auma Obama). Manche Wortbildung sind schön und regen zur Bildung neuer neuronaler Verknüpfungen an, sind aber im Alltag oft unpraktisch. Wie darf beispielsweise in diesem Text die Konstellation zwischen einem (bio-)deutschen Berater und einem nicht-bio-deutschen? neudeutschen? ausländisch-deutschen? Klienten genannt werden? – ein Problem, das dann oft lieber großräumig gemieden und elegant-abstrakt umgangen wird. Ähnliche Bezeichnungsprobleme stellen sich aber auch bei anderen Gruppen oder Kategorien von Menschen, die gar nichts mit dem Kulturproblem zu tun haben, aber aus anderen Gründen diskriminierungsgefährdet sind, etwa die Kategorie der „übergewichtigen“, oder lieber „mehrgewichtigen“?, Menschen.
Neben den symbolischen und sprachlichen Fragen gibt es schließlich auch sehr handfeste Fragen, etwa die Frage des Essens. Was kann, darf, soll ein Berater, der eine Familie aus einem anderen Kulturkeis aufsucht, mit dieser Familie essen oder trinken? Hier wurde einerseits gesagt: Wenn man von der Familie zum Essen eingeladen wird, ist das ein Zeichen dafür, dass das „Joining“ gelungen ist, dass man die schützenden Mauern rund um die Familie überwunden hat und in den inneren Kreis eingelassen wird, statt als Außenstehender und Fremdkörper abgewiesen zu werden (Benjamin Bulgay). Letzteres würde etwa dem islamischen Familienverständnis nach naheliegen, das man sich als Ringkonstruktion aus mehreren Schichten konzentrischer Kreise mit nach innen hin dickeren Mauern vorstellen kann, nämlich von innen nach außen: Kernfamilie – Herkunftsfamilie – Bekannte – sonstige Instanzen, wie Jugendamt, Sozialamt, Schule, Kindergarten, Klinik usw. Die aktuelle Position, die man als Berater in dieser Ringordnung einnimmt, kann man daran erkennen, was einem angeboten wird: Wasser ist eher ein Zeichen dafür, dass man gerade so geduldet ist; Tee ist ok, aber noch nicht sonderlich persönlich; eine Einladung zum Essen dagegen zeigt, dass man echten Zugang zur Familie gewonnen hat. – Auf der anderen Seite kann die Essenseinladung für Berater oder Helfer aber ein handfestes Dilemma darstellen, jedenfalls wenn sie sich nicht einfach nur erfolgreich akkulturieren und nach den Maßstäben der Anderen verhalten wollen (Kirsten Nazarkiewicz). Berichtet wurde der Fall einer ehrenamtlichen Helferin, der bei jedem Besuch in einer geflüchteten Familie, egal zu welcher Tageszeit, Speisen angeboten wurden, die sie aber nicht wirklich mochte, was sie vor das Problem stellte: Was tun? Ablehnen und sich möglicherweise unhöflich zeigen? Annehmen und die eigenen Präferenzen – sowohl Geschmackspräferenzen als auch Arbeitsgewohnheiten und Arbeitsauffassungen – hintanstellen?
