Heute wird Kurt Buchinger 72 Jahre alt – ein Grund, ihm herzlich zu gratulieren und ihm alles Gute zu wünschen. Dem systemagazin hat er einen kleinen autobiografischen Text geschickt, der wie alles von ihm wunderbar zu lesen ist – viel Vergnügen!
Kurt Buchinger, Wien: Autobiographische Skizzen
Mein Vater war ein aufbrausender, jähzorniger Mann. Aus einem chronischen Gefühl des Ungenügens heraus, jedoch allem Lernen abgeneigt, lebte er mit rasch wechselnden Tätigkeiten in den Tag hinein und tyrannisierte seine Umgebung. Meine Mutter gab dazu das entsprechende Negativ. Eine zierliche, anziehende Frau mit höchsten intellektuellen und emanzipatorischen Ansprüchen, die in krassem Gegensatz zu ihrem gelebten Leben standen, weckte sie in ihrer Umgebung den Wunsch, sie zu erlösen, den sie standhaft zu enttäuschen wußte. Versunken in einem chronischen Gefühl der Leere, das sie mit ihren Kindern vergeblich auszufüllen suchte, blieb sie beschränkt auf ihre zunehmend verhasste und dementsprechend ausgefüllte Mutter- und Hausfrauenrolle. Mein älterer Bruder bekam die Last dieser Verhältnisse ungemindert zu spüren, was ihn für sein Leben zeichnete. Man sollte meinen, der Arme, an dem sich meine Eltern schon einigermaßen abgearbeitet hatten, bevor ich das Licht der Welt erblickte, wirkte als Barriere und Schutzschild gegen deren direkte Einwirkung auf meine zarte Seele. Aber der Böse erwies sich vielmehr als ein Art Brennglas, durch das er alles in höchster Konzentration auf mich weiter leitete. Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass ich ein mehrfach seelisch missbrauchtes Kind war, unterdrückt, entwertet, gleichzeitig als Rettungsengel phantasiert. Ohnmacht, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle waren der fruchtbare Boden für eine katholische Erziehung, die sich mir, wenngleich moderat und ohne äußeren Zwang ausgeübt, als kosmische Rechtfertigung des in mir angerichteten seelischen Chaos darstellte. Es erübrigt sich, auszuführen, dass mein Leben den vergeblichen Bemühungen eines Verdammten gleichkam, eine einzige Misere. Leistungsneurotisch und trotz aller möglichen Qualifikationen mein Berufsfeld immer wieder wechselnd, konnte ich nie schätzen, was ich erreichte. Auch im Privatleben unternahm ich mehrere Anläufe, was dazu führte, dass ich heute, umgeben von vielen Kindern, die mich immer noch ausbeuten, allein lebe. Was Wunder, dass mich – verbraucht durch alle die vergeblichen Anstrengungen, meinem vorgezeichnetem Schicksal zu entkommen – zu guter letzt eine lebensbedrohliche Krankheit heimsucht, die sich nun auch noch weigert, dem allen ein gnädiges Ende zu bereiten. Ich erlaube mir, mich durchgängig als gescheitert anzusehen.
Nein, bitte um Verzeihung, ich war grad etwas schlecht drauf nach der Lektüre einiger psychoanalytischer Fallberichte, das stimmt alles so nicht. Lassen sie mich noch einmal von vorne beginnen:
Mein Vater war ein zupackender lebenslustiger Mann. Seine Schule waren weniger Skripten und Bücher, als vielmehr das bunte Leben, dem er aufmerksam jede Gelegenheit ansah, und sie ergriff, solange sie ihm Freude bereitete. Dann öffnete er sich wieder für Neues. Eine postmoderne Patchwork-Persönlichkeit, seiner Zeit voraus. Gesellig wie er war, forderte er nicht nur sich, sondern auch seine Umgebung durch Widerspruch und freundliche Provokation zu beiderseitiger Bereicherung. Man konnte ihn mögen, wie auch er sich selbst mochte. Meine Mutter war dazu die passende Ergänzung, so wie er es für sie war. Zartfühlend, kultiviert und intellektuell, wirkte sie anziehend auf ihre Umgebung. Man suchte den Kontakt zu ihr, und fand sich im Austausch mit ihr belebt, nicht zuletzt auch durch ihre unaufdringliche erotische Ausstrahlung. In uns Kindern fand sie ihre ganze Erfüllung nur in den ersten Jahren unseres Lebens, solang also als wir der ungeteilten emotionellen Zuwendung zur Gänze bedurften, um das nötige Urvertrauen auszubilden. Danach wandte sie sich, ohne uns aus den Augen zu verlieren, mit Feingefühl wieder mehr der Vertiefung ihrer seelischen Entwicklung zu, an der sie mich immer teilnehmen ließ. Eine emanzipierte Frau im besten Sinn des Wortes zu einer Zeit, als davon noch kaum die Rede war. Ich kann wohl sagen, dass ich die fruchtbare Kombination dieser Eigenschaften meiner Eltern in mir vorgebildet fand, und überdies die Gelegenheit