systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

Soziale Systeme 2005

Esposito, Elena (2005): Wissenschaftliches Publizieren: Stand und Perspektiven. Einleitung. In: Soziale Systeme 11(1), S. 05-13

Roesler, Alexander und Bernd Stiegler (2005): »Die Endform der Vorläufigkeit«. Ansichten aus der Praxis der Theorie. In: Soziale Systeme 11(1), S. 14-31.

abstract: Dieser Beitrag ist weniger eine systematische Analyse oder Reflexion über die Veränderungen des wissenschaftlichen Publizierens als vielmehr eine Art ABC der publizistischen Praxis der Theorie. In insgesamt 12 kurzen Texten, die zudem eine interne Verweisungsstruktur haben, ist jeweils eine Beobachtung Niklas Luhmanns Anlass, um einen bestimmten Bereich des Publizierens in den Blick zu nehmen. Der Bogen, den dieses kleine Lexikon spannt, reicht dabei von »Absagen/Zusagen « über »Herstellung« bis hin zu »Programm« und »Sekundärliteratur«.

Lucius, Wulf D. von (2005): Strukturwandel im wissenschaftlichen Verlag. In: Soziale Systeme 11(1), S. 32-51.

abstract: Der Beitrag schildert die tiefgreifenden Veränderungen, denen wissenschaftliche Verlage (in Deutschland) in den letzten Jahrzehnten unterworfen waren: technische (bis hin zum digitalen Publizieren), wettbewerbliche (insbesondere durch die stetig voranschreitende Konzentration), vom Markt her kommende wie insbesondere das Vordringen der englischen Sprache und die daraus erfolgende Internationalisierung. Parallel einher geht das schrittweise Verschwinden des Inhaber-Verlegers zugunsten managergeführter Verlage. Letztere werden oft professioneller geführt aufgrund der Teamarbeit von Spezialisten anstelle eines Generalisten, der der traditionelle Verleger gewesen ist. Einher mit dieser Verschiebung auf der Führungsebene geht ein kurzatmigeres, konsequent gewinnorientiertes Verhalten dieser Verlage, während der Inhaber-Verleger in viel längeren Zeitdimensionen denkt und handelt und es in seiner eigenen Verantwortung liegt, wie stark er meta-ökonomische Zielsetzungen zulässt.

Hirschauer, Stefan (2005): Publizierte Fachurteile. Lektüre und Bewertungspraxis im Peer Review. In: Soziale Systeme 11(1), S. 52-82.

abstract: Der Aufsatz untersucht einen Ausschnitt der informellen fachlichen Kommunikation unterhalb der Publikationsschwelle. Er fragt, welche Sozialität in einem Fachurteil steckt. Zwei Komplexe lassen sich identifizieren. 1. In einem Urteil überschneiden sich drei soziale Kreise: Neben der Bindung an ihre intellektuellen Herkunftsmilieus, die Lesern eine gewisse Voreinstellung gegenüber allen Texten gibt, findet sich zum einen ein in der lesenden Auseinandersetzung mit dem Text entwickelter Eindruck von diesem, zum anderen eine posthoc gesprochene, rationalisierende Stellungnahme gegenüber einer Gremienöffentlichkeit. 2. Diese mehrstufigen Urteile über wissenschaftliche Güte werden im Peer Review nun vervielfältigt, so dass sie sich in ihrer eigenen Güte laufend selbst beobachten. Manuskripte werden entschieden, indem über die Urteile aller Beteiligten entschieden wird: das des Autors über Geltungsanspruch und Entwicklungsstand seines Textes; das von Gutachtern und Herausgebern über die Kompetenz ihres eigenen Urteils, und das über die Beurteilungspositionen der jeweils anderen Gutachter und Mitherausgeber. Der ›Review‹ liegt nicht primär in einer asymmetrischen Prüfungsbeziehung, in der ein Leser auf einen Text ›schaut‹, sondern in einer wechselseitigen Beobachtungen von Urteilen, die in Ergänzung und Konkurrenz zueinander treten und sich wechselseitig kontrollieren. Im Peer Review werden Urteile beurteilt und publik gemacht.

Koenen, Elmar J. (2005): Über die fast leere Mitte der Disziplin. SoziologInnen über Funktionen und Eigenwerte sozialwissenschaftlicher Zeitschriften. In: Soziale Systeme 11(1), S. 83-103.

abstract: In den letzten Jahren haben SoziologInnen aus Lehre und Forschung sich aus unterschiedlichen Anlässen und Perspektiven zum Thema ›Sozialwissenschaftliche Fachzeitschriften‹ geäußert.Wie selbstverständlich behandeln sie diese als das kommunikative Zentrum ihrer Disziplin, obwohl eine entsprechende Kommunikation praktisch kaum stattfindet: die ›großen Namen‹ der Disziplin treten in den Zeitschriften als AutorInnen eher selten an, und Makrothemen wie Gender und Globalisierung fehlt heute offenbar die Kraft, die Fachkommunikation zu integrieren. Den InhaberInnen von festen Stellen mangelt es an Motiven, ihre Kompetenz zu demonstrieren und den LeserInnen an Zeit und Interesse, sich mit Fragen jenseits der eigenen Themen zu befassen. In der Konkurrenz mit den Netzmedien und durch die generelle Knappheit an finanziellen Mitteln scheint das kommunikative Zentrum der Sozialwissenschaften, ihre Fachzeitschriften, zunehmend unter Druck zu geraten. Ihre traditionelle Funktion, die Qualität von Kompetenzen und Texten zu prüfen und zu sichern, müsste vielleicht von anderen Medien und Institutionen übernommen werden.

