Die Reihe „Störungen systemisch behandeln“ im Carl-Auer-Verlag umfasst mittlerweile 12 Bände. In Band 10 befassen sich Rudolf Klein und Gunther Schmidt mit dem Thema der Alkoholabhängigkeit. Arist von Schlippe hat das Buch rezensiert und empfiehlt die Lektüre: Die „Autoren [haben] ein ausgezeichnet lesbares, ja geradezu spannendes Buch geschrieben, das eine Fülle von grundlegenden und weiterführenden Informationen über die Arbeit im Kontext von Alkohol- und vergleichbaren Suchtdynamiken bietet, und damit über ein Phänomen, das auf vielen Ebenen menschlicher Existenz bedeutsam ist – und das oft vorschnell auf die Forderung nach Abstinenz reduziert wird“. Aber lesen Sie selbst:
Arist von Schlippe, Osnabrück
Der 10. Band der Reihe „Störungen systemisch behandeln“ im Carl Auer Verlag ist einer Sucht gewidmet, die in unserer Kultur weit verbreitet ist, die Grenzlinien zwischen sozialem Trinken und Abhängigkeit sind schwer zu bestimmen. Die Autoren sind als Spezialisten in dem Themenfeld bekannt, sie arbeiten zugleich schwerpunktmäßig in unterschiedlichen Kontexten (ambulant und stationär), eine Kombination, die Erwartungen erzeugt. Sie werden nicht enttäuscht: Das Buch informiert umfassend über das „Störungsbild“ (inklusive einer kritischen Reflexion), über die Historie, über klassische Behandlungskonzepte und über systemische Therapieformen der Kybernetik 1. und 2. Ordnung in verschiedenen Auftragskonstellationen.
Gerade in einer Reihe, die sich der systemischen Praxis über die „Behandlung“ von „Störungen“ nähert, also „nicht-systemisch“, ist es wichtig, konsequent zu reflektieren, dass man sich ständig in konstruierten Welten bewegt. Wir haben es mit Phänomenen zu tun, die von Beobachtern erzeugt, jedoch meist Einzelpersonen zugeschrieben („Herr X. hat …“) und im Gesundheitssystem als objektive Realität verhandelt werden, ohne dass dieser Prozess ausreichend reflektiert wird. Da, wo zu personenbezogenen Zuschreibungen eingeladen wird, gilt es, dekonstruktiv unterwegs zu sein – und zugleich handlungsfähig zu bleiben und nicht in erkenntnistheoretischer Reflexion zu versinken. Das 1. Kapitel gibt hier einen klaren Rahmen vor: Diagnosen sind Zusammenfassungen, die von einer Person aus Berichten erstellt werden, die ihr eine andere Person erzählt. Die so erzeugte Beschreibung darf sich nicht verselbständigen und verdinglichen, zugleich werden die positiven Möglichkeiten gezeigt, sich durch Diagnosen zu verständigen und zu orientieren. Die kritische Reflexion ist jedoch immer wieder mitzuführen.
Das 2. Kapitel führt in klassische Erklärungs- und Behandlungskonzepte ein, danach wirft das Folgekapitel einen Blick auf die Anfänge der Systemtherapie. Im Stil der Kybernetik 1. Ordnung wurde die „Homöostase der Familie“ in Bezug auf das Symptom beobachtet. Entsprechend galt es vielfach als Aufgabe des Therapeuten, das Heft in der Hand zu halten, die „Funktion des Symptoms“ zu verändern und aus einer „nassen Alkoholikerfamilie“ eine „trockene“ zu machen. Dieser Logik folgen allerdings nicht alle Ansätze der ersten Generation, die mehrgenerationalen Überlegungen der frühen Heidelberger Schule etwa sind bis heute aktuell.