hatte, sie durch Einwirkung meines älteren Bruders zu festigen. Diese Einwirkung bestand darin, dass er mich meine innere Unabhängigkeit und meine Stärken an seinem segensreichen Widerstand nachhaltig trainieren ließ, was mir ein realistisches Gefühl für meine Ausdauer, Willenskraft und Leistungsfähigkeit vermittelte. Nicht zu vergessen eine moderate katholische Erziehung, welche in mir die freudige Gewissheit vertiefte, dass dieses irdische Leben alles andere als profan ist, wir endgültig erlöst sind, und sich das Unendliche in allem Endlichen zeigt. Derart reich ausgestattet, konnte es nicht ausbleiben, dass sich mein Leben erfolgreich und glücklich entfaltete. In meinen Berufen fand ich bald Gelegenheit, praktische professionelle Tätigkeit (das väterliche Teil) zu verbinden mit ihrer wissenschaftlichen Grundlegung und Erforschung (das mütterliche Erbe). Das Ganze zu Pionierzeiten der verschiedenen sich gerade differenzierenden Felder professioneller Beratung, die ich so mit entsprechender Ausdauer (der brüderliche Segen) mit gestalten konnte. Auch mein Privatleben durfte sich reichhaltig entfalten. Ich hatte die Chance, mehrmals eine Familie aufzubauen und in Freundschaft aufzulösen, so dass ich mich heute im Kreis vieler Kinder finde, die eine fröhliche Gruppe von Geschwistern und Halbgeschwistern um mich bilden. Nicht zuletzt darf ich eine lebensbedrohliche Krankheit als Freund und Lehrmeister begrüßen, die mir bei aller körperlicher Einschränkung zu einer radikalen inneren Freiheit verhalf, die ich immer angestrebt, nun aber als Geschenk erhalten habe. Mit Tod und Leben versöhnt, erlaube ich mir, mich als glücklichen Menschen zu sehen.
Nein, bitte nochmals um Verzeihung, ich muss auch das wieder abbrechen, es geht so nicht. Das sind ja alles halbseidene Konstruktionen. Sie dienen nur dazu, sich je nach Stimmungslage – entweder aus dem Bedürfnis nach Entschuldigung oder aus dem Wunsch nach Rechtfertigung – eine andere Vergangenheit zu geben, die man so nie hatte. Alles soll aus einem Guss erscheinen, vielleicht doch ins Gute gerückt, oder als Katastrophe legitimiert werden, in deren Verständnis man wenigstens, wenn schon sonst nirgends, richtig liegt. Aber was heißt denn da aus einem Guss, was heißt gut und schlecht, richtig oder falsch: Es ist wie es ist, und es ist Leben, das gelebt ist, mit vielen Möglichkeiten, die auch nicht gelebt sind. So ist das eben. Und jetzt ist Gegenwart wie immer, nicht mehr und nicht weniger. Gestatten sie mir also in diesem Sinn einen dritten und letzten Versuch:
Ich bin heute in einem Alter, in dem man gerne auf sein bisheriges Leben zurück blickt. Nun ist aber das meiste, was mein Tun und Lassen bisher bestimmt hat, abgerundet. Die vielen Identitäten, die ich im Laufe eines längeren Lebens angenommen und wieder abgelegt habe, sind ausgelebt. Das hat sich alles von mir gelöst ohne wesentliche Rückstände; Häutungen, die keiner Aufbewahrung bedürfen. Da ich ausserdem das Glück habe, mich nicht um mein materielles Überleben sorgen zu müssen, meine Kinder zudem einen Grad von Selbständigkeit erreicht haben, der sie mehr oder weniger frei von mir macht, so befinde ich mich relativ unbelastet in meiner Gegenwart. Ich brauche nicht zurück zu sehen und zu sammeln, alles was mir nötig ist für weiteres Leben und weiteren Selbstausdruck, ist ohnehin in mir versammelt und kann nach Bedarf abgerufen werden. Zwar bin ich bereit abzutreten, fühle aber, dass es noch nicht so weit ist, und deshalb werde ich entgegen anderer ärztlicher Absichten noch eine Weile auf meine Weise tätig sein. Was ich an Leben in mir finde, werde ich, so gut ich kann, nehmen, sichtbar machen und weiter geben. Da ist kein Urteil in mir, bloß Dankbarkeit und Erwartung des Neuen, das mich mit jedem Atemzug ins Unbekannte führt.
Ja, irgendwie so mag es gehen, mit Autobiographie hat es allerdings sehr wenig zu tun. Also ich glaub, das lass ich lieber. Das ist nichts für mich.
28.Sept. 2015
Diese sehr zugängliche Beschreibung enthält viel Wahrheit ohne zu moralisieren oder zu belehren.
Zudem habe ich viele Parallelen zu meinen eigenen Lebensskizzen-Versuchen gefunden. Danke für das Lesevergnügen
Lieber Herr Levold, lieber Kurt,
vielen Dank für diesen wunderbaren Text und das zu Kurts Geburtstag. Es ist und war immer ein Vergnügen, von Kurt zu lernen.
Beste Grüße
Uta-Barbara Vogel