Ob man Baeckers neue Thesen zum Sein oder Nichtsein sozialer Systeme, die kürzlich im systemagazin einiges an Kommentaren nach sich zogen, auch anders lesen kann? Nicht nur als systemtheoretische Selbstreflexion, sondern vielleicht auch als Kommentar zum „Neuen Realismus“ (NR), der in letzter Zeit für Diskussionen sorgt? Maurizio Ferraris und Markus Gabriel haben mit diesem Begriff eine neue Runde eingeleitet im – man möchte fast sagen: ewigen – Ringen um die Grundfesten von Wahrheit und Sein an sich. Das findet Anklang. Der „Neue Realismus“ wolle „das Selbstverständliche endlich auch wieder in der Philosophie durchsetzen“ schreibt die FASZ in ihrem Trailer zur zustimmenden Rezension von Cord Riechelmann (26.10.2014). „Und sie existiert doch!“ ist die Rezension überschrieben, Galilei lässt grüßen. Kritik gibt es anderenorts ebenfalls (streng: Nielsen-Sikora). Ob es sich beim NR um „Humbug oder Geniestreich?“ handelt, wie in einem Insider-Blog diskutiert wird, lässt sich wohl ohne Verständigung auf die dabei leitenden Prämissen kaum klären. Was vielleicht auch am Thema „an sich“ liegt und seinen selbstrückbezüglichen Fallstricken.
In der ZEIT gab es eine kleine Serie, in der NR von verschiedenen AutorInnen und unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert wurde. An dieser Stelle möchte ich nur auf Bernhard Pörksens Beitrag in dieser Serie hinweisen. Pörksen hat zur Kybernetik 2.Ordnung und deren Konsequenzen für das soziale Miteinander immer wieder publiziert. Im vorliegenden Fall kommentiert er NR unter der Überschrift „Es braucht den Tanz des Denkens“. Mir scheint, er bietet damit einen sehr hilfreichen Anstoß, sich auch im Bereich des Systemischen über die eigene Position zum Thema klarer zu werden. Unter anderem heißt es in diesem Beitrag für die ZEIT: „Die Behandlung der Wahrheitsfrage ist nicht nur ein Spezialproblem für examinierte Philosophen, sondern sie steht im echten Leben auch unter dem Vorbehalt situativer Notwendigkeit. Und das bedeutet, dass es gelegentlich äußerst sinnvoll und geboten sein kann, erbittert für die eigene Wahrheit zu streiten. Aber manchmal kann es eben auch heißen, dass man einfach nur zuhört oder behutsam für eine Pluralisierung der Wahrnehmungsformen wirbt“. Und weiter, mit Bezug auf eine am Anfang erwähnte Geschichte, die schildert, wie Ivan Illich, der einen faustgroßen Tumor an seiner Backe nicht medizinisch behandeln lassen wollte, sich über einen Arzt ärgerte, der ihm dringend eine Operation empfahl, während er sich über ein Kind freute, dem dieses Gebilde in seinem Gesicht offenbar als „Kussbacke“ gefiel, mit Bezug auf das also schreibt Pörksen weiter: „Und gewiss sollte einen schon eine Art Minimalrespekt davon abhalten, einem Erwachsenen ins Gesicht zu fassen und ihn mit Vorschlägen zur Operation seiner Backe zu verfolgen. Und in manchen Momenten ist es einfach nur schön und unendlich liebevoll, in einem Tumor eine Kussbacke zu sehen. Und bei anderer Gelegenheit wäre dies wiederum ganz falsch. Kurzum: Es kommt darauf an.“ Und worauf es ankommt, dürfte im Kern wiederum eine Frage danach sein, wer sich mit wem über was wie (nicht) verständigen möchte. Es bleibt spannend. Pörksens Beitrag ist im Web hier zu finden.
Alte Frage und Neuer Realismus
30. Oktober 2014 | Keine Kommentare