Auf solche Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten, und es zerschlägt sich damit auch die naive Hoffnung oder Vorstellung, wir seien als Systemiker einfach „gut“, nicht-diskriminierend und interkulturell kompetent. Zum Punkt Kompetenz wurde die beruhigende – oder vielleicht doch beunruhigende? – Botschaft gegeben, dass es ohnehin nicht darum gehe, jetzt gewissermaßen eine Interkulturalitätskompetenz zu entwickeln, vielleicht in einem Workshop zu erwerben und dann fürderhin zu besitzen. Statt dessen sei eher „kulturelle Demut“ gefragt (Celia Falikov) oder die von Paul Mecheril propagierte „Kompetenzlosigkeitskompetenz“, also die ständige Bereitschaft, sich verunsichern zu lassen und sich selbst kritisch zu hinterfragen, die eigene Haltung und die eigene Verstricktheit in kulturelle Wahrnehmungs- und Wertungsordnungen zu reflektieren. Die Verunsicherung selbst sei eine Ressource, so wurde versichert (Kirsten Nazarkiewicz) – wobei das sicher nicht in jedem Kontext und nicht in jeder Situation gilt und beispielsweise die Frage aufwirft, ob die Dauerverunsicherung in Sachen Sprache und Sprachsensibilität nicht auch Begegnungen und Diskussionen und Gruppen blockieren könne, weil dann jedes Wort das Risiko enthalte, jemanden zu verletzen oder ungewollt zu diskriminieren (Neda Mohagheghi). Spuren dieses Problems ließen sich auch im Hier-und-Jetzt der Tagung selbst aufspüren, denn es soll Workshops gegeben haben, gehalten von altgedienten Systemikern mit hohem Erfahrungsschatz, die rein sprachlich nicht in einer Weise vor Vordermann gebracht waren, dass jüngere und sprachsensible Teilnehmer unfallfrei hätten zuhören können. Aber was auch immer die Folgeprobleme der Kompetenzlosigkeitskompetenz sind – auf jeden Fall passt diese Zielvorstellung gut in die Reihe sonstiger paradoxer (In)Kompetenzen, die dem modernen Menschen schon empfohlen wurden. Es gibt da etwa noch die „Inkompetenzkompensationskompetenz“ der Philosophen, die in der Moderne mit ihren Welterklärungsentwürfen nicht mehr gefragt sind und das kompensieren müssen, aber auch die „Kompetenzdarstellungskompetenz“ von Professionellen verschiedenster Ausrichtung (von Ärzten über Rechtsanwälte bis zu systemischen Therapeuten), die nicht nur über eine Menge Wissen und Kompetenz verfügen müssen, sondern auch über das Geschick, den Klienten das Vorhandensein dieser Kompetenz überzeugend zu verkaufen.
Als Systemiker immer das Gute und das Richtige zu tun, ist also schwierig. Und es lässt sich auch bezweifeln, ob man überhaupt immer das Gute wollen muss, wie mit Verweis auf Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ argumentiert wurde (Barbara Bräutigam). Die drei Brüder stehen auch für verschiedene Entwicklungsphasen oder verschiedene innere Anteile: Der erste, Dimitri, ist ungestüm und voller ungebremster aggressiver Impulse; der zweite, Iwan, ist ambivalent und unentschlossen; der dritte, Aljoscha, ist gut, wohlmeinend und idealistisch und verkörpert wohl das Ideal, das Dostojewski sein wollte. Wir als Systemiker wollen – so die Hypothese – auch alle Aljoscha sein: gut, edel und immer auf der Seite des Guten. Das stoße aber an Grenzen und sei in einer komplexen, vielschichtigen Welt vielleicht zu einfach gedacht, zumal unsere „Kunden“ – und durchaus auch Klienten aus migrantischen Kontexten – auch nicht alle Aljoschas seien.
Ein praktisches Dilemma, vor das man als systemischer Berater in einer kulturell diversen Umwelt gstellt sein kann – und das vielleicht Iwan-Kompetenzen fordert –, betrifft etwa die professionelle Haltung von Neutralität und Allparteilichkeit. Gilt diese auch dann, wenn in einer Familie stark kollektivistische, patriarchalische, ehrbezogene Werte und Strukturen gelten? Wie wägt man hier Respekt vor den Wertordnungen des Anderen mit unseren therapeutischen – und damit ja auch westlich geprägten – Vorstellungen von gesunden Familienstrukturen ab? Wie soll eine muslimische Beraterin, die vielleicht einschlägige eigene Erfahrungen hat, damit umgehen, wenn sie in der Beratung mit einer Situation konfrontiert ist, wo einem muslimischen Mädchen Dinge verboten werden? Muss sie sich hier neutral und allparteilich zeigen? Oder: Wenn man eine Familie berät, in der die Mutter sich in eine kulturadäquate Haltung von stillem Leiden, Sich-Fügen und Schweigen eingefunden hat, inwieweit soll man das akzeptieren, und inwieweit soll man auf unserem kulturell und/oder professionell basierten Ansatz von Reden, Aussprechen, Ansprechen bestehen? Auch Systemik ist kein kulturübergreifendes Universal und und ist insofern in den Kulturkämpfen der Jetztzeit immer auch irgendwie Partei, oder kann nicht ganz vermeiden, Partei zu sein. Oder auch: Wie geht man damit um, wenn migrantische Klienten eine Negativsicht auf ihre eigene Ursprungskultur entwickeln – in einem W.E.B. DuBois’schen „Doppelbewusstsein“, wo man sich selbst mit dem Blick des Anderen sieht – und etwa eine mexikanische Mutter besorgt über ihren Sohn sagt: „Wenn er so weitermacht, wird er ein typischer Latino-Macho“?
