In der von Stefan Busse, Rolf Haubl und Heidi Möller herausgegebenen Reihe „Beraten in der Arbeitswelt“ erscheinen kompakte Bändchen zu arbeitsweltbezogenen Themen im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. 2018 veröffentlichte der frühere Professor der Sozialarbeitswissenschaft Herbert Effinger darin den Band „Beratung in der Sozialwirtschaft. Ungewissheiten als Chance kreativer Problemlösungsstrategien“. Peter Jensen hat ihn für systemagazin gelesen und stellt ihn hier in seinem Rezensions-Essay ausführlich vor:
Peter Jensen: Kairos – die Gunst des rechten Augenblicks. Rezension von Herbert Effinger: Beratung in der Sozialwirtschaft
Herbert Effinger bringt in seinem Buch zwei Bereiche zusammen: den Bereich professioneller Sorgearbeit und die Beratung. Eine Beraterin oder ein Berater, in diesen Bereich kommend, fragt sich, vor welchen Herausforderungen steht eine Sorgearbeiterin (die männliche Sprachform umstandslos anzufügen, würde verschleiern, dass in diesem Arbeitsfeld überwiegend Frauen tätig sind), was brauchen die Tätigen, ist Beratung die angemessene Antwort auf die Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen der Behindertenarbeit, der Altenarbeit, in den Kliniken, oder dient sie als Feigenblatt, wo schlicht bessere Entlohnung her müsste, wo kapitalistisches Profitstreben einen ethischen Widerspruch aufreißt in Bezug auf die Ziele und Erfordernisse des Feldes zu helfen, zu unterstützen, Pflege zu geben, d.h. auf Kosten der Bedürftigen und auf dem Rücken der Beschäftigten?
Was hat Beratung anzubieten? Beratung fordert die Zielgruppe der in diesen Arbeitsfeldern Tätigen dazu auf, den Blick auf sich selbst zu lenken. Sie bietet an, aus den Anstrengungen, dem Stress, aus den berührenden Erlebnissen Sprache zu formen. Sie ermöglicht Zuhören, Austausch. Sie eröffnet einen Emotionsraum. Denn die Menschen in Carebereich leisten Emotionsarbeit (Hochschild 2003). Wir wissen, das emotionale Verarbeiten von belastenden Situationen bedarf eines Vertrauensrahmens, es braucht Zeit, und Zeit ist in diesem Feld ein knappes Gut, zu wenig vorhanden. Sie bietet kreativ den Raum für Umdeutungen, z.B. dassindividuell empfundene Erschöpfung oder Resignation keine persönliche Schwäche ist, sondern auch von den Kolleginnen und Kollegen erlebt wird und vielleicht eine strukturelle Überanstrengung ausdrückt. Und die Beraterin oder der Berater kann durch seinen Außenblick auf das Handeln der einzelnen Kollegin, auf das Team, die Organisation und auf das Feld insgesamt, neue Sichtweisen anregen, die entlastend wirken können, Lösungen aufzeigen, aber auch Grenzen des Machbaren benennen.
Wirft man diese beiden Bilder, das des Arbeitsfeldes und das der Beratung projektiv an eine Wand, erkennt man vielfältige, widersprüchliche Muster auf unterschiedlichen Ebenen:strukturelle, dynamische, handlungsethische, ökonomische, politische. Herbert Effinger erkennt diese unübersichtliche Komplexität. Er greift sie im Eingangskapitel seines Textes auf: Ungewissheit als Risiko und Chance lautet die Überschrift. Er stellt sie als Basiserzählung seiner Analyse voran. Damit benennt er gleichzeitig eine zentrale Kompetenz, die Beratenden in diesem Feld abverlangt wird, mit Offenheit liebevoll und genau hinzuhören auf die Erzählungen der zu Beratenden; liebevoll meint das zentrale Ziel des Arbeitsbereichs im Blick und im Herzen zu haben, unterstützungsbedürftige Menschen zu halten und zu pflegen. Das heißt also genau nicht neutral zu sein, sondern auf der Seite der zu Versorgenden und an der Seite der Frauen und Männer, die diese Arbeit machen, zu stehen.
