„Aus Kinderschutzfehlern lernen“ eignet sich gut als Motto für das wissenschaftliche und praktische Lebenswerk von Reinhart Wolff, der gestern seinen 75. Geburtstag feierte. Es ist der Titel seines neuesten Buches, das er gemeinsam mit Kay Biesel, Professor für Kinder- und Jugendhilfe an der Fachhochschule Nordwestschweiz, verfasst hat und welches in diesem Jahr im transcript-Verlag in Bielefeld erschienen ist. Wie der Untertitel verrät, geht es nicht um eine theoretische Abhandlung, sondern um „eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie“.
Lea-Sophie, ein fünfjähriges Mädchen aus Schwerin, starb am 20. November 2007 in der Wohnung ihrer Eltern. Das Mädchen wog bei einer Körpergröße von 95 cm nur noch 7,4 kg. Schon ein Jahr zuvor hatten sich die Großeltern besorgt an das Jugendamt gewandt, zu einem Eingreifen des Jugendamtes kam es jedoch nicht. Der spektakuläre Fall ging bundesweit durch die Presse, z.B. hier oder hier.
Das vorliegende Buch hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Fall in einem „dialogisch-systemischen Fall-Labor“ aufzuarbeiten. Das Ergebnis, um es vorweg zu nehmen, ist ein herausragendes Beispiel für gute sozialwissenschaftliche Forschungsliteratur, die von größter Bedeutung für alle Praktikerinnen und Praktiker der sozialen Arbeit ist.
Gute Kasuistik ist selten. Das gilt für den Bereich der Psychotherapie genauso wie für den Bereich der sozialen Arbeit. Wenn wir in der Literatur auf Fallbeispiele stoßen, handelt es sich in der Regel eher um Fallvignetten unterschiedlicher Länge, die die Ansicht oder Darstellung eines Autors illustrieren oder bestätigen sollen, etwa um eine erfolgreiche Intervention oder Behandlungsstrategien zu unterlegen. Bei dieser Art der Fallnutzung handelt es sich fast immer um eine hochselektive Verwendung des Materials. Das verstellt aber in der Regel den Zugang zu der Frage, was wir denn eigentlich aus einem Fall lernen können, da der Fall als solcher kein „Eigenleben“ führt, sondern nur ausschnittweise „vorgeführt“ wird.
Will man aus Fällen lernen, muss die Kasuistik den umgekehrten Weg gehen. Aus einem möglichst genau erhobenem Fallmaterial sollten Schlüsse gezogen werden, die für ähnlich gelagerte Fälle nutzbar gemacht werden können. Nur dann kann der Leser die Art und Weise, wie aus dem Material Aussagen abgeleitet werden, nachvollziehen. Allerdings setzt diese Vorgehensweise nicht nur voraus, möglichst unvoreingenommen und ohne vorgefertigtes Eigeninteresse an einen Fall heranzugehen, sondern erfordert auch beträchtlichen Aufwand in der Recherche und der Aufbereitung von Daten.
In dieser Hinsicht haben die Autoren keinerlei Mühe gescheut. Um die Dynamik innerhalb und zwischen Familiensystem und Jugendhilfesystem sowie den personalen und institutionellen Kontexten beider analysieren zu können, haben sie im Unterschied zu vielen anderen vergleichbaren Fallanalysen ein ausgesprochen komplexes Verfahren gewählt (47ff.). Es wurden ausführliche Gespräche mit den Fach- und Führungskräften des Jugendamtes sowie den betroffenen Familienmitgliedern geführt. Für den Zeitraum von November 2007 bis Mai 2010, als die Eltern vor Gericht standen, wurde eine ausführliche Medienanalyse vorgenommen. In diesem Zeitraum wurden auch die vorhandenen Fall Dokumente, verwaltungsinterne Untersuchungsberichte und die einzelnen gutachterlichen Stellungnahmen untersucht. 2010 und 2011 wurden vier zweitägige Forschungswerkstätten in Zusammenarbeit mit Mitarbeitern des Jugendamtes und freigemeinnütziger Träger der Kinder- und Jugendhilfe sowie einzelnen Jugendhilfeausschussmitgliedern zur Untersuchung des Falles durchgeführt. Mit den fallverantwortlichen Fach- und Leitungskräften wurden narrative „Rückblickgespräche“ geführt. Die Auswertung all dieser Daten wurden dann wieder dem dialogischen Konzept entsprechend mit den Teilnehmern der Forschungswerkstätten aufgearbeitet. Bei Besuchen der Eltern in den Justizvollzugsanstalten sowie in Gesprächen mit den Großeltern wurden die Ergebnisse ebenfalls besprochen und Rückmeldungen eingearbeitet.
