Im geplanten Jahressteuergesetz 2024 war ein Wegfall der Umsatzsteuer für den Bereich der Weiterbildung geplant, der viele Menschen und Einrichtungen in diesem Bereich vor gravierende Probleme gestellt hätte. Auch das systemische Feld wäre davon hart betroffen gewesen.
Ab dem 1.1.2025 gilt die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 21 Buchst. a UStG für „die unmittelbar dem Schul- und Bildungszweck dienenden Leistungen von Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die mit solchen Aufgaben betraut sind, privaten Schulen und anderen allgemeinbildenden oder berufsbildenden Einrichtungen“. Auch das bisherige Bescheinigungsverfahren bleibt erhalten, bei dem die zuständige Landesbehörde bescheinigen muss, dass die o.g. Einrichtungen Schulunterricht, Hochschulunterricht, Ausbildung, Fortbildung oder berufliche Umschulung erbringen.
Steuerbefreit ist außerdem „Schul- und Hochschulunterricht, der von Privatlehrern erteilt wird“. Der Begriff des Privatlehrers umfasst nur natürliche Personen.
Zudem wird der Umfang der begünstigten Leistungen erweitert: Während bislang „Leistungen, die auf einen Beruf oder eine vor einer juristischen Person des öffentlichen Rechts abzulegende Prüfung ordnungsgemäß vorbereiten“ befreit waren, wird dies nun auf „Schul- und Hochschulunterricht, Aus- und Fortbildung sowie berufliche Umschulung und damit eng verbundene Lieferungen und sonstige Leistungen“ ausgedehnt. Die bisherigen umsatzsteuerfreien Leistungen bleiben damit auch in Zukunft unverändert umsatzsteuerfrei.
Silvan Strub ist ein Schweizer Sozialpädagoge mit Zusatzausbildungen in hypnosystemischer Beratung und Systemischer Supervision. 2024 bekam er den Systemischen Forschungspreis von SG und DGSF für seine Masterarbeit über das „synergetische Prozessmanagement und die generischen Prinzipien als Rahmenmodell für Klasseninterventionen in der Schulsozialarbeit“, mit der er sein Studium der Systemisch-lösungsorientierten Kurzzeitberatung an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHWN im Jahre 2023 absolviert hatte.
Im Abstract seiner Arbeit heißt es: „Klasseninterventionen gehören in der Schulsozialarbeit zu den Grundaufgaben und werden in der Regel bei Konflikten, disziplinarischen Problemen oder einem ungünstigen Klassenklima angewandt. In der praktischen Umsetzung stossen Schulsozialarbeitende jedoch auf wiederkehrende Herausforderungen. So kann die Orientierung im Hilfeprozess in einem komplexen und dynamischen System wie einer Schulklasse, anspruchsvoll sein. Zudem sind Methoden und Interventionen für die Arbeit mit Klassen entweder sehr offen (Methodensammlung) oder aber stark strukturiert. Letztere geben zwar klare Orientierung, sind dafür nicht genau auf die Klassensituation angepasst. Die offenen Arbeitsmittel lassen sich sehr flexibel einsetzen. Dafür besteht die Gefahr, sich im Prozess zu verlieren, da kein klarer Interventionsrahmen vorgegeben ist. Diese Schwierigkeiten verdeutlichen die Notwendigkeit einer besseren Orientierung in Bezug auf Methoden und Möglichkeiten, um komplexe Dynamiken im Beratungsprozess zu nutzen. In diesem Kontext bietet das Konzept der Synergetik als Lehre der Selbstorganisation vielversprechende Ansätze für Klasseninterventionen. Das synergetische Prozessmanagement mit den generischen Prinzipien ist in der Psychotherapie bereits etabliert und erforscht und bietet einen metatheoretischen Rahmen zur Auswahl und Begründung therapeutischer Methoden, unabhängig von der therapeutischen Ausrichtung. Diese MAS Thesis geht der Frage nach, wie das synergetische Prozessmanagement mit den generischen Prinzipien als Bezugsrahmen für Klasseninterventionen genutzt werden kann. Dazu bietet sie einen Überblick über die Theorie der Synergetik in der Beratung und Therapie. Die Ebenen des synergetischen Prozessmanagements werden Schritt für Schritt auf den Kontext der Schulsozialarbeit angepasst und durch bereichsspezifisches Wissen, Orientierungs- und Handlungswissen angereichert. Im Zentrum stehen die generischen Prinzipien, welche einen Transfer von der Theorie in die Praxis ermöglichen. Diese werden exemplarisch mit Methoden aus der Praxis verknüpft. Die MAS Thesis zeigt auf, dass eine praxisbezogene Adaption des synergetischen Prozessmanagements auf den Kontext von Klasseninterventionen eine fundierte Grundlage zur Planung und Evaluation von beraterischem Handeln und Interventionen in Schulklassen bietet. Dieser Bezugsrahmen ermöglicht Schulsozialarbeitenden, sich in komplexen Situationen zu orientieren und die Methoden aus ihrem individuellen Repertoire gezielt auszuwählen.“
Genaueres über die Auswahl und Begründung der Preisvergabe ist auf den Webseiten der Verbände noch nicht zu lesen, aber es gibt im neuesten Newsletter der SG einen Link zu einem kurzen Interview mit Silvan Strub.