Reichertz, Jo (2005): »Die Zeiten sind vorbei, in denen man nicht mehr laut sagen durfte, dass man besser ist als andere« – oder: Zur neuen Logik der (sozial-)wissenschaftlichen Mediennutzung. In: Soziale Systeme 11(1), S. 104-128.

abstract: Wer heute Wissenschaft betreibt, muss seine Arbeit immer häufiger und immer öfter mit Hilfe der Medien vorstellen. Die Öffentlichkeit, mit der er dann kommuniziert, ist nicht mehr nur eine Fachöffentlichkeit, sondern immer öfter muss er auch den Erwartungen der Politik, der Medien und der Steuerzahler entsprechen. In Zeiten knapp bemessener Geldmittel werden öffentliche Präsenz und öffentliche Anerkennung bedeutender, da sie dem Aufbau von Reputation dienlich sein können. Deshalb kommt es nicht nur darauf an, viel in die Medien zu bringen, sondern dies auch verständlich und attraktiv zu tun. Honoriert werden dabei auch Persönlichkeit und Ausstrahlung. Der Artikel fragt auch nach den Folgen, die dieser Wandel für das berufliche Tun von Wissenschaftlern mit sich bringt.

Roth, Wolf-Michael (2005): Publish or Stay Behind and Perhaps Perish: Stability of Publication Practices in (Some) Social Sciences. In: Soziale Systeme 11(1), S. 129-150.

abstract: Obwohl neue technische Entwicklungen das schnelle und hinsichtlich der Länge problemlose Veröffentlichen ermöglichen, werden elektronische Medien in manchen Wissenschaften nur langsam – wenn überhaupt – akzeptiert und benutzt. Auf der Grundlage eines kulturhistorischen Ansatzes der dritten Generation argumentiere ich, dass sich die Stabilität von Veröffentlichungspraktiken (in Nordamerika) aus der Rolle der Publikationen in der akademischen Laufbahn ergibt. Entscheidungen in so unterschiedlichen Zusammenhängen wie Dauereinstellung, Beförderung, Gehalt, Gehaltserhöhung, und Drittmittelerwerb hängen von der Veröffentlichungsliste ab, die als eine Form der Objektivierung der Leistung eines Individuums verstanden wird. Die Stabilität der Veröffentlichungspraktiken kann man daher als das Produkt von der hoch vernetzten Natur akademischer Praktiken und Tätigkeitssystemen und der dialektischen Natur der Wissenschaftsgemeinden (communities of practice) verstehen, die sich sowohl identisch reproduzieren (Stasis), als auch in neuen Formen produzieren. Dieses Phänomen kann man zum Teil verstehen als das Bedürfnis eines Akademikers (einer Akademikerin), zur Erhaltung der Wissensgemeinde durch Dienste beizutragen, die den Entscheidungen über Dauereinstellung, Beförderung, und Gehalt Rechnung tragen (Volltext in Englisch).

Malik, Maja und Siegfried Weischenberg (2005): Journalismus und Wissenschaft: Gemeinsame Sinnhorizonte trotz funktionaler Autonomie? In: Soziale Systeme 11(1), S. 151-165.

abstract: Journalismus und Wissenschaft sind verschiedene Funktionssysteme, die eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen. Beide generieren Informationsangebote als Fremdbeobachtung, stützen sich in organisierten Handlungskontexten auf professionelle Methoden und orientieren sich vermeintlich an denselben Maßstäben (›Wahrheit‹, ›Objektivität‹). Am Beispiel ihrer Schnittstelle Wissenschaftsjournalismus wird jedoch deutlich, dass es sich dabei nur scheinbar um gemeinsame Sinnhorizonte handelt. Entscheidend sind die funktionalen Differenzen, welche sich anhand von ›Wahrheit‹ und ›Objektivität‹ sowie den Temporalstrukturen und den Themenrelevanzen beschreiben lassen. Im Fall des Wissenschaftsjournalismus führt die Unterstellung gleicher Beobachtungskriterien regelmäßig zu enttäuschten Erwartungen. Und das ist auch gut so. Denn nur durch funktionale Autonomie bleibt die jeweils spezifische Leistungsfähigkeit beider Systeme erhalten.