Die Studie gliedert sich in fünf Teile. Zu Beginn wird der Anlass der Untersuchung skizziert. Im zweiten Kapitel entwickeln die Autoren den theoretischen Rahmen ihrer Untersuchung und erläutern ihr Systemverständnis, ihr Konzept professioneller Praxis und ihr Verständnis von Fehlern. Das Design der Untersuchung ist Gegenstand des dritten Kapitels, deren Ergebnisse im vierten Kapitel vorgestellt werden. Dabei wird jeweils die Geschichte des Hilfesystems, des Jugendamtes und der Familie beleuchtet und gegenübergestellt. Das abschließende fünfte Kapitel rekonstruiert die Fallgeschichte noch einmal in der Zusammenschau und präsentiert die wesentlichen Gründe des Scheiterns. Abgerundet wird der Band durch einzelne persönliche Berichte, Erfahrungen und Schlussfolgerungen von Kolleginnen und Kollegen, die sich an der Falluntersuchung beteiligt haben.
„Verstrickungen in ihren Verästelungen und Mustern zu verstehen, ist Aufgabe unserer Untersuchung“
In ihrem Systemverständnis beziehen sich Biesel und Wolff auf das ökologische Entwicklungsmodell Uri Bronfenbrenners und dessen klare Kontextorientierung: „Wer einen problematischen Kinderschutzfall untersucht, hat es daher immer mit einer Ökologie gesellschaftlicher, familialer, und organisationaler Kontexte zu tun, die auf komplexe Weise miteinander zusammenhängen. Bei Fällen von Kindeswohlgefährdung sind sie regelrecht miteinander verstrickt. Diese Verstrickung in ihren Verästelungen und Mustern zu verstehen, ist Aufgabe unserer Untersuchung“ (19).
Ein wertvoller Abschnitt über das Praxisverständnis und über die Aufgabe professioneller Praktiker macht deutlich, dass Kinderschutzarbeit niemals durch strukturelle und rechtliche Vorgaben so festgelegt werden kann, dass fehlerhafte Einschätzungen nicht mehr möglich sind. Analog zu den Forschungen von Donald Schön („The reflective Practitioner“) charakterisieren die Autoren Kinderschutzpraxis als professionelles Handeln, das immer wieder „gegenübertragungsmäßig konfliktreich, gefährlich und gefährdend“ ist, „mit einem hochdynamischen Feld ständiger multikausaler Veränderungen“ zu tun hat, ein „mehrpersonales, offenes, interaktives Geschehen in einem sich verändernden lebendigen Beziehungsfeld und einen konfliktreichen sozialen Raum“ darstellt. Sie ist daher „eine Praxis oder großen Unsicherheitsbedingungen in einem Feld struktureller Kontingenz mit diskontinuierlichen, konfliktreichen, in der Regel unvorhersehbaren, spontanen und auf gleiche Weise nicht wiederholbaren Prozessen, die sich darum in der Regel nicht steuern lassen“ (22).