Eindrücklich und eindringlich formuliert Effinger die grundlegende Bedeutung sozialwirtschaftlicher Arbeitsfelder, indem er den historischen Wandel seit Aufkommen der Industrialisierung in den Bereichen der Daseinsfürsorge skizziert und auf ihre Verankerung in den Allgemeinen Menschenrechten der Vereinten Nationen als Recht auf soziale Sicherheit, als Recht auf Wohlfahrt oder als Recht auf Sicherheit hinweist. Mit seinen Formulierungenvermag er knapp doch präzise tiefgreifenden Verständniswandel zu umreißen, wie z.B. der vom fürsorglichen zum aktivierenden Sozialstaat, der gravierende Folgen für die Adressaten, die professionell Tätigen, wie auch die Institutionen hat. So steht die Frage im Raum, ob die Sozialwirtschaft bezogen auf das, was Heinz Bude als Gesellschaft der Angst charakterisiert(Bude 2014), Teil der Lösung oder Teil des Problems ist. Daraus spricht seine jahrzehntelange theoretische und praktische Erfahrung in vielen Bereichen der Sozialwirtschaft.
Der Sorgebegriff, das care – Verständnis muss neu definiert werden, und wird neu definiert. Es muss unser Verhältnis zur Umwelt, zur Natur, der Erde gegenüber einschließen. Zwar sind die männlich gefärbten Kampf- und Angstbegriffe wie die Natur erobern, sie uns Untertan machen, tief in unsere Gene eingeschrieben, doch Mikroplastik in der Nahrungskette, Erderwärmung, oder tödliche Wirbelstürme erzwingen eine andere Haltung. Die fridays forfuture Bewegung der Jugend, wissenschaftliche Gutachten und der gesunde Menschenverstand mahnen dringlich ein Umlenken im Handeln auf der Basis von Sorge, von Achtsamkeit, von Folgeabschätzung eigenen Handelns.
Das Beratungsfeld Sorge, auf das die Ausführungen dieses Buches zielen, gründet somit auf einen Begriff, dessen Bedeutungsdimensionen tief ins Private gehen und zugleich politisch hoch brisant sind. Den Umgang damit fasst Arlie Russel Hochschild so zusammen: „Ideologisch ging Sorge in den Himmel. Praktisch ging sie in die Hölle.“ (Russel Hochschild, 2003, 2, Übersetzung: P.J.). Dieses polaren Bedeutungsrahmens und des eingebauten Widerspruchs sollten sich Beraterinnen bewusst sein, um nicht die Ebenen von persönlichen Grenzen und Strukturgegebenheiten des Feldes zu verwechseln, d.h. nicht ein strukturelles Missmanagement als persönliche Schwäche zu missdeuten.
Grundsätzlich legt Herbert Effinger viel Wert auf diese breite Bedeutungspalette des Sorgebegriffs. Er nimmt sie in den Blick. Mit seinem Zoomobjektiv erfasst er die soziologischen, ökonomischen und politischen Dimensionen und fokussiert gleichzeitig auf die konkreten Mikrogegebenheiten der alltäglichen Sorgepraxis, indem er Ermessenspielräume des Handelns einfordert und eine intermediäre und moderierende Rolle der Sorgetätigen, die sich aus asymmetrischer Machtposition ergeben kann, und anwaltlich sein kann, thematisiert (vgl. 44, 45). Welche Kompetenzen brauchen Fachkräfte in den Arbeitsfeldern der Sozialwirtschaft? Eindringlich betont Effinger die besonderen Herausforderungen und Fähigkeiten, die das Arbeitsgebiet erfordert, „Umgang mit Rollenunsicherheiten, Widersprüchlichkeit und Paradoxien, die in diesem Kontext regelmäßig auftreten.“ (45).
Herbert Effinger wendet sich der Frage der fachlichen Herausforderungen der Sorgearbeit in zweifacher Weise zu. Zunächst nimmt der die defizitäre Perspektive ein und trägt problematische, ausweichende Verhaltensweisen mit dem belastenden Alltag zusammen, sodann erläutert er die Bedeutung von Selbstkompetenz für „einen kreativen Umgang mit der Ungewissheit.“ (77).