Ursprünglich bedeutete das lateinische Wort „Advent“ (bzw. griechisch „Epiphaneia“: Erscheinung) die Ankunft, Anwesenheit bzw. der Besuch eines Amtsträgers, insbesondere die Ankunft von Königen oder Kaisern. Im Christentum wurde dann ab dem vierten Jahrhundert der Begriff auf die Ankunft bzw. die Erwartung der Wiederkunft Jesu Christi bezogen. Wie man am öffentlichen Rummel der Adventszeit sehen kann, ist der historische und religiöse Ursprung des Begriffs zumindest hierzulande für die meisten Menschen nicht mehr von großer Bedeutung. Gleichwohl ist der Aspekt der freudigen, wenngleich maximal kommerzialisierten Erwartung der kommenden Feiertage für die anstehenden Wochen ebenso prägend wie die Wünsche nach Zeit für eine Besinnung auf wesentliche Fragen unseres Lebens uns unserer Existenz.
Welche Art der „Ankunft“ und „Erscheinung“ erwartet uns in der kommenden Zeit? Die eines „Erlösers“ wohl sicher nicht. Die Riege der Amtsträger, deren Ankunft man freudig entgegen blickt, ist übersichtlich. Die Wahlergebnisse in den USA hatte ich erwartet, wenngleich nicht in dieser Höhe. Angesichts der Tatsache, dass sich weltweit faschistische und autoritative Kräfte immer mehr auch in den (mehr oder weniger) demokratischen Ländern breit machen und viele zivilgesellschaftlichen Errungenschaften unter diesem Druck (von außen wie von innen) immer weiter geschleift werden, überfielen mich eher dystopische als zuversichtliche oder erwartungsfreudige Gedanken. Einer der ersten war, dass es dieses Mal vielleicht keinen Adventskalender im systemagazin geben sollte, weil sich das für mich nicht passend zur Zeit anfühlte.
Aber wahrscheinlich ist es gerade in solch unsicheren und wenig Zuversicht vermittelnden Zeiten wichtig, Traditionen und Rituale aufrechtzuerhalten, die ein Gefühl des Miteinander trotz aller Differenzen herstellen können. Auch wenn sich systemische Ideen für gute und bekömmliche (also friedliche und nachhaltige) Lösungen offensichtlich in der aktuellen globalen geopolitischen Situation nicht durchsetzen, lohnt es sich dennoch, uns mit ihrer Hilfe weiter für die Entwicklung besserer Bedingungen für das Leben auf unserer Erde einzusetzen, in welchem Maßstab auch immer.
Deshalb möchte ich auch in diesem Jahr wieder einen systemagazin-Adventskalender mit Ihren Beiträgen gestalten und Sie herzlich zur Mitwirkung einladen.
Ein besonderes „Thema“ für den Adventskalender hat sich für mich allerdings bislang nicht ergeben. Stattdessen fiel mir meine Einladung zum Kalender von 2015 wieder ein, die mir ganz gut auch für diese Adventszeit zu passen scheint, und die ich deshalb hier erneut ausspreche:
Unter dem Motto „Open Doors“ können Sie alles hinter ein Kalendertürchen legen, was Sie gerne mit der systemischen Community teilen möchten: Eine persönliche Geschichte oder Begegnung, die uns als Systemiker zu denken geben kann, Beobachtungen oder Einschätzungen zu gesellschaftlichen, politischen oder fachlichen Themen, mit denen sich unsere Gesellschaft, aber vor allem auch das Systemische Feld auseinandersetzen sollte, Konzepte und Modelle, die Sie für sich als nützlich entdeckt haben und einem größeren Kreis zugänglich machen wollen oder einfach ein paar Zeilen, was es für Sie bedeutet, sich als SystemikerIn zu verstehen und wie sich das auf Ihr Leben und Ihre Arbeit auswirkt.