Nach ziemlich genau einem Viertel des Buchs geht es dann ab dem 4. Kapitel nur noch um die moderne systemische Praxis im Kontext Abhängigkeit. Klar ist: es geht nicht mehr um „den“ Kranken und „seine“ Familie, nicht mehr um die Objektivität und Diagnosen, sondern um gleichberechtigtes Verhandeln: „Der Vorgang des Beobachtens lässt sich nicht mehr länger als das passive Aufnehmen von objektiv gegebenen Außenreizen verstehen … Was ein zu behandelndes Problem ‚ist’ und welches Ziel in der Therapie angestrebt werden soll, muss … mit den Klienten und den relevanten Bezugssystemen abgesprochen werden“ (S. 54). Ein explizit systemtherapeutisches Störungsverständnis wird dann im 5. Kapitel ausgearbeitet. Die selbstorganisierenden Dynamiken zwischen Suchtstoff, biologischen, psychischen und sozialen Systemebenen werden genauer untersucht. Abhängigkeit wird als Form von „Selbstregulationsmanagement“ verstanden, also weniger als problemerzeugende, sondern vielmehr problembewältigende Dynamik (S. 72). Sie wird unter ritualtheoretischen, biografischen und familienbiografischen Gesichtspunkten diskutiert und als Muster rekonstruiert. Spezifische therapeutische Haltungen werden genannt, nämlich eine Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Lage anzuregen und allen Akteuren Respekt für ihre bisherigen Bewältigungsversuche zu zollen. Es wird zur Erforschung von Alternativen eingeladen und nicht auf Entscheidungen gedrungen, im Gegenteil, diese werden sie „gegebenenfalls verzögert“ – ein „Kontext legitimierten Zauderns“ eröffnet (S. 95).
Mit dem 6. und 7. Kapitel wird systemische Praxis als „Übergangsritual“ im ambulanten und stationären Kontext vorgestellt. Durchgängig vermitteln die Autoren eine Haltung gegenüber dem herkömmlichen Umgang mit Trinken, die gewohnten Erwartungen zuwiderläuft: Es geht nicht in erster Linie um Abstinenz, sondern auf der Basis einer Wertschätzung der Symptomatik um die Erfahrung von Wahlmöglichkeiten. Damit wird der Gefahr einer symmetrischen Beziehung entgegengewirkt, in der ein Therapeut gegen den zunehmend „widerständigen“ Klienten das Ziel durchsetzt, dass niemals wieder getrunken werde. Auch geht es um die positive Beschreibung von Rückfällen – hierzu als Beispiel einer der vielen eingestreuten methodischen „Baukästen“, mit denen Fragen bzw. Interventionen illustriert werden:
- „Ich rechne aufgrund meiner therapeutischen Erfahrung damit, dass Sie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit und über eine gewisse Zeitspanne hinweg, vielleicht aber auch nur gelegentlich, mehr trinken werden, als Sie sich das selbst vorgenommen haben. [Pause]
- Manche Klienten sind dann enttäuscht und schämen sich so sehr vor sich selbst oder vor ihren Angehörigen oder auch vor den Therapeuten, dass sie die Therapie frühzeitig beenden. [Pause]
- Sie müssen sogar damit rechnen, dass dieses Verhalten Sie von Ihrem angestrebten Ziel abhalten und die Zielerreichung gänzlich verhindern könnte. [Pause]
- Dennoch ist es aus therapeutischer Sicht gar nicht so schlecht, wenn es passiert. [Pause]
- Und das mag komisch klingen. [Pause]
- Dieses Trinken gibt uns nämlich, Ihnen und mir, die Möglichkeit, genau zu prüfen, welche Bedingungen dazu führen, dass Sie trinken und wofür das Trinken einen Lösungsversuch dargestellt hat bzw. darstellt. [Pause]
- Und das ist für den Erfolg einer Therapie wichtig. Ohne Rückfälle könnte man wesentliche und wichtige Einflussfaktoren übersehen“ (S. 104f).
Immer wieder ist erkennbar, dass in der therapeutischen Beziehung auf Augenhöhe gearbeitet wird, auch im stationären Kontext. Klienten werden angeregt, sich und die Muster, die sich in ihrem sozialen Feld entwickelt haben (sei es biografisch oder im Kontext aktueller Beziehungen), auf neue Weise zu beobachten. Probleme werden als Lösungen, Lösungen als Problem hinterfragt. In der stationären Therapie geht es zudem darum, zu verstehen, welche Selbstentwertung ein Klinikaufenthalt bedeutet (und wie wichtig daher der Frame einer „Übergangssituation“ ist). Gruppentherapie, Angehörigenarbeit und die Vorbereitung auf die Entlassung in Transfer-Reflexionsgruppen sind spezifisch für die stationäre Arbeit. Abgesehen davon ist das Vorgehen recht ähnlich, was die abschließend noch im 8. Kapitel vorgestellten übergreifenden methodischen Überlegungen unterstreichen. Ein sehr knappes Kapitel befasst sich zum Ende mit Evaluation.