Er nimmt provokativ den Begriff der konfliktscheuen Profession auf und fasst unter Rekurs auf Maja Heiner paradoxe Gleichzeitigkeiten, auf die Beschäftigte des Handlungsfeldes reagieren müssen, wie Hilfe und Kontrolle, Offenheit und Strukturiertheit, Konsensorientierung und Konfrontation sowie Defizit- und Ressourcenorientierung und die Asymmetrie der Beziehungen, zusammen (46). Die Sozialwirtschaft wesentlich bestimmendeStrukturmerkmale wie der Gegensatz von wissenschaftlicher Analyse, die zergliedert sowie auf Verbindung und Gemeinschaft ausgerichtete Praxis, universalistische Normen und individuelle Bedürfnisse, weiblicher und männlicher Blick, werden vorgestellt. Hingewiesen wird auf verschiedene Gefahren oder Verkürzungen, wie die Probleme der Adressaten ihres gesellschaftlichen Gewandes zu entkleiden, der dreifaltigen Spannungslage zwischen Solidarität, staatlicher Fürsorge und dem Warencharakter der Dienstleistung (46ff), der Nähe und Distanz- sowie Ganzheitlichkeit – versus Spezialisierungsspannung, dem Verhältnis von Defizitblick und Ressourcenorientierung, sowie der Abhängigkeit der Beschäftigten von der Notlage ihrer Zielgruppen.
Durch die Charakterisierung zentraler Strukturmerkmale und vor allem prägender Widersprüche des Feldes der Sozialwirtschaft, liefert der Text einen notwendigen und wertvollen Hintergrund für das, was Berater*innen erwartet. Deutlich wird, wie nebelig die Grenze zwischen persönlicher und struktureller Unzulänglichkeit ist.
So gesellschaftlich einordnend und orientierend der Text einerseits ist, so konkret und praxisrelevant für die Berater*innen andererseits werden Widersprüche der Praxisfelder sowie Bewältigungsstrategien und Fluchttendenzen der Fachkräfte aufgezählt und vorgestellt. Die Arbeit mit Menschen, die, orientiert an ihrer Funktionslogik, wie uns Heinz von Förster erklärt, als nichttriviale Maschinen (v. Förster 1999, 12) zu verstehen sind, ist von Ungewissheit, Unvorhersehbarkeit und Offenheit geprägt. Das ist ein Belastungsfaktor für sich, den die Beschäftigten einzudämmen versuchen.
Konfrontiert mit diesen Bewältigungsstrategien von Ungewissheit steht eine Beraterin vor der Frage, wie geht sie damit um, welche Haltung findet sie dazu? Diese Frage schließt eine ethische Komponente ein (was wird den Adressaten gerecht?), eine realitätsrelevante (wie schätze ich die jeweilige soziale, ökonomische, usw. Wirklichkeit ein?) und eine beziehungsrelevante Seite (was an Konfrontation mute ich mir und den Fachkräften zu? Effinger spannt einen polaren Bogen zweier defensiver Vermeidungsverhaltensweisen auf, nämlich eine rational – pragmatische sowie eine emotional – simplifizierende Strategie (63ff) und benennt beispielsweise Aussitzen und Verschieben, Datenschutz versus Transparenz und Partizipation, mechanistisches Denken und den Glauben an die richtige Technik, die Macht der Gewohnheit und Dienst nach Vorschrift und andere (66ff).
Subjektivierendes Handeln und Selbstkompetenz der Fachkräfte sind, so Effinger, wichtige Grundlage für die anstehende Aufgabe, die Zielgruppen zu unterstützen und in ihrer Selbstkompetenz zu stärken. Damit wird die zweite Perspektive in Bezug auf die Fachkompetenzen einer Fachkraft eingenommen. Effinger betont, dass Berater*innen Fachkräfte in einer Entscheidungsfindung unterstützen. Dieser Darstellung legt er eine breite philosophisch, fachliche Diskussion zugrunde, in die u. a. neurobiologische, emotionstheoretische und systemische Aspekte einfließen. Sie bezieht die Definition eines Subjektverständnisses und die Frage, ob es eine freie Entscheidung gibt, mit ein. Beides sind Elemente der Selbstkompetenz.
Die Kürze des Effingerschen Textes bildet sein profundes Wissen über das sozialwissenschaftliche Arbeitsfeld ab, seine Fähigkeit, differenziert und präzise Komplexes auf den Punkt zu bringen. Je kürzer die Sätze, desto eindrücklicher die Aussagen, z.B. „Die Produktionsfaktoren Beziehung, Vertrauen, Motivation und Zeit spielen hier eine herausragende Rolle „ (41), „Diagnosen sind nicht Zuschreibungen, sondern auch Kostenfaktoren.“ (56). „Jene, die Sicherheit bieten sollen, finden sich immer öfter in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen wieder.“ (57).
