systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

19. Februar 2025
von Tom Levold
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Eckard Sperling (19.2.1925-17.4.2007)

Heute würde Eckhard Sperling 100 Jahre alt. Neben Helm Stierlin in Heidelberg und Horst-Eberhard Richter in Gießen leitete er ab den 1970er Jahren das dritte universitäre Zentrum der in diesem Jahrzehnt entstehenden familientherapeutische Bewegung in der BRD. Seine medizinische Ausbildung schloss er 1960 mit dem Facharzt für Nerven- und Gemütserkrankungen ab, 1962 kam der Zusatztitel Psychotherapie hinzu. Seine Habilitation erfolgte 1965 in Göttingen (mit einer Arbeit über die psychosoziale Situation von Hirnverletzten) und er erhielt die Lehrbefugnis für das Fach Psychiatrie, medizinische Psychologie und Psychotherapie, die er ab 1966 als Universitätsdozent der Universität Göttingen ausübte. 1970 schließlich wurde Eckhard Sperling Leiter der damals neu gegründeten Abteilung für Psycho- und Soziotherapie (Familientherapie) des Zentrums Psychologische Medizin (heute: Zentrum Psychosoziale Medizin) an der Universität Göttingen, eine Position, die er bis zu seinem Ruhestand 1990 innehatte. 1966 initiierte er den Aufbau einer ärztlich-psychologischen Beratungsstelle für Studenten und leitete sie als Direktor. An seiner Abteilung wurde vor allem der Mehrgenerationen-Ansatz der Familientherapie praktiziert und weiterentwickelt, der über ein gemeinsames Buch mit Günter Reich und Almuth Massing auch für ein weiteres Publikum populär wurde.

Im systemischen Feld ist Eckard Sperling ansonsten wenig in Erscheinung getreten, wohl auch, weil er sich Schulenzuordnungen eher widersetzte und sich in seiner eigenen Arbeit nicht nur sehr eklektizistisch aller möglichen Konzepte bediente, sondern dabei auch durchaus unkonventionelle Vorgehensweisen ausprobierte. Im Lehrbuch von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer heißt es in einem Absatz: „Eckard Sperling, eine wichtige Pionierfigur psychoanalytischer Familientherapie , nahm schwer gestörte Patienten zeitweise in seine Familie auf, ja, er nahm sogar einmal eine magersüchtige Patientin mit in den Familienurlaub: »ich werde nie vergessen, wie sie zum ersten Mal schmecken lernte, als wir ein Muschelgericht in St. Maries de la Mer aßen« (in Hosemann et al., 1993, S. 122). Von ihm stammt auch die erfrischende Aussage: »Ich glaube keiner Theorie, sondern ich benutze sie nur. Ich benutze von der Theorie jeweils das Teilstück, das mir hilft , […] solange es mir hilft « (S. 127).“ (Von Schlippe & Schweitzer 2012, S. 208).

Anlässlich seiner Emeritierung erschien in der Zeitschrift „System Familie“ ein kurzes Interview von Stella Reiter-Theil mit E. Sperling, in dem er seine Haltung noch einmal bekräftigte: „Ich habe mich mal gefragt, wozu Therapeuten ,Glaubensbekenntnisse’ brauchen. Das habe ich wirklich nie verstanden. Es gehört wohl irgendwie dazu – und es ist auch ein bißchen deutsch, daß die Identitätsbildung mit einer Vereinszugehörigkeit verbunden ist. Aber solange sich diese Vereine nicht gegenseitig anerkennen, hat es der einzelne schwer. (…) Wenn Sie mich nach meiner Person fragen, dann ist es für mich eines der Hauptanliegen, einfach die Integration zu machen, denn ich möchte in meiner Person möglichst alle psychotherapeutischen Methoden integrieren. Das klingt furchtbar vermessen, aber da alle Methoden letztendlich das gleiche Ziel haben, daß es dem Patienten besser geht, ist es gar nicht so vermessen.“

Das vollständige Interview finden Sie hier…

Leider gibt es kein öffentlich zugängliches Foto von Eckard Sperling. Aber vielleicht gibt es ja unter den Lesern jemand, der eines hat. Ansonsten bleibt es hier beim Text…

Literatur:

Dagmar Hosemann, Jürgen Kriz & Arist von Schlippe (Hrsg.) (1993). FamilientherapeutInnen im Gespräch. Freiburg (Lambertus)

Almuth Massing, Günter Reich & Eckard Sperling (2006). Die Mehrgenerationen-Familientherapie (5. Aufl.). Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)

Eckard Sperling & Stella Reiter-Theil (1990): „Daß alle in einem Boot leben können…“. Interview mit Eckhard Sperling. In: System Familie  3 (3), S. 181-182.

Arist von Schlippe & Jochen Schweitzer (2012): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)

5. Februar 2025
von Tom Levold
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Systemisches aus Forschung und Praxis – und Politik

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Systemisches aus Forschung und Praxis: So lautet der Obertitel der beiden letzten Hefte der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung. Vor allem Heft 4/2024 war Arbeiten aus der Forschung gewidmet. Das aktuelle Heft 1/2025 eröffnet mit einem Beitrag über neue Möglichkeiten der systemischen Beratung, die sich aus der digitalen Transformation ergeben. Der Artikel erschien schon in Heft 4/2024, aber offensichtlich so gravierend fehlerhaft, dass er nun noch einmal in der korrigierten Fassung veröffentlicht wurde.

