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Arist von Schlippe: Familientherapie mit Unterschichtsfamilien

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Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, damals arbeitete ich auf meiner zweiten Stelle in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Dortmund, und wurde ich von Hilarion Petzold gefragt, ob ich zu dem Thema „Familientherapie mit Unterschichtfamilien“ einen Text schreiben könne (Familientherapie mit Unterschichtfamilien. In: Kristine Schneider [Hrsg.][1983]: Familientherapie in der Sicht psychotherapeutischer Schulen. Paderborn [Junfermann], S. 372-384). Es sollte ein Buch über die verschiedenen Schulen der Familientherapie werden, in dem auch einige besondere thematische Felder behandelt werden sollten. Meine Familientherapieausbildung am Weinheimer Institut hatte ich in der Zeit schon begonnen, wir hatten in der Klinik einen großen Einzugsbereich und sahen viel Elend, psychisches – doch auch sehr viele konkret soziale Nöte, die oft direkt mit psychischen Beeinträchtigungen und Familienkonflikten einhergingen. Ich erinnere mich an einen Hausbesuch bei einem schwer asthmatischen Mädchen. Damals war ich von der „Psychogenität“ von Asthma völlig überzeugt, doch der Besuch in der feuchten und nicht besonders gut riechenden Wohnung, in der ein kleiner Schwarz-Weiß-Fernseher ständig vor sich hin flimmerte und laute Töne von sich gab (das verzerrte Bild bezog er von der Zimmerantenne, die schräg in den Raum hineinragte), der Eimer mit Exkrementen mitten im eiskalten Kinderzimmer und die bepinkelte, notdürftig trocknende Bettwäsche ließen mich schon damals zweifeln, ob man sich Asthma so schlicht als „seelisch verursacht“ vorstellen dürfe. Die Familie war freundlich, behandelte mich aber erkennbar eher wie jemanden von „der Fürsorge“, mit Achtung und großer Vorsicht. Wirklich „Zugang“ bekamen wir nicht. Es gab einige ähnliche Erfahrungen in der Zeit, im Dortmunder Norden vor allem stand es nicht gerade zum Besten.
Ich war sehr stolz, auf das Thema angesprochen zu sein und versorgte mich, so gut es ging, mit Fachliteratur. Der Begriff „Unterschicht“ war (und ist) nicht unproblematisch, doch ich blieb dabei, er war common sense geworden. Die systematischen Zusammenhänge zwischen Schichtzugehörigkeit und psychischen Störungen wurden schon damals intensiv diskutiert, nicht wenige Autoren sprachen sich energisch für eine Verbesserung der Lebensumstände aus anstatt deren Folgen psychotherapeutisch „wegzumachen“ (so etwa Hollingshead & Redlich in „Der Sozialcharakter psychischer Störungen, Frankfurt, 1975).  Die „Konfliktspirale“, die sich aus materiellen Lebensbedingungen, finanziellen Sorgen, engen Wohnverhältnissen und begrenzten Möglichkeiten, im Umfeld Entlastung zu finden (wie Schwimmbad- oder Kinobesuche), ergibt, ist vielleicht nicht am besten über Psycho-, und vielleicht auch nur ein wenig besser über Familientherapie anzugehen.
Ob ich heute noch die Kategorien der Satir’schen Kommunikationsformen wählen würde, weiß ich nicht – wohl nicht. Die Kommunikationsformen in dieser Bevölkerungsgruppe dem „anklagenden Muster“ zuzuordnen, erscheint mit heute doch als recht vereinfachend. Was ich, glaube ich, damals zum Ausdruck bringen wollte, ist, wie sehr mir als in der Mittelschicht sozialisiertem Menschen die Direktheit und Unverblümtheit mancher sprachlichen Aussagen imponierte. Sprache, so wurde mir in der Auseinandersetzung allerdings auch klar, ist auch eine Barriere. Wer, wie ich damals, mit einer gesprächspsychotherapeutischen Ausbildung den Berufseinstieg begann, hatte es nicht gerade leicht, sich in restringierten Codes zu bewegen. Whorfs Konzept der „linguistischen Relativität“ wurde direkt erfahrbar. Und auch damals schon interessierten mich Erwartungsstrukturen, die sich vor dem Hintergrund spezifischer Sozialisationsformen als durchaus unterschiedlich darstellten.
Über dreißig Jahre ist das nun her! Auch heute lese ich den Text noch ganz gern. Er ist geprägt von dem Wunsch, der community etwas von den besonderen Erfahrungen der kinderpsychiatrischen Arbeit in einer Arbeiterstadt mitzuteilen, und auch von einer gewissen Ignoranz, mit der theoretische Klippen einfach deswegen umschifft wurden, weil ich sie damals gar nicht wahrgenommen hatte. Und ein wenig nachdenklich bin ich auch beim Lesen: wie sehr habe ich heute, wo ich mich eher mit Familien von der anderen Seite des sozialen Spektrums befasse (sprich: Unternehmensfamilien), den Kontakt zu der Lebenswirklichkeit vieler, wenn nicht der meisten Menschen in unserem Land verloren? Hmm, ich glaube, ich lese meinen Text noch einmal!

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