Was auch immer, den vielfältigen Möglichkeiten von Inhalt und Form sind keine Grenzen gesetzt – je bunter der Kalender dadurch wird, desto besser. Vielleicht finden Sie ja in den kommenden Novemberwochen einen Moment der Ruhe für einen kürzeren oder auch längeren Text oder eine andere Mitteilungsform, die zum Format des Adventskalenders passen.
Ich freue mich über Ihre Einsendungen an levold@systemagazin.com und bin gespannt auf das Ergebnis.
Die Systemische Gesellschaft vergibt alle zwei Jahre einen Praxispreis für ein herausragendes oder innovatives aktuelles Projekt, das die praktische Umsetzung der Grundsätze systemischen Denkens und Handelns in einem spezifischen Arbeitsfeld zum Ziel hat. Über die Vergabe des Preises entscheidet eine Jury. Mit dem Praxispreis leistet die Systemische Gesellschaft einen Beitrag, den systemischen Ansatz interdisziplinär weiter zu entwickeln und dieses Anliegen fachöffentlich und gesellschaftspolitisch zu fördern. Um den Preis können sich Praxisprojekte in öffentlicher oder privater Trägerschaft bewerben, die systemische Vorgehensweisen in Bereichen wie z.B. Arbeiten, Wohnen, Bauen, Bildung, Ernährung, Erziehung, Internationalisierung, Klimaschutz, Recht etc. implementieren und anwenden. Dabei sollten die systemische Haltung und die Nachhaltigkeit des systemischen Ansatzes im Sinne von „next practice“ (zukunftsorientiert) und „best practice“ aufgezeigt werden. Publikationen und wissenschaftliche Arbeiten über systemische Praxis sind nicht Gegenstand des Praxispreises. Erfüllt keine der eingereichten Bewerbungen die Kriterien zur Vergabe des Praxispreises in überzeugender Weise, wird der Preis im betreffenden Jahr nicht vergeben. Das Preisgeld beträgt bis zu 1.500,- Euro, kann auf 1 bis 3 Preisträger verteilt werden und soll unmittelbar für die Zwecke des prämierten Projektes verwandt werden. Die SG veröffentlicht die Vergabe des Preises und unterstützt das Projekt bei der Bekanntmachung des Praxispreises.
Bewerbungen für den Praxispreis sollten in Form einer Kurzbeschreibung sowie einer schriftlichen Konzeption von maximal 20 Seiten (andere Formen können akzeptiert werden; z.B. auditiv, kreativ etc.) eingereicht werden.
Die Preisverleihung findet im Rahmen der Mitgliederversammlung am 13.06.2025 in Weinheim statt, die Preisträger_in/Preisträger_innen werden zwei Wochen vorher benachrichtigt.
In Heft 1/2024 der Open Access-Zeitschrift Psychotherapie-Wissenschaft gibt es einen Artikel von Kurt Greiner, seines Zeichens Professor für Psychotherapiewissenschaft an der Siegmund-Freud-Universität Wien, in dem er sich mit den unterschiedlichen natur- bzw. geisteswissenschaftlichen Geltungsansprüchen der Psychotherapie (am Beispiel der Psychoanalyse) auseinandersetzt. Der Text ist mit „Psychotherapie als Textmedizin. Versuch über ein allgemeines Funktionsparadigma“ übertitelt. Seinem eigenen Verständnis von Psychotherapie liegt nämlich „die Prämisse zugrunde, dass der psychotherapeutische Gegenstand «subjektives Erleben» ist, das sich sowohl in verbalem als auch nonverbalem «Text» artikuliert, der wiederum verstanden werden will“. In dieser Perspektive versteht er „Psychotherapie als Textmedizin“: „Damit gewinnen wir Psychisches auch als wissenschaftliches Objekt. Denn als Objekt, auf das wir uns wissenschaftlich-forschend, d. h. methodisch-systematisch beziehen können, ist Psychisches stets Text. Was sich mit Dilthey als «Formen und Gestalten des Ausdrucks» bezeichnen lässt, das nennen wir schlicht Text und meinen damit sämtliche mehr oder weniger komplex strukturierten Sinngebilde, Mitteilungsfiguren, Objektivationen aller Art, die in verbaler, aber auch nonverbaler Form, d. h. mimisch, gestisch, ikonisch etc. in Erscheinung treten können. In diesem Sinne kann sich psychologisches Verstehen zwar nicht direkt auf das subjektive Erleben richten, dafür aber auf den Ausdrucks-Text, in dem sich ebendieses zur Sprache bringt“ (S. 14).