Darüber hinaus bringt Herausgeberin Cornelia Tsirigotis (mit einer Einordnung durch Tom Levold) noch einmal drei Briefe Gregory Batesons, mit denen er seinen Austritt aus dem Verwaltungsrat der Universität von Kalifornien begründete, weil dieser die Atomrüstungsforschung der Universität unterstützte, und die in der Zeitschrift schon einmal 1986 veröffentlicht wurde. Karim Fereidooni, Didaktik-Professor an der Ruhr-Universität Bochum gibt Handlungshinweise für Lehrpersonen für den Umgang mit dem Hamas-Terror und dem Gaza-Krieg. Sehr interessant ist ein Text von Anna Thiemann über die Geschichte von Psychiatrie und Psychotherapie in der DDR.

Erwähnenswert auch noch ein Diskussionsbeitrag einer Arbeitsgruppe um Johannes Herwig-Lempp über das seltsame Phänomen der Triggerwarnungen, die zunehmend auch an Hochschulen eingefordert werden. Er macht darauf aufmerksam, dass „im Kontext der Freiheit der Lehre § 4 HSG LSA – davon auszugehen [ist], dass Studierende mit einer Vielfalt an Lehrmethoden konfrontiert werden und je nach Seminarzielsetzung auch Themen angesprochen werden, die individuell unterschiedlich berühren können. Die Hochschule ist als öffentlicher Ort dabei explizit kein safe space im Sinne eines therapeutischen Schutzraumes“ (!) und führt hierzu ein Zitat von Sarah Elsuni an: „Wissenschaftliche Tätigkeit, hierunter fallen Forschung und Lehre, zeichnet sich zunächst einmal durch das Erfordernis aus, dem wissenschaftlichen Denken und Austausch keine Grenzen zu setzen. Hochschulen als Orte der Wissenschaft müssen immer Orte der offenen, kritischen und kontroversen Auseinandersetzung sein (können)“ (Elsuni, Sarah (2019), Content Warning. (Un) Zumutbares in Wissenschaft und Lehre. In: Eva Berendsen, Saba-Nur Cheema & Meron Mendel (Hg.), Trigger-Warnung. Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen, Berlin (Verbrecher Verlag), S. 129 –142). Das müsste in gleicher Weise auch für wissenschaftliche Fachverbände und ihre Publikationen gelten. Betrachtet man die DGSF-internen Auseinandersetzungen um die inhaltliche Unabhängigkeit des Kontext, sind aber Zweifel angebracht, geht es dabei offensichtlich nicht darum, offene, kritische und kontroverse Auseinandersetzungen zu führen, sondern um inhaltliche ideologische Kontrolle.

In Heft 4/2024 findet Cornelia als Herausgeberin der Schwesterzeitschrift des Kontext deutliche Worte, die ich hier gerne wiedergebe:

„Warum machen wir Fachzeitschriften und warum lesen wir sie? Der Titel dieses Heftes mag einen ersten Hinweis geben. Lesen, das erscheint klarer: es bildet, regt an, macht neugierig, lädt zu Fragen ein und gibt (vielleicht) Antworten. Zeitschriften machen, herausgeben, schriftleiten? Mein Leitmotiv für die Arbeit als Schriftleiterin ist, Texte zur Verfügung zu stellen, die (systemischen) PraktikerInnen ebenso wie Menschen im universitären oder Ausbildungsbereich für einen systemischen Diskurs oder für ihre praktische Arbeit hilfreich sein können. Dabei geht es nicht um eine systemische „reine Linie“ (wenn es die denn gibt), sondern um eine Vielfalt von Perspektiven, Meinungen und Positionen. Dazu gehören eine dialogische Haltung, Respekt und Wertschätzung sowohl im Text selbst als auch im Umgang mit anderen Meinungen. So ist immer die Einladung zum Dialog ausgesprochen. Wer eine andere Meinung zu einem Text hat, ist aufgefordert, (s)eine inhaltliche Auseinandersetzung zu beginnen, eine Gegenthese zu formulieren, einen Text zum Thema mit einer anderen Meinung einzureichen oder einen Leserbrief zu schreiben. Eine Grundhaltung von Neugier, Nichtwissen und Multiperspektivität leitet mich beim Zusammenstellen der Zeitschrift genauso wie wertschätzendes Erkunden. Nicht alles, was in der ZSTB steht, muss mir persönlich gefallen oder meiner Meinung entsprechen. Ich stelle zur Verfügung, was ich für einen (systemischen) fachlichen Diskurs für interessant und für PraktikerInnen für anregend halte. Das kann auch ein Stein eines Anstoßes oder eine ins Rollen gebrachte Aufforderung zu einer inhaltlichen Diskussion sein, zu der alle beitragen können, dürfen, sollen. Das ist meine Idee von Veröffentlichen: Einer systemischen fachlichen Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, einer freiheitlichen Auseinandersetzung verpflichtet. Dafür stehe ich ein. Anlass zu dieser Erklärung sind nicht die Texte dieses Heftes, sondern eine in Teilen der systemischen Szene aufgekommene Fragen nach inhaltlicher Kontrolle und freiheitlichem Umgang mit anderen Meinungen und Wirklichkeitskonstruktionen“.