Die einzige Kritik: ich hätte mir für dieses ausgezeichnete Buch noch eine bessere eine Abrundung gewünscht, so taucht man etwas abrupt aus der Lektüre auf: „Oh, schon zuende?“ Denn insgesamt haben beide Autoren ein ausgezeichnet lesbares, ja geradezu spannendes Buch geschrieben, das eine Fülle von grundlegenden und weiterführenden Informationen über die Arbeit im Kontext von Alkohol- und vergleichbaren Suchtdynamiken bietet, und damit über ein Phänomen, das auf vielen Ebenen menschlicher Existenz bedeutsam ist – und das oft vorschnell auf die Forderung nach Abstinenz reduziert wird. Zahlreiche, im Text grau unterlegte Fallbeispiele und Interventionsbaukästen lassen das Buch besonders lebendig und prägnant werden. Eine uneingeschränkte Empfehlung von mir!
(Eine kürzere Fassung dieser Rezension ist in Heft 1/2018 der Familiendynamik erschienen).
Rudolf Klein & Gunther Schmidt (2017): Alkoholabhängigkeit. Heidelberg (Carl-Auer)
221 Seiten
kartoniert
Preis: 24,95 €
ISBN 978-3-8497-0208-3
Verlagsinformation:
Für die Behandlung von Alkoholabhängigkeit setzen Krankenkassen und Rentenversicherer einen Rahmen, der das therapeutische Vorgehen und damit auch die Entwicklungsmöglichkeit von Klienten einschränkt.
Rudolf Klein und Gunther Schmidt beschreiben erprobte Alternativen zu diesen Voraussetzungen, und zwar sowohl im Hinblick auf die mutmaßlichen Gründe für die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit wie auch im Hinblick auf therapeutische Ziele und Behandlungsmethoden. Den herkömmlichen und gängigen psychotherapeutischen Methoden stellen sie moderne systemische und hypnosystemische Ansätze gegenüber. Deren Vorzüge werden an neuralgischen Punkten besonders deutlich, z. B. im Umgang mit Ambivalenzen und „Rückfällen“ oder bei der Arbeit in und mit Zwangskontexten.
Vor dem Hintergrund ihrer jahrzehntelangen Praxis beschreiben die Autoren die Herausforderungen der ambulanten wie auch der stationären Behandlung. In zum Teil durchlaufenden Praxisfällen illustrieren sie die theoretischen und praktischen Besonderheiten der systemischen und der hypnosystemischen Therapie.
Aus der erfrischenden Herangehensweise der Autoren ergeben sich zahlreiche Ideen für die Praxis nicht nur von Suchttherapeuten, sondern auch für Therapien mit anderen Störungsbildern und Problemlagen.
Autoren:
Rudolf Klein Dr. phil., Studium der Sozialpädagogik; langjährige Tätigkeit als Gruppentherapeut in einer Klinik für Alkohol- und Medikamentenabhängige; langjähriger Mitarbeiter einer ambulanten psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle mit dem Schwerpunkt Sucht; seit 2004 in freier Praxis tätig; Lehrtherapeut und Lehrender Supervisor der Saarländischen Gesellschaft für Systemische Therapie (SGST) und der Systemischen Gesellschaft (SG); Lehrtherapeut des Wieslocher Instituts für systemische Lösungen (wisl); Gastdozenturen in Luxemburg, Österreich, Polen, Russland, Schweiz, Ukraine.
Gunther Schmidt, Dr. med., Dipl. rer. pol., Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Mitbegründer des Heidelberger Instituts für systemische Forschung und Beratung, der Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie (IGST), des Helm-Stierlin-Instituts in Heidelberg und des Deutschen Bundesverbands Coaching (DBVC). Gunther Schmidt ist Ärztlicher Direktor der sysTelios Privatklinik für Psychotherapie und psychosomatische Gesundheitsentwicklung sowie Leiter des Milton-Erickson-Instituts Heidelberg. 2011 erhielt Gunther Schmidt den Life Achievement Award der Weiterbildungsbranche.