In Heft 2 derselben Zeitschrift gibt es eine Replik von Jürgen Kriz zu lesen, in der dieser die implizierte Medizinmetapher kritisch aufgreift und seinerseits die Frage der Bedeutung unterschiedlicher Wissenschaftskulturen für die psychotherapeutische Praxis aufgreift. Im Abstract schreibt er: „In dieser Replik auf einen Beitrag von Kurt Greiner über «Psychotherapie als Textmedizin» werden zwei Aspekte zur Diskussion gestellt. Zum einen geht es um die Frage, ob in den gegenwärtigen Entwicklungen der Psychotherapie, die stark von einem medizinisch-technischen Weltbild dominiert wird, die durch die beiden Wortbestandteile «Text» und «Medizin» diese – auch von Greiner kritisierte – Sicht nicht noch verstärkt wird und diese beiden Begriffe daher eher unglücklich gewählt sind (auch wenn sie von Greiner anders interpretiert werden). Damit verbunden ist die Frage, ob nicht stärker unterschieden werden muss zwischen (a) Psychotherapie als Gegenstand der Wissenschaft – die damit im Bereich von kulturell-objektiven Symbolsystemen angesiedelt ist – und (b) Psychotherapie als beziehungsgestaltendes Handeln – das zunächst einmal oder zumindest auch den Fokus auf leiblich-vorsprachliche Erfahrung zu richten hat. Der zweite Aspekt, der zur Diskussion gestellt wird, ist das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Wissenschaftskulturen. Der von Greiner vorgenommene Gegensatz von Geistes- und Naturwissenschaft wird zwar methodisch geteilt, inhaltlich aber infrage gestellt, da auch die Gegenstände und Prinzipien der von den Naturwissenschaften behandelten Phänomene letztlich Schöpfungen des menschlichen Geistes sind, wie dies bspw. im Pauli-Jung-Dialog betont wurde.“
In diesen Texten geht es um eine ebenso alte wie immer noch grundlegende Debatte, die auch in Zukunft weiter gehen dürfte. Die Lektüre ist zu empfehlen!
Heute feiert Luc Ciompi seinen 95. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Bereits zu seinem 90. Geburtstag haben sich im systemagazin zahlreiche Gratulanten eingefunden, um ihm Glück zu wünschen und zu seinem Lebenswerk zu gratulieren, das er über viele Jahrzehnte mit Beharrlichkeit entwickelt und erweitert hat. Mittlerweile sind wieder fünf Jahre ins Land gegangen und Luc Ciompi beeindruckt nach wie vor mit seiner Präsenz und Ausstrahlung in das systemische Feld hinein. Dem Thema der Affekte, das er mit seinem Konzept der Affektlogik seit über 40 Jahren bearbeitet, wurde lange in der systemischen Szene wenig Aufmerksamkeit geschenkt – dazu, dass sich das mittlerweile verändert hat, hat er sehr viel beigetragen.
Auch wenn ihm das Lesen mittlerweile größere Mühe macht, ist es eine Freude zu sehen, mit welchem Elan und welch großer Begeisterungsfähigkeit Luc immer noch den aktuellen Stand der Forschung rezipiert. Mit seinem Wissen und seinem enormen Gedächtnis ebenso wie mit seiner Präzision in seinen Formulierungen beeindruckt er auch im hohen Alter seine Zuhörer im Gespräch. Noch im Mai dieses Jahres konnten Arist von Schlippe und ich Luc und seine wunderbare Frau in ihrem schönen Anwesen bei Lausanne hoch über dem Genfer See besuchen und ihn für das aktuelle Heft der Familiendynamik zum Thema Kriegs- und Friedenslogik interviewen. Ihre Gastfreundschaft haben wir als großes Geschenk erlebt.
Im Jahre 1990 hat Luc Ciompi „Zehn Thesen zum Thema »Zeit in der Psychiatrie«“ veröffentlicht, die über die Frage nach dem Zusammenhang von psychischen Störungen mit Veränderungen des Zeiterlebens hinaus als ein eindrückliches Plädoyer für einen ganz anderen Umgang mit Zeit in unserer Gesellschaft gelesen werden können – Ein Thema, das in den seitdem vergangenen Jahrzehnten an Aktualität noch einmal deutlich zugenommen hat. Dieser Text ist 2012 dankenswerterweise im von Ulrike Borst und Bruno Hildenbrand bei Carl-Auer herausgegebenen Band „Zeit essen Seele auf. Der Faktor Zeit in Therapie und Beratung“ erneut publiziert worden und kann auf der Website von Luc Ciompi als PDF gelesen werden.