Zu wenig exemplarisch zugespitzt erscheinen mir die Arbeitsbedingungen von Teilen der Sozialwirtschaft, wie z.B. den Pflege- und pädagogischen Fachkräften in der Kinder- und Jugendpsychiatrie privater Kliniken. Laut Aussage der Fachkräfte und der ärztlichen Bereichsleitung sind die Arbeitsverhältnisse für die Beschäftigten und die Unterbringungsbedingungen für die Kinder und Jugendlichen zeitweise nicht verantwortbar, zumal parallel zu Stellenstreichungen gleichzeitig für die Shareholder Gewinne eingefahren werden.
Wünschenswert wäre auch ein stärkerer Einbezug der internationalen Entwicklung der Sorgearbeit. Sie verdeutlicht Tendenzen der Präkarisierung der Beschäftigten, Versuche menschliche Sorgearbeit durch Roboter zu ersetzen und Struktur und Folgen des globalisierten Arbeitsmarktes im Segment der Sorgearbeit. Arlie Russel Hochschild stellt Frauen aus Ostasien oder Mexiko vor, die für US amerikanische Familien deren Kinder versorgen, während sie selbst von ihren Kindern über Jahre getrennt leben müssen (sie bekommen keinen Urlaub und keinen Heimflug bezahlt), um ihren Kindern und der im Herkunftsland verbliebenen Familie das Überleben zu sichern. „Eine Anzahl von Kinderfrauen, die in reichen Ländern arbeiten, stellen Kinderbetreuerinnen an, die ihre eigenen, zuhause zurückgelassenen, Kinder versorgen (…). “ (Russel Hochschild 2003, 189 Übersetzung: P.J.). Ist das die Zukunft der Sorgewirtschaft?
Literatur:
Bude, Heinz: Gesellschaft der Angst. Hamburg 2014
von Förster, Heinz: Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Heidelberg 1999
Russel Hochschild, Arlie: The Commercialization of Intimate Life. London 2003
Eine weitere Rezension von Peter Schröder für socialnet.de
Inhaltsverzeichnis und Leseprobe
Herbert Effinger (2018): Beratung in der Sozialwirtschaft. Ungewissheiten als Chance kreativer Problemlösungsstrategien. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)
114 S., kartoniert
ISBN: 978-3-525-40623-6
Preis: 11,99 €
Verlagsinformation:
In der Sozialwirtschaft bewegt man sich im Spannungsfeld zwischen teilweise gegensätzlichen sozialen und ökonomischen Orientierungen, zwischen widersprüchlichen Regulationsprinzipien und Werten. Mehrdeutigkeit, Ambivalenz und Kontingenz gehören zum unauflösbaren Bestandteil des beruflichen Handelns in diesem Wirtschaftssektor und beeinflussen besonders die von wechselseitigem Vertrauen und institutioneller Macht abhängigen Arbeitsbeziehungen. Damit die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen entscheidungs- und handlungsfähig bleiben, benötigen sie besondere Kompetenzen für das Zusammenspiel ihrer kognitiven und affektiven Bewältigungsstrategien. Das stellt Berater und Beraterinnen vor eine doppelte Herausausforderung. Sie sollen die Handlungskompetenzen ihrer Adressaten im Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit minimieren und geraten dabei selbst oft in paradoxe und unsichere Situationen. Herbert Effinger beschreibt die Besonderheiten intermediärer und hybrider Organisationen mit ihren gemeinschaftlichen, öffentlichen und kommerziellen Arrangements. Er benennt die widersprüchlichen Bezugspunkte sozialer personenbezogener Dienstleistungen und gibt Orientierungspunkte für Beratungsstrategien in diesem Handlungsfeld. Es geht darum, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einen kreativen und akzeptierenden Umgang mit Widersprüchen zu ermöglichen.
Information über den Autor:
Dr. Herbert Effinger war bis 2016 Professor für Sozialarbeitswissenschaft/Sozialpädagogik an der Evangelischen Hochschule Dresden. Er ist als Berater (Lehr-)Supervisor/Coach (DGSv) tätig.