Die Frage der therapeutischen Neutralität und der eigenen Positionierung stellt sich auch dann, wenn man mit Klienten zu tun hat, die mit rassistischen oder stereotypgeladenen Äußerungen kommen, etwa „Ohne die Ausländer wäre mein Leben viel besser“ oder gar „Die Juden gehören alle vergast“. Inwiefern hat man da neutral zu bleiben und eine durchprofessionalisierte Haltung zu pflegen, die einem sagt, dass man gegenüber Klienten keinen politischen Erziehungsauftrag hat und politische Diskussionen den Klienten nicht weiterbringen? Und inwiefern darf, kann, muss man sich hier selbst positionieren und das eigene Nicht-Einverstandensein markieren? In welcher Form schreitet man ein, wenn man sich – etwa bei eindeutig antisemitischen Äußerungen – zum Einschreiten genötigt sieht? Widerspricht man direkt und sofort und diametral? Oder kann man eine solche Aussage erst mal stehenlassen, eine Viertelstunde später nochmal kurz aufgreifen und immerhin als Position markieren („Sie haben ja die Position vertreten, …“), so dass sie wenigstens nicht alternativlos als schlichte Beschreibung-der-Welt stehen bleibt? Oder kann es eine Kompromisslösung sein, nicht im Sinn eines Verkündens allgemeingültiger Werte und Wahrheiten zu reagieren, sondern mit einer persönlichen Positionierung im Sinn von „Ich halte das schwer aus, wenn so etwas gesagt wird“? Eine kontroverse Diskussion zu diesen Fragen ist in einer Folge des Podcast „Nicht wahr, aber nutzbar“ nachzuhören (produziert von Enno Hermans und Sebastian Baumann), die im Rahmen der Tagung mit Live-Publikum aufgenommen wurde und über Podcast-Player verfügbar ist.
Nun braucht man aber eigentlich gar keine Migration, keine Muslime und keine Rassisten, um interkulturelle Verständigungsprobleme zu haben. Es reicht, auf die Situation zwischen ostdeutsch und westdeutsch sozialisierten Menschen zu schauen. Ost- und Westdeutsche gehören ja bekanntlich zusammen, aber sie scheinen das nicht immer reibungslos in die Praxis umzusetzen. Menschen, die im Laufe ihres Lebens in das je „andere Deutschland“ hinübergewechselt sind, finden sich oft in einer milde interkulturellen Situation, wo nicht alle Zeichen richtig verstanden, nicht alle Konventionen voll beherrscht, nicht alle Umgangsformen und Erfahrungshintergründe geteilt werden (Marion Schenk). Speziell für Ostdeutsche im Westen – die die gemeinsame deutsche Geschichte seit 1990 ohnehin oft mehr als Kolonialisierungsgeschichte erlebt haben –, kann das unter Umständen das permanente Gefühl erzeugen, irgendwie falsch zu sein, nicht richtig reinzupassen und sich anpassen zu müssen. So wurde beispielsweise über Erzieherinnen mit Ost-Ausbildung in westdeutschen Kindertagesstätten berichtet: Wenn in der Supervision die differenten Hintergründe und Ausbildungen angesprochen werden und gefragt wird: „Was würdet Ihr gern behalten, oder wieder haben, aus der Ost-Pädagogik?“, dann würde allen etwas einfallen, aber gleichzeitig würden alle universell berichten, dass sie sich das vorher noch nie einzubringen getraut hätten. Weiter gibt es im ostdeutschen Erfahrungsraum infolge der partei- und stasi-lastigen Geschichte oft einen anderen Umgang mit Geheimnis und Tabu, oder andere heikle Themen in persönlichen Biographien, als im westdeutschen Raum. Das kann sich in systemischen Ausbildungs- und Selbsterfahrungsseminaren etwa darin zeigen, dass die Frage nach dem beruflichen Werdegang für manche Teilnehmer mit ostdeutscher Vergangenheit brenzlig ist und westdeutsche Seminarleiter oder Co-Teilnehmer sich ganz schön ins Fettnäpfchen setzen können, wenn sie das nicht wissen.