Lieber Luc, für die kommende Zeit wünsche ich dir alles Gute, Gesundheit und weiterhin die Energie und Schaffenskraft, die dein ganzes Leben ausgezeichnet hat. Ich bin sicher, dass sich viele Menschen aus dem systemischen Umwelt diesen Wünschen anschließen.
Das gerade frisch erschienene Heft 4/2024 der Familiendynamik ist von Arist von Schlippe und mir als Gastherausgeber betreut worden und beschäftigt sich mit der Frage, welche Logiken kriegerischen Konflikten (von zwischenstaatlichen bis hinunter zu familären Konflikten) unterliegen und welche Chancen bestehen, die Durchsetzungskraft von „Friedenslogiken“ zu stärken. Im Editorial schreiben wir: „Wir Herausgeber gehören einer Generation an, für die trotz des Kalten Krieges ein offener Krieg auf europäischem Boden nur eine abstrakte Drohung war, doch nie konkrete Realität. Natürlich, es gab (und gibt) auf der Welt ununterbrochen Kriege, nur waren sie weit weg. Vietnam empörte uns, doch auch das war nicht so hautnah wie die gegenwärtigen Kämpfe in der Ukraine und in Palästina. Sie führen uns die Zerbrechlichkeit unserer friedenserhaltenden Strukturen vor Augen. Westeuropa wird beinahe unmerklich in die Logik des Krieges hineingezogen. Friedenslogik hat derzeit keine großen Chancen, sich durchzusetzen. Durch das Erstarken radikaler politischer und religiöser Bewegungen und Parteien in Westeuropa und den USA scheint sich der zivilisatorische Friedenskonsens in einem angsterregenden Tempo aufzulösen. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, inwiefern das gesellschaftliche Klima von Hass, Gewalt, Verachtung und Dämonisierung des Gegners auch die persönlichen Beziehungen der Menschen untereinander, sei es in den gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen, sei es im Alltag und bis in die Intimbeziehungen hinein, zu durchdringen vermag. Dieser »zeitdiagnostische Befund« brachte uns auf die Idee für ein Themenheft. Zunächst ging es uns darum, die paar- und familiendynamischen Aspekte zu untersuchen, die zu einem Umschlag von wohlwollenden in feindliche Interaktionen führen. Doch schnell wurde klar, dass wir es hier mit übergreifenden Mustern zu tun haben, die sich von privaten Beziehungen bis hin zu internationalen Konflikten skalieren lassen. In Familien äußern sich diese Muster häufig in Form eskalierender Auseinandersetzungen und verhärteter Fronten. Oftmals erkennen Mitglieder nicht, dass ihre Konflikte ähnliche Grundmechanismen aufweisen wie Auseinandersetzungen auf globaler Ebene. Missverständnisse, alte Verletzungen und tiefsitzende Ängste führen zu Reaktionsmustern, die schwer zu durchbrechen sind. Das familiäre System leidet, ähnlich wie das internationale System, unter stereotypen Verhaltensweisen, die kurzfristig entlasten mögen, langfristig jedoch Schaden anrichten. Offensichtlich gibt es in sozialen Beziehungen Kipppunkte, die eine kompromissbereite, wohlwollende Friedenslogik relativ leicht in Kriegslogik umschlagen lassen. Umgekehrt ist dagegen ein »Kippen« von Feindseligkeit in ein friedliches Beziehungsmuster ungleich schwerer zu erreichen. In diesem Heft haben wir Beiträge versammelt, die das hier skizzierte Themenspektrum aus verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachten. Wir laden dazu ein, aus der Vielfalt der »Beobachtungen erster Ordnung« (wer hat »Recht«, wer hat Schuld an diesem »verbrecherischen Angriffskrieg«, was will Putin »wirklich« usw.) auszusteigen und eine Beobachtungsebene zweiter Ordnung einzunehmen: Wie wird in unserer Gesellschaft – auf verschiedenen Ebenen – beobachtet? Wo erkennen wir blinde Flecken? Welche neuen Perspektiven lassen sich eröffnen (ohne dass wir den Anspruch haben, daraus einen Ausweg für die Weltlage abzuleiten)?“
Dazu finden sich Texte von Friedrich Glasl, Barbara Kuchler, Till Jansen, Almut Fuest-Bellendorf sowie ein Interview, das wir beide im Juni mit Luc Ciompi in Belmont sur Lausanne führen konnten. Zu allen bibliografischen Angaben und abstracts geht es hier…
Von der Lektüre des Klassikers The system of professions (Chicago University Press 1988) von Andrew Abbotts angeregt, hat Barbara Kuchler, Soziologin am Institut für Soziologie der Universität München, systemische Therapeutin, Bloggerin und Mitherausgeberin des Kontext einen Text für systemagazin verfasst, in dem sie sich mit den Gefahren von Professionalisierungs- und Professionsbildungsprozessen auseinandersetzt, eine Frage, die sich auch auf die Entwicklung des systemischen Ansatzes und seine Vertreter beziehen lässt.