Alle bibliografischen Angaben und abstracts finden sich hier für 2024 und für 2025 hier.

4. Februar 2025
von Tom Levold
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50 % der Erwachsenen in Deutschland sind verheiratet

WIESBADEN – Jede zweite erwachsene Person in Deutschland ist verheiratet. Das entsprach 35,0 Millionen Menschen, die Ende 2023 in einer Ehe lebten. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) zum Welttag der Ehe am 9. Februar mitteilt, waren das gut 50 % der Bevölkerung ab 18 Jahren hierzulande. Zahl und Anteil der Verheirateten sinken jedoch seit Jahren nahezu kontinuierlich: 30 Jahre zuvor hatten noch rund 39,3 Millionen volljährige Menschen in einer Ehe gelebt, das waren 60 % aller Erwachsenen. 

Jede dritte erwachsene Person ist ledig – Anteil deutlich gestiegen

Im selben Zeitraum stieg die Zahl der volljährigen ledigen Personen und ihr Anteil an der Bevölkerung ab 18 Jahren deutlich. Ende 2023 waren 22,6 Millionen Menschen ab 18 Jahren ledig, also nicht verheiratet, verwitwet oder geschieden. 1993 waren gut 15,8 Millionen Erwachsene ledig. Der Anteil der Ledigen an der Bevölkerung ab 18 Jahren ist binnen 30 Jahren von 24 % auf rund 33 % gestiegen.

Durchschnittsalter bei der ersten Heirat auf neuem Höchststand

Dass der Anteil der Verheirateten seit Jahren schrumpft, geht auch damit einher, dass die Menschen bei ihrer ersten Heirat immer älter sind – sofern sie überhaupt heiraten. Das Durchschnittsalter bei der ersten Eheschließung ist binnen 30 Jahren um rund sechs Altersjahre gestiegen und hat einen neuen Höchststand erreicht: Im Jahr 2023 waren Frauen bei ihrer ersten Heirat im Schnitt 32,8 Jahre alt, Männer 35,3 Jahre. 1993 hatte das Durchschnittsalter bei der ersten Eheschließung für Frauen bei 26,8 Jahren und für Männer bei 29,2 Jahren gelegen. 

Zahl der Eheschließungen auf zweitniedrigstem Stand seit 1950

Die Zahl der Eheschließungen insgesamt ist langfristig rückläufig. 2023 wurden insgesamt 361 000 Ehen geschlossen, das war der zweitniedrigste Stand seit 1950. Mehr als drei Viertel (78 %) der 722 000 Eheschließenden heirateten zum ersten Mal, waren zuvor also weder geschieden noch verwitwet. Gut 97 % der Ehen schlossen Paare unterschiedlichen Geschlechts und knapp 3 % Paare gleichen Geschlechts. Nach der Einführung der Ehe für alle im Oktober 2017 gehen seit dem Berichtsjahr 2018 auch gleichgeschlechtliche Eheschließungen in die Statistik ein. 

Methodische Hinweise:

Seit dem 1. Oktober 2017 gibt es die Ehe für alle. Ab dem Berichtsjahr 2018 sind die gleichgeschlechtlichen Eheschließungen in den Eheschließungsdaten enthalten. Eingetragene Lebenspartnerschaften konnten ab dem 1. Oktober 2017 nicht mehr eingegangen werden. 

Die Bevölkerungszahlen nach dem Familienstand für das Jahr 2023 sind Ergebnisse der Bevölkerungsfortschreibung auf Basis des Zensus 2022, die Ergebnisse für das Jahr 2013 resultieren aus der Bevölkerungsfortschreibung auf Basis des Zensus 2011. (Quelle: destatis.de)

2. Februar 2025
von Tom Levold
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Zeitschriftenrückblick: Kontext 2024

 Trotz der massiven Angriffe, dem die Herausgeber des Kontext im Winter 2023/24 und danach verbandsintern in der DGSF ausgesetzt waren, sind ihnen mit dem Jahrgang 2024 wieder gelungene, vielseitige und inhaltssatte Hefte gelungen. Eröffnet wurde mit Heft 1 eine Diskussion zum Verhältnis von „Systemik“ und Systemtheorie, an der sich nach einem Aufschlag der Herausgeberin Barbara Kuchler unter dem Titel „Engel und Teufel, Heiler und Spalter: Zum Verhältnis von Systemik und Systemtheorie“ systemische Prominenz mit Stellungnahmen beteiligte: Arnold Retzer, Fritz B. Simon, Stefan Beher, Wolfgang Lutterer und Klaus Eidenschink. Interessant für alle, denen die zunehmende inhaltliche Entleerung des Begriffes „systemisch“ Sorgen bereitet. 