Schon hier wird klar, dass unter Fehlerbearbeitung nicht die Skandalisierung und Verurteilung des Handelns einzelner Beteiligter verstanden darf. Auch guter Kinderschutz ist immer und notwendig Risiken ausgesetzt. Professionalisierung heißt, sich mit diesen Risiken auseinanderzusetzen, ihre Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen, „um dann entsprechend Evidenz basiert (kursiv) die richtigen Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Das ist allerdings leichter, wenn die Risiken bekannt sind“ (24). Letzteres ist aber oft nicht der Fall, Risikobewertungen werden dann häufig durch ideologische Diskussionen über unterschiedliche Wertmaßstäbe ersetzt, die eine Intervention rechtfertigen oder gerade nicht. Kinderschutzfachkräfte sind daher aus der Sicht der Autoren mit der Herausforderung konfrontiert, Rollen- und Aufgabenklarheit zu gewinnen, professionelle Handlungskompetenz zu entwickeln und eine Haltung der Aufrichtigkeit und Großzügigkeit zu entwickeln und zu bewahren (26), um ein Entgleisen in eine autoritäre Dominanz- und Verfolgerrolle zu verhindern, ohne die Augen vor tatsächlichen Gefährdungen von Kindern zu verschließen.
Fehlerverständnis, welches Fehler in erster Linie als Chance zum Lernen versteht
Daraus resultiert auch ein Fehlerverständnis, welches Fehler in erster Linie als Chance zum Lernen versteht. „Das dialogisch-systemische Fall-Labor ist (…) vom Grundgedanken getragen, dass Fehler in der Kinderschutzpraxis zur Normalität gehören. Diese erweisen sich aber als problematisch, wenn sie unerkannt bleiben und verschwiegen, nicht reflektiert und dann auch nicht korrigiert werden“ (33f.).
Mit diesen theoretischen und konzeptuellen Voraussetzungen gut versorgt, kann der Leser sich an die Lektüre der sorgfältig aufbereiteten Darstellung des Fallmaterials machen, welches das Versagen aller beteiligten Systeme und Akteure schmerzlich deutlich macht. In einer ausführlichen Time Line wird die Verschränkung einer problematischen Familiengeschichte mit einer schwierigen Hilfesystemgeschichte Schritt für Schritt nachgezeichnet. Das Ergebnis fassen die Autoren folgendermaßen zusammen: „Im Rückblick der dialogisch-systemischen Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie wird deutlich, dass die familialen wie die professionellen Akteure in der Fallgeschichte des Kindes mit einer mehrgenerationalen Komplexität und einer institutionellen Systemtransformation konfrontiert waren, in die die Fallgeschichte Eingebettet war. Diese Geschichte konnte von den am Fall beteiligten Akteuren jedoch nicht verstanden werden. Es gelang dem von zahlreichen Umbrüchen irritierten Hilfesystem nicht, die sich nur vage andeutende Familien- und Entwicklungsproblematik zu entschlüsseln und die Vorgeschichte, den aktuellen Konflikt und die Interessen und Bedürfnisse der Beteiligten, die im Hintergrund eine Rolle spielten, in einer das komplexe Geschehen bündelnden, multidisziplinären Problemkonstruktion bzw. Diagnose zusammenzufassen. Vielmehr kann es stattdessen zu unverbundenen Überlegungen und zu schwankenden Hilfe Bemühungen, die angeregt und dann aber auch wieder fallen gelassen, nicht weiterverfolgt oder ganz aufgegeben wurden. So konnte sich eine konsistent erbetene und gewollte Hilfepraxis nicht entwickeln, zumal die Akteure in ihren Systemzusammenhängen gefangen und an der Oberfläche blieben. Weder die Familienmitglieder noch die Fachkräfte konnten sich mit ihren Erfahrungen, Anliegen und Fragen wirklich artikulieren und einbringen. Allenfalls andeutungsweise wurde über das Kind leer so viel gesprochen, jedoch nicht mit ihm. Auf dieser Grundlage wurden dann Entscheidungen getroffen, Hilfen angeboten oder auch abgewehrt. Zu dem Zentrum des Falles stehenden Kind und seinen jungen Eltern konnte kein Kontakt hergestellt werden. Es kann nicht zu einem tragfähigen Arbeitsbündnis, auf dessen Grundlage hätte geklärt werden können, ob das Kindes- und Eltern wohl gefährdet war und ob Hilfe notwendig gewesen wäre“ (147f.).