Barbara Kuchler, München: Professionen und wie sie sich zugrunde richten
Wie Professionen sich entwickeln, ist eine spannende Frage, und die Professionssoziologie hat dazu Interessantes zu berichten. Als jemand, der ein Neuling in der Systemikprofession ist, bisher in der Soziologie zu Hause war und sich gerade durch die Professionssoziologie liest, berichte ich hier ein paar Highlights.
Professionen haben nicht nur ein komplexes Wissen, sondern sie müssen sich auch in einer komplexen gesellschaftlichen Umwelt positionieren. Ihr Platz in der Welt ist ihnen nicht göttlicherseits zugewiesen, sie müssen ihn selbst definieren und erobern und oftmals verteidigen. Sie können dabei erfolgreicher oder weniger erfolgreich sein, und nicht immer ist am Anfang absehbar, was die Konsequenzen einer bestimmten Strategie und Selbstpositionierung sein werden. Hier zunächst drei Möglichkeiten, wie eine Profession, langfristig gesehen, sich zugrunde richten oder sich selbst schaden kann.
Am 29. August dieses Jahres ist Joseph Rieforth im jungen Alter von 65 Jahren gestorben. Seine langjährige Kollegin von der Universität Oldenburg hat für systemagazin einen Nachruf verfasst:
Astrid Beermann, Oldenburg
Am 29. August dieses Jahres ist Joseph Rieforth mit nur 65 Jahren verstorben – ein einfühlsamer Mensch und hochkompetente Fach- und Führungskraft mit herausragender Expertise, der sehr fehlen wird.
1959 im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen, studierte Joseph Rieforth Psychologie in Münster, Wien und Oldenburg. Als wissenschaftlicher Leiter mehrerer Kontaktstudien im Bereich Therapie und Beratung sowie der Ausbildungsstätten und Hochschulambulanzen für Psychologische Psychotherapie und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Universität Oldenburg leistete er über vier Jahrzehnte viel Aufbaubauarbeit und etablierte unterschiedliche berufsbegleitende Aus- und Weiterbildungsangebote im universitären Kontext.
Für Joseph Rieforth war der Beruf auch immer Berufung und er übte ihn mit Leidenschaft und Begeisterung aus. Als Tiefenpsychologe und Systemischer Therapeut ließ er diese beiden Richtungen im Sinne eines psychodynamisch-systemischen Modells miteinander verschmelzen. In seiner letzten Veröffentlichung (2020) „Wunschkompetenz. Von der Fähigkeit, das eigene Leben sinnvoll zu gestalten“ verdichtete er seine über die Zeit erworbenen Erkenntnisse und Erfahrungen.
Joseph Rieforth blieb selbst immer auch ein Lernender, ein in besonderem Maße interessierter, kreativer Mensch, der stets neue Impulse aus unterschiedlichen Disziplinen aufnahm und in seine Arbeit integrierte. Mit seinem Profil und seiner einfühlsamen Persönlichkeit als Therapeut, Berater und Lehrer bereicherte er viele Menschen und Organisationen und unterstützte ihre Ideen, Entwicklungswünsche oder Projekte. Es war ihm stets wichtig, eine warmherzige Atmosphäre zu schaffen und gute Arbeitsbündnisse herzustellen, um hilfreiche Bedingungen für entwicklungs- und veränderungswirksame Prozesse zu gewährleisten. Ihm gelang es in besonderer Weise, Menschen in ihrer Entwicklung zu stärken, ihre Potenziale zu wecken, Verbindungen zwischen ihnen herzustellen, abgebrochene Brücken zu erneuern oder neue zu bauen.