In Heft 2/2024 („Im System!“) feiern Sebastian Baumann und Enno Hermans den „langen Weg der Systemischen Therapie durch die Institutionen“, die daran anschließende sozialrechtliche Anerkennung – und natürlich auch ein bisschen sich selbst. Kirsten von Sydow, Rüdiger Retzlaff und Stefan Beher beschreiben die Nutzenbewertung des IQWiG für Systemische Therapie bei Kindern und Jugendlichen. Das Institut hatte auch schon die Nutzenbewertung für die Therapie von Erwachsenen vorgenommen. Retzlaff fasst in einem eigenen Artikel noch einmal seine Publikationen zur Abfassung von Psychotherapieanträgen zusammen und beharrt affirmativ auf den formalen und inhaltlichen Vorgaben der KBV bei der Antragstellung mit einer Liste, was angemessen oder „nicht angemessen“ sei. Die konstruktivistische Idee, dass man aus systemischer Sicht Regeln auch in Frage stellen könnte, hält er für einen „Kategorienfehler“: „Als Teilnehmer an einem Fußballturniers kann man sich nicht erlauben, mitten im Spiel eigene Regeln geltend zu machen und nach gusto auf Handball oder Rugby umschalten, weil es einem gerade passt“. Eine interessante Einengung der Perspektive, wenn man sich mal die Regelentwicklung im Fußball in den vergangenen Jahrzehnten anschaut, die offenbar nicht zu einer völlig anderen Sportart mutiert ist. Außerdem ginge es bei einem kritischen Blick auf die Vorgaben der KBV wohl kaum um die Frage der individuellen Einhaltung, sondern eher um die politische Gestaltung von Richtlinien, zu der aus systemischer Sicht auch das eine oder andere beizutragen wäre. Die Gastherausgeber befragen dann in einem ausführlichen Interview Friderike Degenhardt und Hans Lieb zum Thema Systemische Therapie und Kassenleistung, in dem es sehr viel um die Approbationsausbildung geht und die Schwierigkeiten der damit verbundenen Transformation individualtherapeutischen Denkens in eine systemische Perspektive, was sich auch der Tatsache verdankt, dass es an qualifizierten approbierten systemischen Supervisoren fehlt. Hinzu kommt, dass das Mehrpersonensetting unter den gegebenen Bedingungen keine besonders großen Chancen zu haben scheint, zum festen Bestandteil der Kassenpsychotherapie zu werden. 

Heft 3 versammelt ohne Themenschwerpunkt theoretische und praktische Beiträge und veröffentlicht dann eine Reihe von Antworten auf die Frage der Herausgeber „Was emotionalisiert uns an der Genderdebatte? Wie kommt es, dass Diskussionen zum Geschlechterthema so viel Unmut erzeugen und Menschen so schnell auf die Palme bringen? Wie kommt es, dass, sobald das Thema angesprochen wird, der Blutdruck der Beteiligten und der Emotionsdruck der Kommunikation steigt, Dinge als unverhandelbar gesehen werden und sonst langweilige Gremiensitzungen zu emotional aufgeladenen Debatten mutieren?“ Geantwortet haben Louise Frosio, Marion Siems, Katharina Vollrath, Anja Möschler, Lea Tegenkamp, René Zimmermann sowie in einem gemeinsamen Text Arist von Schlippe und Tom Levold.

Schließlich schließt das Heft 4/2024 an früher erschienene Kasuistikhefte des Kontext an, allerdings geht es dieses Mal nicht um Therapiefälle, sondern um besondere Konstellationen in Supervisionen. Das von Tom Levold und Michael Scherf herausgegebene Heft zeigt die Spannweite von unterschiedlichen Settings (von Kita über Online-Beratung, Musiker-Coaching, Gastronomiebetrieb bis hin zu einem Einsatz bei der Seawatch 3) und Problemlagen, die eben nicht im Sinne eines Supervisionsmanuals gemeistert werden können. Beigetragen haben dazu Sabine Bertram, Ulrike Borst, Gunda Busley, Stefan Busse, Birgit Dissertori und Thomas Hegemann, Peter Ebel, Emily Engelhardt, Hartmut Epple, Michaela Jäger und Uta-Barbara Vogel.

Alle bibliografischen Angaben und abstracts zu den Heften finden Sie hier…

24. Januar 2025
von Tom Levold
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Haja Molter wird 80!

Haja Molter (Foto: Tom Levold)

Heute wird Haja Molter 80 Jahre alt und systemagazin gratuliert von Herzen. Schon zum 70. und 75. Geburtstag ist er an dieser Stelle (hier und hier) von Vielen gewürdigt worden. Mit 80 kann er nun auf einen langen Lebensweg zurückblicken, auf dem er viele Menschen an unterschiedlichen Orten durch seine Begleitung als Therapeut, Supervisor, Coach und Berater in Bewegung bringen könnte. Bewegung war dabei immer ein zentrales Thema für ihn, und das nicht nur im übertragenen Sinne, sondern im Sinne ganz unmittelbar körperlicher Bewegung im Raum.