Dieses Buch ist für Praktiker gedacht und erfüllt sein angestrebtes Ziel voll und ganz
Der Band von Biesel und Wolff ist für ein Forschungsbuch ausgesprochen spannend zu lesen. Die Darstellung des Forschungsprogramms, die Aufbereitung des Materials und die theoretischen Erörterungen sind hervorragend geschrieben, dabei verlieren sich die Autoren nicht im Detail und halten das Buch auf übersichtlichen 170 Seiten zusammen. Viele Forschungsarbeiten scheitern an der Theorie-Praxis-Schwelle, was den Eindruck erweckt, dass Forschung in erster Linie für Forscher betrieben wird. Dieses Buch ist für Praktiker gedacht und erfüllt sein angestrebtes Ziel voll und ganz. Es wäre auch bei knappen Kassen der öffentlichen Haushalte schon eine gute Investition in den Kinderschutz, wenn neuen Mitarbeitern in der Kinder-und Jugendhilfe von ihren Arbeitgebern zum Berufsbeginn ein Exemplar dieses Bandes in die Hand gedrückt würde. Aber auch erfahrene Kolleginnen und Kollegen im Bereich der sozialen Arbeit werden von diesem Buch profitieren. Eine weite Verbreitung ist dem Band, der auch handwerklich in der üblichen ausgezeichneten Qualität des transcript-Verlages überzeugt, auf jeden Fall zu wünschen. Und wer nicht warten will, bis sein Arbeitgeber sich spendierfreudig zeigt, sollte sich das Buch gleich bestellen.
Reinhart Wolff: Kinderschutz. David Gil zum 90. Geburtstag
Eine weitere ausführliche Rezension von Hans-Peter Heekerens für socialnet.de
Zum Buch gibt es ein aufschlussreiches Interview mit den Autoren, das als Audiodatei im Norddeutschen Rundfunk verfügbar ist (19 Min.)
Kay Biesel & Reinhart Wolff: Aus Kinderschutzfehlern lernen. Eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie
transcript-Verlag Bielefeld 2014
184 S., kart.
Preis: 24,99 €
ISBN 978-3-8376-2386-4
Verlagsinformation
Im November 2007 kam es in Schwerin zu einem bundesweit aufsehenerregenden Kinderschutzfall. Dabei machte man insbesondere den im Jugendamt tätigen Fachkräften Schuldvorwürfe: Warum war es nicht möglich, den Tod der fünfjährigen Lea-Sophie zu verhindern? Das Buch zeichnet nach, wie es gemeinsam mit den am Geschehen beteiligten Fachkräften des Jugendamtes der Stadt Schwerin und ausgewählten Praxispartnern unter Beteiligung der Familienmitglieder des verstorbenen Kindes gelang, den Fall mit der Methode des dialogisch-systemischen Fall-Labors zu rekonstruieren und daraus Lehren für die Kinderschutzarbeit zu ziehen.
Inhalt
Danksagung | 7
1. Der Anlass der Untersuchung | 11
2. Der theoretische Rahmen der Untersuchung | 17
2.1 Das Systemverständnis | 17
2.2 Das Praxisverständnis | 21
2.3 Das Fehlerverständnis | 32
3. Das Design der Untersuchung | 39
3.1 Methodologische Ausgangspunkte | 39
3.2 Fallauswahl und Fragestellung | 45
3.3 Erhebung und Analyse der Daten | 47
4. Die Ergebnisse der Untersuchung | 57
4.1 Die Hilfesystemgeschichte im Rückblick | 57
4.2 Die Jugendamtsgeschichte im Rückblick | 65
4.3 Die Familiengeschichte im Rückblick | 93
5. Der Ertrag der Untersuchung | 137
5.1 Die Fallgeschichte in der Zusammenschau – wesentliche Gründe des Scheiterns | 137
5.2 Die Falluntersuchung – persönliche Erfahrungen und Schlussfolgerungen |
155 Literatur | 163
Über die Autoren
Kay Biesel (Dr. phil.) ist Professor für Kinder- und Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt Kinderschutz an der Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Kinder- und Jugendhilfe.
Reinhart Wolff (Dr. phil. habil.) war Professor und Rektor an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Heute arbeitet er als Dialogischer Qualitätsentwickler und Praxisforscher.