Bei so vielen täglichen Problemen war es erfrischend, einen Szenenwechsel und Perspektivwechsel auf das Thema Diskriminierung vorgeführt zu bekommen, mit Einblicken in die Positivdiskriminierung von Ausländern in Kenia. An kenianischen Universitäten können europäische Dozenten leicht achtmal so viel verdienen wie ihre kenianischen Kollegen, denn hier signalisiert der Ausländerstatus, dass es sich um eine statushohe und global mobile Person handelt. Natürlich in vielen Fällen auch: um eine weiße Person – insofern wieder konform mit der üblichen Diskriminierungsrichtung –, aber das ist sekundär, denn eine Kenianerin, die sich viele Jahre im europäischen oder US-amerikanischen Ausland aufgehalten hat, gilt bei ihrer Rückkehr dann gewissermaßen auch als „Ausländerin“ und wird nach den für begehrte, polyglotte Ausländer gültigen Tarifen bezahlt (Auma Obama).
Der Vortrag aus kenianischer Perspektive bot auch einen gewissen Promi-Faktor, denn Auma Obama ist eine Schwester, genauer Halbschwester, des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama, die lange in Deutschland gelebt und hier Germanistik studiert hat. Sie wurde als Stargast mit besonders herzlichem Applaus empfangen und erntete am Schluss stehende Ovationen. Diese hatte sie sich auch verdient, mit großem rhetorischem Talent, großem Unterhaltungsfaktor und natürlich-selbstbewusstem Auftreten, unter sehr wohltuendem Verzicht auf jede Kompetenzshow, im Gegenteil, mit – ich will ja nicht sagen: – Kompetenzdarstellungserübrigungskompetenz. („Hm, was heißt ‚systemisch-interkulturelle Arbeit‘? Was ist das? Das ist für mich ein Begriff, der mir ganz schön was zu kauen gibt. Ich musste googlen.“) Es stellt sich aber trotzdem die Frage, ob da nicht auch ein Hauch von Kategorisierung und kategorialer Attribuierung mit im Spiel war. Auma Obama erhielt in gewisser Weise eine Vorzugsbehandlung, und klar, sie ist ein Promi, aber eigentlich ja nicht sie, sondern ihr Bruder, und man könnte auch fragen: Wie ist es wohl, überall „die Schwester von Barack Obama“ zu sein? Ob Auma Obama darunter leidet, ist nicht bekannt, und sie macht nicht den Eindruck, aber grundsätzlich soll es ja schon Menschen geben, die darunter leiden, ihr Leben lang „der Sohn von X“ oder „die Tochter von Y“ zu sein. Die praktische Unvermeidlichkeit des Labelings von Personen – der Personwahrnehmung unter Einbeziehung von Vorabinformationen – wurde hier gewissermaßen am lebenden Objekt vorgeführt.