Darüber hat er in der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung 2021 einen Artikel veröffentlicht, in dem er die Rolle der Bewegung in der systemischen Therapie und Beratung als Motor von Veränderung reflektiert. Als psychologisch wie philosophisch ausgebildeter Mensch verortet er die Wurzeln dieser Idee bei den Peripatetikern, also bei den Schülern des Aristoteles. Ihr Name leitet sich vom Peripatos ab, der Wandelhalle der aristotelischen Akademie, in der im Umhergehen philosophiert wurde. Diese philosophischen Quellen verknüpft er auf aufschlussreiche und anregende Weise mit literarischen Beispielen und neueren Erkenntnissen der Phänomenologie, Hirn- und Embodimentforschung und zeigt auf, wie die peripatetische Methode  die Sinneswahrnehmung in Bewegung betont und in der Lage ist, geistige und körperliche Aktivitäten zu integrieren. Sie ist eine Form des bewegten und diskursiven Lernens, die in Therapie und Beratung genutzt werden kann. 2023 ist der Artikel in der Zeitschrift systhema nachgedruckt worden und kann hier gelesen werden. Eine ganz praktische Anwendung der Bewegung im Raum hat Haja Molter übrigens gemeinsam mit seiner langjährigen Praxispartnerin Karin Nöcker für das Coaching-Magazin entwickelt: „Das Raummodell als Landkarte für Coaching-Prozesse“

Lieber Haja, du bist viele längere und kürzere Wege in deinem bisherigen Leben – mit den verschiedensten Weggefährten – gegangen und hast immer etwas davon mitgebracht, was neue Wege für dich eröffnet hat und anderen neue Wegmöglichkeiten aufzeigen konnte. Dein Profil als Lehrer, Beobachter und Veränderungsbegleiter im systemischen Feld war immer ein ganz besonderes, wofür dir ein besonderer Dank gebührt. Dass du auch im Alter noch so interessante und lehrreiche wie genussvolle Wege gehen und die dafür notwendige Gesundheit noch lange erhalten kannst, wünsche ich dir von Herzen! 

21. Januar 2025
von Tom Levold
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Agiles Arbeiten und Gruppendynamik

In einem sehr interessanten und anregenden Expertengespräch, dass 2023 in der Zeitschrift Gruppe. Interaktion. Organisation erschienen ist (Gr Interakt Org 54, 445–453 (2023)), geht es u.a. um die Fragen „Gibt es die agile Transformation überhaupt oder ist das nur so ein LinkedIn-Berater-Hype?“ und für welche Organisationsformen ist Agiles Arbeiten überhaupt geeignet und für welche eher nicht.

Im abstract heißt es: „In dem vorliegenden Expertengespräch in der Zeitschrift Gruppe – Interaktion – Organisation (GIO) befassen sich Thomas Bachmann, Oliver König, Roswita Königswieser, Karl Schattenhofer und Fritz B. Simon mit der Rolle von Gruppendynamik bei der Agilen Transformation. Zunächst werden Agilität und New Work als aktuelle Phänomene diskutiert und eingeordnet. Dabei wird die Abgrenzung zu schon bekannten Konzepten und Modetrends thematisiert. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird untersucht, welche Rolle Konzepte der Gruppendynamik zum Verständnis von New Work und Agilität beitragen können und inwieweit Gruppendynamiktrainings für Personen im agilen Kontext einen Kompetenzgewinn ermöglichen“.

Der vollständige Text ist online als Open Access erschienen und kann hier heruntergeladen werden.

7. Januar 2025
von Tom Levold
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Gisal Wnuk-Gette wird 85!

Gisal Wnuk-Gette 2023 (Foto: Tom Levold)

Heute feiert Gisal Wnuk-Gette ihren 85. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Über ihr Leben und Wirken gab es schon zu den vergangenen runden Geburtstagen einiges im systemagazin zu lesen. An anderer Stelle ist zu ihrem 80. Geburtstag im Kontext (1/2020) eine schöne Würdigung von den früheren Vorsitzenden der DGSF Wilhelm Rotthaus, Jochen Schweitzer und Enno Hermans erschienen, die hier nachgelesen werden kann.

Ihr beruflicher Lebensweg ist beeindruckend. Schon Ende der 1970er Jahre gründete sie mit ihrem Mann Werner Wnuk das Weiterbildungs-Institut Wenger Mühle Centrum, in dem sie bis 2023 Weiterbildungen in Systemische Beratung, Paar- und Familientherapie, Kinder- und Jugendlichentherapie sowie Supervision und Coaching angeboten hat. Ein großartiges Modellprojekt wurde 1985 in Zusammenarbeit mit dem Sozialdezernenten des badischen Ortenaukreises (Offenburg) ins Leben gerufen, das einen Zugang zu familientherapeutischen Hilfen für Familien schuf, die von den Sozialen Diensten des Kreises betreut wurden. In einem Artikel für die „System Familie“ von 1997, den sie mit Werner Wnuk verfasst hat, wird dieses Modell systemisch-integrativer Therapie- und Beratung mit den relevanten Interventionsinstrumentarien vorgestellt und die Notwendigkeit weiblich-männlicher Kotherapie begründet. Dieser Artikel ist in der systemischen Bibliothek im systemagazin hier zu lesen.