Joseph Rieforth lehrte an zahlreichen Universitäten, Hochschulen und Instituten im In- und Ausland und war dort immer ein gern gesehener Gastdozent.
Er war sehr offen dafür, ihm sinnvoll erscheinende fach- und berufspolitische Interessen zu unterstützen. 2003 wurde er als Mitglied der Sachverständigenkommission für Psychologische Psychotherapie am Institut für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) in Mainz berufen. Seit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) war er in diesem Fachverband aktiv, prägte jahrelang als Sprecher die DGSF-Fachgruppen Hochschulen und Mediation, veranstaltete 2005 und 2018 zweimal die wissenschaftliche Jahrestagung der DGSF und engagierte sich im noch jungen Verbund für Systemische Psychotherapie (VfSP). Ebenso wirkte er in der Deutschen Fachgesellschaft für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (DfT) mit und arbeitete zudem mit Verbänden, Arbeitsgemeinschaften und Beiräten im Handlungsfeld Supervision, Coaching und Mediation zusammen.
Immer wieder bot Joseph Rieforth mit wissenschaftlichen Fachtagungen, Symposien und Kongressen an der Universität Oldenburg einen zugleich inhaltlich hochwertigen wie sinnlich ansprechenden Rahmen für neue Inhalte, Diskurse und Vernetzung sowie Gelegenheiten des Wiedersehens und in Verbindung-Bleibens.
Nun ist Joseph Rieforth am 29. August verstorben. Am 7. November dieses Jahres wollte er bei einem Festakt anlässlich des 40jährigen Jubiläums der entwickelten Aus- und Weiterbildungsangebote unter dem Motto „Beziehung über Qualität und Zeit gestalten“ die Eröffnungsrede halten, mit uns sein Lebenswerk feiern und sich allmählich in den Ruhestand verabschieden. Nun wird dieser Tag an der Universität Oldenburg ihm zu Ehren und ihn gedenkend gestaltet.
Mit Joseph Rieforth haben wir einen ganz besonderen Kollegen verloren, der mit seiner warmherzigen und zugewandten Art eine große Bereicherung war, uns auf vielfältige Weise geprägt hat und der uns als Freund sowie Fachkollege in guter Erinnerung bleiben wird.
Heute würde Lynn Hoffman (10.9.1924 – 21.12.2017) ihren 100. Geburtstag feiern, ein Grund, an diese wunderbare Pionierin der systemischen Therapie zu erinnern. Im systemagazin ist schon einiges zu ihr veröffentlicht worden, s. hier oder hier. In Heft 4/1985 der Zeitschrift Family Systems Medicine hat sie ihren eigenen therapeutischen Weg von der Begegnung mit der Palo Alto-Gruppe um Don Jackson über die Beschäftigung mit Gregory Bateson, Humberto Maturana und Francisco Varela, die Abgrenzung von strategischen Konzepten etwa von Jay Haley und den frühen Arbeiten der Mailänder Gruppe hin zur Kybernetik 2. Ordnung beschrieben, der Artikel ist auch heute noch sehr lesenswert.
Neun Autorinnen und Autoren behandeln die „dunkle Seite“ der Kommunikation, die Opfer, Zeugen und Täter zum Schweigen bringt: Frauen, religiöse Häretiker, begabte Kinder, Opfer von Rassismus, psychoanalytische Dissidenten und Psychiatriepatienten, Einzelpersonen und Gruppen, völlig Fremde und Familienmitglieder sowie das eigene Ich. All diese Formen des Schweigens werden mit Hilfe von Literatur, Geschichtsschreibung, Interviews, Archivrecherchen sowie psychoanalytischer und familientherapeutischer Forschung analysiert.
Die sehr geschätzte Kollegin aus Wien, Evelyn Niel-Dolzer, die dem systemagazin-Publikum schon durch andere Beiträge (hier und hier) bekannt geworden ist, hat dieses Buch, dessen primäre Zielgruppe die psychoanalytische Community ist, als systemische Familientherapeutin für systemagazin gelesen und ist begeistert:
WIESBADEN – Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen in Deutschland hat im Jahr 2023 einen neuen Höchststand erreicht: Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, stellten die Jugendämter bei mindestens 63 700 Kindern oder Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt fest. Das waren rund 1 400 Fälle oder 2 % mehr als im Jahr zuvor. Da einige Jugendämter für das Jahr 2023 keine Daten melden konnten, ist aber sicher, dass der tatsächliche Anstieg noch deutlich höher ausfiel: Werden für die fehlenden Meldungen im Jahr 2023 die Ergebnisse aus dem Vorjahr hinzugeschätzt (+3 300 Fälle), liegt der Anstieg der Kindeswohlgefährdungen gegenüber dem Vorjahr bei 4 700 Fällen oder 7,6 %. Wird zusätzlich der allgemeine Anstieg berücksichtigt, erhöht sich das Plus sogar auf rund 5 000 Fälle beziehungsweise 8,0 %. Nach dieser Schätzung läge die Gesamtzahl im Jahr 2023 bei 67 300 Fällen. Neben Fehlern bei der Datenerfassung und dem Cyberangriff auf einen IT-Dienstleister wurde als Grund für die fehlenden Meldungen im Jahr 2023 auch die Überlastung des Personals im Jugendamt genannt.