Da die Grundsatzfragen und Grundsatzdebatten irgendwann auch ermüdend sind, sollen abschließend noch ein paar konkrete Tipps und Methoden-Highlights berichtet werden, die man auf der Tagung lernen konnte, einzusetzen zur kreativen Selbst- und Fremdversicherung oder -verunsicherung, je nach Bedarf. Bei Familien, die im Zuge von Migration auseinandergerissen wurden, so dass ein Elternteil Stück für Stück aus der Elternrolle herausgefallen ist und sein Status als Vater/Mutter in der Familie wacklig wird, kann man folgende Methode zur Re-Etablierung und Zertifizierung des Vater-/Mutterstatus anwenden (Celia Falikov). Man erarbeitet mit den anwesenden Familienmitgliedern ein „Certificate of Legitimation“, eine Art Anerkennungsurkunde, die in etwa folgenden Text und folgende Botschaft enthält: „X ist Vater/Mutter von … und hat heroisch seine Vaterrolle/ ihre Mutterrolle ausgefüllt – die Kinder aufzuziehen, in ihrer Entwicklung zu fördern und vor Gefahren zu beschützen – , über große Entfernungen und unter widrigen Bedingungen, auch wenn tägliche Betreuungsaufgaben aufgrund äußerer Umstände nicht übernommen werden konnten.“ Damit wird die Elternrolle und die Beziehung zu den Kindern zeremoniell anerkannt und ausgesprochen, um den Zustand des „Lebens mit gebrochenem Herzen“ oder „Lebens mit zwei Herzen“ wenn schon nicht zu lindern, so doch wenigstens zu würdigen und symbolisch einzurahmen und aufzufangen.
Für Situationen, in denen man mit rassistischen, sexistischen, antisemitischen Sprüchen konfrontiert ist und um eine passende Reaktion ringt, wurde folgende Methode zur Generierung kreativer Reaktionen entwickelt (Johannes Herwig-Lempp). Man braucht dazu eine wohlwollende Gruppe mit ausreichend Zeit, der die Situation zunächst vorgestellt wird. Die Gruppe generiert dann in einer ersten Runde möglichst viele Hypothesen zu möglichen Motiven der Person, die den rassistischen Spruch von sich gegeben hat hat, indem jeder Teilnehmer in der Runde spontan und ohne allzuviel Überlegen den Satz vervollständigt: „X hat das vielleicht gesagt, weil …“. In einer zweiten Runde generiert die Gruppe möglichst viele denkbare Absichten, die die Person, der der Spruch galt, mit ihrer Reaktion verfolgen könnte, indem jeder den Satz vervollständigt: „Y will vielleicht erreichen, dass …“. In einem dritten Schritt wird in der Mitte eine offene Bühne für ein experimentelles Ausprobieren der Szene eröffnet: Es findet sich ein Stellvertreter für X, der die fragliche Äußerung zum Besten gibt, und die Bühne ist frei für beliebige Teilnehmer, als Stellvertreter von Y hinzuzutreten und eine mögliche Reaktion auszuprobieren (und für jeden Versuch den Applaus der Gruppe zu erhalten). Dabei hilft es, wenn der Gruppenleiter mit einer bewusst absurden, verrückten, unwahrscheinlichen Reaktion anfängt, um Hemmschwellen abzubauen und Kreativität freizusetzen. Bei wiederholter Anwendung soll diese Methode nachhaltig die Schlagfertigkeit und Reaktionsfähigkeit in solchen Situationen steigern.
Schließlich noch ein Hinweis auf eine raffinierte Methode zur Sensibilisierung für tiefverwurzelte Stereotype, auch wenn sie zum Nachahmen nicht geeignet ist, oder nur für die Romanschreiber unter uns. Es gibt einen Roman von Toni Morrison, „Rezitativ“, der die Leser auf höchst raffinierte Weise auf ihre eigenen stereotypisierten Erwartungen und Typisierungsbedürfnisse stößt (Barbara Bräutigam). Der Roman erzählt die Geschichte zweier Frauen, von denen die eine schwarz und die andere weiß ist, ohne dass der Leser aber erfährt, welche schwarz und welche weiß ist. Das führt dazu, dass man als Leser permanent versucht, das herauszufinden und dem Gelesenen Hinweise auf die Hautfarbe der Protagonistinnen zu entnehmen: „Aha, die eine tanzt die ganze Nacht, ist Tanzen nicht eher typisch für Schwarze?“, „Aber die andere wäscht sich nie die Haare, ist Nicht-Haare-Waschen nicht auch eher typisch für Schwarze?“ Es ist beim Lesern unmöglich, keine solchen Überlegungen anzustellen, obwohl man weiß, dass man sie nicht anstellen sollte und nicht anstellen dürfte, aber man tut es doch; und man lernt so – am eigenen Leib oder eigenen Hirn – einiges über Stereotypisierungs- und Diskriminierungsprozesse.