2023 hat sie ihren Abschied aus der aktiven Arbeit im systemischen Feld, das sie über viele Jahrzehnte auch als Verbandsgründerin und -vertreterin ganz wesentlich mitgestaltet hat, mit einer schönen Tagung in Bad Waldsee mit vielen Freunden und Weggefährtinnen und -gefährten gefeiert. Es war auch hier wunderbar zu sehen, wie eng ihre professionellen Leidenschaften schon immer mit ihrer großzügigen Gastfreundschaft und ihrer Fürsorge für andere Menschen verbunden sind, was in der familiären Atmosphäre unter den Tagungsteilnehmern eindrücklich widerspiegelte. Diese Erfahrungen prägten auch unsere erste persönliche Begegnung, als wir zusammen an der Organisation der Europäischen Tagung für Systemische Therapie 2004 in Berlin beteiligt waren. Daran denke ich immer gerne zurück!

Liebe Gisal, alles Gute für das neue Lebensjahr, vor allem Gesundheit und Glück – und ebenso entspannte wie anregende Erlebnisse und Begegnungen. Es ist schön, dich weiter bei uns und uns mit dir verbunden zu wissen.

24. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 24. Tom Levold

Skepsis und Historische Zuversicht

In der Einladung zum diesjährigen systemagazin-Adventskalender schrieb ich, dass systemische Ideen für gute und bekömmliche (also friedliche und nachhaltige) Lösungen in unseren unsicheren und wenig Zuversicht vermittelnden geo- und klimapolitischen Zeiten offensichtlich keine großen Realisierungschancen haben. Vor diesem Hintergrund stellte sich mir die Frage, was uns denn überhaupt noch Zuversicht – im Großen wie im Kleinen – geben könnte. Über die vielen Geschichten und Gedanken hierzu habe ich mich gefreut und möchte mich an dieser Stelle schon einmal herzlich dafür bedanken. Gestern hat z.B. Tom Hansmann in seinem Kalendertext von der Hoffnung als „Gewissheit, dass etwas Sinn hat“ geschrieben.

Was mich persönlich betrifft, so bin ich wie viele andere Menschen in Deutschland mit meinem Leben sehr zufrieden und auch zuversichtlich, dass das so bleiben kann. Wie neuere Umfragen gezeigt haben, sind nur wenige Menschen in Deutschland mit ihrer persönlichen Lage „nicht sehr zufrieden“ und kaum jemand ist „überhaupt nicht zufrieden“ (Statista 2024). In Hinblick auf die politische Lage des Landes und der Welt und die politischen Katastrophen, die mit dem aufsteigenden Faschismus und Autoritarismus, mit dem mangelnden politischen Willen zur Überwindung der Klimakrise und den zunehmenden kriegerischen Auseinandersetzungen weltweit zu erwarten sind, sehen die individuellen Einschätzungen dagegen deutlich anders aus.

So ist es auch bei mir. Wenn ich an die Zukunft unserer Kinder und Enkel denke, überkommt mich oft tiefer Pessimismus, verbunden mit der Überzeugung, dass ich mich nicht durch solche Gefühle verführen lassen darf, jede Zuversicht fahren zu lassen. Aber wie kann das gehen?

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23. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 23. Tom Hansmann

„Trotzdem“ oder: Ein kurzer Versuch über die Hoffnung

Aktuell wird allerorten diagnostiziert, dass sich moderne Gesellschaften im Zeitalter der Polykrise befinden: Klimawandel, Corona, Krieg in der Ukraine, Geldentwertung, der Aufstieg des Populismus – es kann der Eindruck entstehen, dass nur mehr ein „muddling through“ möglich ist und es in Zukunft vielleicht bloß ums schiere Überleben geht – dass eine Erschöpfungsgesellschaft vorliegt, die zunehmend zur Überlebensgesellschaft verkümmert.

Und ja, die Befunde sind nicht erfreulich: Das Krisenhafte ist der modernen Gesellschaft selbst eingeschrieben. Recht neu ist jedoch die zunehmende Visibiliserungserfahrung, dass nämlich bisherige „Selbstverständlichkeiten“ (etwa Grund- und Freiheitsrechte, mehr Wohlstand für nachfolgende Generationen, eine intakte und berechenbare Umwelt, usw.) ja gar nicht selbstverständlich sind (sie waren es auch nie) und somit Verletzlichkeit erlebbar wird. Vulnerabilität nämlich, das Erleben, dass all das mittlerweile Vorausgesetzte „auf tönernen Füßen“ steht, führt zunächst zu einem Unbehagen (Armin Nassehi, *1960), dann vermehrt zu Angst, Verzweiflung und Depression.

Angst vereinzelt und setzt Gleiches fort

Martin Heidegger (1889-1976) schreibt, dass die Angst dort entsteht, wo das Gebäude vertrauter alltäglicher Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster – in dem wir uns bereitwillig und immer fragloser eingerichtet haben – einstürzt und einem „Un-zuhause“ weicht. Nach Heidegger ist die Angst die Grundstimmung, welche die menschliche Existenz erschließt, womit er sich für die Vereinzelung des Menschen entscheidet. Diese Vereinzelung wird heutzutage durch die sogenannten „Sozialen Medien“ noch verschärft, denn diese bauen das Soziale mehr und mehr ab.