Der langfristige Anstieg der Zahl behördlich festgestellter Kindeswohlgefährdungen setzte sich damit auch 2023 fort. Mit Ausnahme des Jahres 2017 und des Corona-Jahres 2021 nahmen die Fallzahlen seit Einführung der Statistik im Jahr 2012 stets zu. Am höchsten waren die Anstiege von 2018 bis 2020 mit jeweils 9 % bis 10 % mehr Fällen als im Vorjahr. Gründe für diese Entwicklung können – neben einer tatsächlichen Zunahme der Gefährdungsfälle – auch eine höhere Sensibilität und Anzeigebereitschaft der Öffentlichkeit und Behörden beim Thema Kinderschutz sein.
Das aktuelle Heft von Organisationsberatung, Supervision, Coaching setzt sich mit einem Thema auseinander, dem schon in 2022 und 2023 Themenhefte der Zeitschrift gewidmet waren – ein Zeichen für die Dringlichkeit der Befassung auch auf Seiten der Berater, Coaches und Supervisoren. Im Editorial schreiben Silja Kotte und Thomas Webers: „Digitalisierung hat sich in Organisationen zum Dauerthema entwickelt. Schon mehrfach hat diese Zeitschrift sich mit den Auswirkungen beschäftigt. Das OSC-Heft 4/2022 hat die Auswirkungen der Digitalisierung auf virtuelles Arbeiten und Führung auf Distanz beleuchtet. „Digitalisierung in der Beratung“ lautete der Titel des OSC-Hefts 1/2023. Das aktuelle Themenheft „Digitale Transformation in Organisationen“ nimmt eine breitere organisationale Perspektive ein: Wie transformiert Digitalisierung Organisationen? Wie gestalten Organisationen die damit verbundenen Change-Prozesse? Welche neuen Formen der Kooperation bilden sich dadurch heraus? Wie kann digitale Arbeit gut gestaltet werden?
Digitalisierung ist ein Querschnittsthema, das alle Funktionsbereiche und Prozesse in Organisationen grundsätzlich transformiert – von der Produktion bis zum Controlling, von den Kern- bis zu den Unterstützungsprozessen. Auch das neuerdings People- statt HR- genannte Management und die Beratung sind davon nicht ausgenommen (Strohmeier 2022): Von der Personalauswahl über die Arbeitsgestaltung, die Zusammenarbeit in Organisationen, Führung, Personalentwicklung und -beurteilung bis hin zur Organisationsentwicklung – alle Bereiche sind von der Digitalisierung betroffen.
Organisationen müssen sich mit den technologischen Entwicklungen auseinandersetzen und sich positionieren. Sie sehen sich derzeit vielen Ideen und Initiativen gegenüber, von denen nicht immer absehbar ist, ob sie sich als nützlich herausstellen und einen Mehrwert generieren können. Neuen Möglichkeiten stehen auch Skepsis und Vorbehalte gegenüber. Nicht alles, was (technisch) machbar erscheint, ist auf den zweiten Blick betrachtet sinnvoll – und findet auch nicht immer Akzeptanz. Nicht zuletzt stehen Fragen des Datenschutzes und der Ethik auf der Agenda, die nicht immer angemessen beantwortet werden. Organisationen gehen diese Transformation mehr oder weniger strategisch an: Sie entwickeln Digitalisierungsstrategien, setzen zentrale Stabsstellen oder cross-funktionale Teams ein, die diese umsetzen sollen, und schreiben Stellen wie „Digital Transformation Manager“ oder „Digital Transformation Specialist“ aus, für die ein unternehmerisches Verständnis der Zusammenhänge zwischen Business, IT und Digitalisierung sowie Erfahrung in der Umsetzung von Transformationsprojekten gefordert wird.“