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22. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 22. Lisa Reelsen

Am 11.11. saß ich zum beratenden Schulbesuch einer Referendarin im Klassenzimmer einer 2. Klasse. Die Referendarin las den Schüler_innen aus einem Bilderbuch vor, in dem ein Bär durch ein Fenster stieg, um auf den Marktplatz zu gehen, wo sich schon viele Kinder mit Laterne eingefunden hatten. Auf die Frage, worauf sie wohl warteten, kam von mehreren Seiten die erwartete Antwort: „Auf Sankt Martin, der auf einem Pferd kommt.“ Die Schüler_innen bekamen anschließend die Aufgabe, den vorgelesenen Text nun weiterzuschreiben. Viele waren zunächst beobachtbar überfordert, doch ein Junge schrieb gleich los. Er streckte auch zum Schluss des Unterrichts ganz eifrig seine Hand und wollte unbedingt vorlesen. Die Referendarin bat ihn, nach vorn zu kommen, und er las vor: 

„Dann kam Sankt Martin auf einem Pferd auf den Marktplatz. Das Pferd rutschte auf einer Bananenschale aus, Sankt Martin flog im hohen Bogen runter und fiel direkt neben den Bettler. Der drehte sich zu ihm und sagte: „Na, auch Pech im Leben gehabt?“

Ich selbst musste sofort lachen, die Referendarin war sprachlos, die Klasse reagierte irritiert bis amüsiert. Die Mentorin ärgerte sich über das „provozierende Verhalten“.

Über Textqualität entscheidet der Text plus die Erwartungen von Leser_innen an den Text. 

Der andere und völlig unerwartete Blick eines Siebenjährigen, der einen kreativen Text schreibt, hat doch was überraschend Irritierendes und Amüsantes.

Ich hätte den Jungen gerne gefragt, wie er auf die Idee gekommen ist. Vielleicht hätte er gesagt: „Weil ich die Klasse zum Lachen bringen wollte.“ (klar definiertes und adressatenbezogenes Schreibziel, wie es sogar im Bildungsplan verankert ist) 

Diese Chance blieb vertan wie auch die, näher auf den Textinhalt einzugehen. Vermutlich hätte er auch was ganz überraschend anderes geantwortet. Vielleicht tragen im Unterricht interessante Fragen immer dann zur Qualität des Unterrichts bei, wenn auch die Lehrkräfte auf die gestellten Fragen noch keine Antwort wissen? 

21. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 21. Lina Nagel

Wenig Zuversicht vermittelnde Zeiten

In der Einladung zum diesjährigen systemagazin Adventskalender hat mich besonders der Hinweis auf die wenig Zuversicht vermittelnden Zeiten angesprochen. Ich halte im kommenden Jahr einen Vortrag auf einer Konferenz zum Thema „Zuversicht und Zumutung“ am IF Weinheim. Den Titel finde ich extrem passend für unsere Zeit, denn sie scheint mir voller Zumutungen zu sein und diese laden nicht grad zur Zuversicht ein. 

Auch in Konflikten wird das Gegenüber ja schnell als Zumutung empfunden. Anhand kybernetischer Theorie kann jedoch auch die eigene Rolle daran klar werden: Wir tragen mit unserer Art, das Geschehen zu interpunktieren, und unseren verinnerlichten, oftmals unbewussten Mustern und Strategien selbst dazu bei, dass das Gegenüber sich gar zunehmend so verhält, wie wir es eigentlich nicht möchten. Wir bestärken das, was wir zu verhindern versuchen. Verrückt! Wenn auch nachvollziehbar – und leider oftmals unbewusst.

Wie kann dann damit umgegangen werden? Darauf gibt es zwar keine pauschale Antwort, aber deshalb nicht minder Möglichkeiten: So sind das Wissen um systemische Dynamiken, die Offenheit dafür, etwas Neues auszuprobieren, die Flexibilität im eigenen Verhalten, die Reflexion von dem, was war und über das, was wir wollen, nur einige Ansatzmöglichkeiten, um einen Unterschied zu machen, der die Dynamik verändern kann – oder um einen ersten Schritt in Richtung des Umgangs mit einer Zumutung zu gehen, die dann zur Herausforderung wird. 

Die damit einhergehende Handlungsfähigkeit oder auch nur die Hoffnung auf diese schafft Zuversicht, da sie neue Türen öffnet. Wir wissen vielleicht noch nicht, wohin diese genau führen werden, aber sie sind da, wenn wir sie öffnen. Das bedeutet auch Freiheit – und zwar keine, die alleine steht, sondern eine, die Verantwortung einbezieht, denn es ist liegt an uns, ob und welche Tür wir wählen. 

Für mich ist das das Hoffnungsvolle trotz dieser Zeit und besonders hoffnungsvoll, da es für jede Zeit gilt. Es ist unsere Entscheidung, ob wir uns grämen, beschweren und entlasten oder ob wir uns Umgangsweisen überlegen, nach Lösungen suchen und aktiv werden – Dabei scheint mir Ersteres nicht per se schlecht und Letzteres nicht per se hilfreich, aber es scheint mir wichtig, beides klar zu unterscheiden, bewusst zu wählen und sich vor allem bewusst darüber zu sein, dass Ersteres nicht die einzige Option ist. Es liegt an uns mit den Herausforderungen umzugehen, das ist unsere Freiheit und Verantwortung – insbesondere in unzumutbaren Zeiten.

Lina Nagel, Witten/Herdecke

20. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 20. Andreas Wahlster

Anerkennen, was war 

Ich bin Jahrgang 1954, meine Eltern haben beide den 2. Weltkrieg als Jugendliche bzw. junge Erwachsene durchlebt.

Zusammen mit meiner Frau nahm ich Anfang November in unserem Wohnort an einer Veranstaltung anlässlich der Verlegung von fünf Stolpersteinen statt. Wir durften eine Überlebende der Deportation im Oktober 1940 und ihre Familie kennenlernen, die alte Dame war so würdevoll und dem Leben zugewandt, keinen Groll gegen uns hegend. Zwei Wochen später fuhren wir nach Krakau und Lodz. Wir konnten in Krakau an einer eindrucksvollen wie auch erschütternden Stadtführung durch das jüdische Viertel und das Getto teilnehmen und geradezu leibhaftig spüren, wie brutal und gnadenlos penibel die Ermordung von mindestens 15.000 Jüdinnen und Juden durch Wehrmacht, SS und SA vollstreckt wurde. Dachte ich bis dahin, ich hätte mich intensiv mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, wurde mir spätestens hier bewusst, dass dem mitnichten so ist. 

Am nächsten Tag Besuch im Schindlermuseum in Krakau. Mit Worten beschreiben zu wollen, was ich gefühlt, gedacht habe, kann nur unzulänglich gelingen. Ein Gehen durch das Grauen, der Impuls, sich distanzieren zu wollen, meldete sich permanent. Ich brauchte Pausen, um mit allen Sinnen präsent bleiben zu können. 

Auf der Rückfahrt stundenlange Gespräche über unsere Familien, jetzt jedoch anders. Als wäre ich dichter dran an deren Erleben damals. Mein Vater, der als Zwanzigjähriger eine Kompanie führte und nach tagelangen Kämpfen an der Front auf der Krim informiert wurde, dass Soldaten seiner Kompanie sich soeben an russischen Rebellen gerächt und diese am nächsten Baum erhängt haben. Erst im hohen Alter konnte er darüber sprechen mit erstarrtem Gesicht voller Schuld, diese Gräueltaten nicht verhindert zu haben.

Ein Großvater kaufte zu Beginn des Krieges eine Konservenfabrik aus ehemals jüdischem Besitz, mit seiner Familie zog er in das Haus der Unternehmer-Familie. Mein Vater zeigte meinem Bruder und mir das Haus bei einem Besuch dort vor ca. 15 Jahren. Wir haben damals über Vieles gesprochen, nur nicht darüber. 

Vom anderen Großvater wissen wir durch Erzählungen seiner Kinder, dass er Offizier in beiden Weltkriegen war und in den letzten Kriegstagen in Schwerin Soldaten davor bewahrte, nochmal an die Front zu müssen, indem er sie im Lazarett durch seine beiden ältesten Töchter (eine davon meine Mutter) mit Mullbinden einwickeln ließ, so dass sie so aussahen, als seien sie nicht einsatzfähig. 

Beide Geschichten gehören zu meiner Familie und damit auch zu mir. Ich wünsche mir von mir, dass es mir hinlänglich gelingen möge, friedvoll und ggf. kämpferisch für Menschlichkeit und Respekt einzutreten. Das habe ich in meiner Familie auch gelernt.

19. Dezember 2024
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2024 – 19. Regina Riedel

„Die Zukunft war früher auch besser“ Karl Valentin

Wer hätte gedacht, dass dieser Spruch einmal so viel an Witz verlieren würde? Ich bin versucht,  zu sagen: Genau, schreckliche Aussichten diesen Zeitenmit Kriegen und Rechtsruck allerorten!

Aber müssen wir uns nicht gerade jetzt der Frage stellen: Was können wir heute tun, um nicht (einmal mehr in Deutschland) in Zukunft mit Schuld und Scham auf die Vergangenheit blicken zu müssen?

Diese Frage bewegt mich und auch mein kleiner Einflussbereich  angesichts der Größe der Herausforderung. Wie kann es gelingen, nicht zu resignieren und die kleinen Schritte, die uns jeweils individuell möglich sind, dennoch als eine Bewegung wahrzunehmen mit der Hoffnung, voranzukommen?

Ich erinnere mich an ein Buch aus Jugendtagen und an Beppo Strassenkehrer, den einfachen alten Freund von Momo, der dazu folgendes sagt:

„Es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Strasse vor sich. Die ist so schrecklich lang, das kann man niemals schaffen denkt man. (…) Und dann fängt man an sich zu beeilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, das es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die ganze Straße liegt noch vor einem. So darf man es nicht machen. (…) Man darf nie an die ganze Strasse auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.(..) Auf einmal merkt man, dass man die ganze Strasse gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie und man ist nicht außer Puste.“

In diese Sinne: Schritt- Atemzug – Besenstrich – und fast unbemerkt kommen wir voran. Das ist meine Hoffnung!

Regina Riedel, Berlin