Esposito, Elena (2005): Die Darstellung der Wahrheit und ihre Probleme. In: Soziale Systeme 11(1), S. 166-175.

abstract: Die moderne Wissenschaft zeigt ein Ungleichgewicht zwischen der Produktion von Wahrheiten, welche von den Theorien und Methoden des Systems streng geregelt wird, und der Darstellung dieser Wahrheiten, welche praktisch durch Wissenschaft unkontrolliert bleibt und externen Kriterien überlassen wird. Diese Lage ist besonders überraschend in Anbetracht der grundlegenden Rolle der Verbreitung der wissenschaftlichen Wahrheit durch Publikation gerade für die moderne, an die ständigen Produktion neues Wissens gebundene Wissenschaft. Für die Darstellung gelten Kriterien wie Reputation oder die Bedürfnisse formeller Organisationen, die nur dann wirksam funktionieren können, wenn sie unabhängig von den Kriterien der Wahrheit sind. In dieser Hinsicht scheint die aktuelle Soziologie nicht so sehr unter fehlender Koordination mit den Massenmedien oder den formellen Organisationen zu leiden, sondern eher unter dem Fehlen einer ausreichend scharfen und eindeutigen Trennung, um den Kriterien beider Systeme Geltung zu verschaffen.

Corsi, Giancarlo (2005): Medienkonflikt in der modernen Wissenschaft? In: Soziale Systeme 11(1), S. 176-188.

abstract: Beobachtet man die Selektionsverfahren von wissenschaftlichen Zeitschriften und Verlagen, gewinnt man den Eindruck einer Diktatur der Massenmedien (hier vor allem der Publikationen) über die eigentliche wissenschaftliche Funktion, neues Wissen herzustellen. Das ist durch das bekannte Syndrom »publish or perish« bekannt und wird oft als riskante Alternative gesehen: entweder Karriere durch Standardforschung oder Grenzforschung mit unsicheren Perspektiven. Heutzutage hängen tatsächlich die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien von den Verbreitungsmedien ab. Aber das Problem scheint eher das Verhältnis von Evolution der Wissenschaft und Planung der organisatorischen Variablen (Reputation, Finanzierung, Projekte, akademische Spaltungen usw.) zu betreffen, die die moderne Wissenschaft ermöglichen. Während Evolution nicht kontrolliert werden kann, sind diese Variablen die einzigen, die entscheidbar sind und transparent gemacht werden können.

Werron, Tobias (2005): „Quantifizierung“ in der Welt des Sports. Gesellschaftstheoretische Überlegungen. In: Soziale Systeme 11(2), S. 199-235.

abstract: „Quantifizierung“ wird von Sportsoziologen und -historikern zu den charakteristischen Merkmalen des modernen Sports gezählt. Der Umgang mit Zahlen im Sport ist in seinen Funktionen, Formen und Folgen jedoch bislang kaum näher untersucht worden. Der Beitrag will einen Anfang machen und einige Ausgangsthesen für die nähere, auch gesellschaftstheoretische Auseinandersetzung mit dem Thema formulieren. Er wählt einen abstrakten differenzierungstheoretischen Ausgangspunkt und versteht den modernen Wettkampfsport als autonome Sinnsphäre, als „Eigenwelt“, die auf den Vergleich von Leistungen spezialisiert ist. In diesem Rahmen richtet sich das Interesse auf Tabellen, „assists per game“, Rekorde und andere Zahlenformate, die auf ihre Beiträge zur Darstellung und Evaluation von Leistungen untersucht werden. In dieser Analyse werden Zahlen primär als Beitrag zum Gedächtnis des Sports erkennbar, und es zeigt sich eine Doppelfunktion von Zahlen, die sich aus ihrer Eignung ergibt, Sinnreduktion auf Leistung (Reduktionsfunktion) mit Wahrscheinlichkeitsdenken (Projektionsfunktion) zu kombinieren. Damit treten sie in ein vielschichtiges Ergänzungs-, aber auch Spannungsverhältnis zu anderen Gedächtniselementen, insbesondere narrativen Elementen, und erweisen sich als ebenso unentbehrlich wie bisweilen ungeliebt. Insgesamt zeigt sich ein temporalisierter Gebrauch statistischer Semantiken, der in die Selbstbeobachtung eines standardisierten und kontinuierlichen Wettkampfbetriebs eingespannt ist und dessen interne Spannungen die für den modernen Sport konstitutive Differenz zwischen „Präsenz“ (Lokalität, Ereignishaftigkeit, Spannung etc.) einzelner Wettkämpfe und Verweisungsreichtum (Globalität, Komplexität, Kontingenz etc.) ganzer Sportarten reflektieren. Der – hier nur angedeutete – Vergleich mit „Ratings“ und „Rankings“ in anderen Funktionssystemen legt nahe, dass die hier entwickelten Thesen auch zu einer allgemeinen gesellschaftstheoretischen Erklärung von „Quantifizierung“ anregen könnten.

Vogd, Werner (2005): Medizinsystem und Gesundheitswissenschaften – Rekonstruktion einer schwierigen Beziehung. In: Soziale Systeme 11(2), S. 236-270.

abstract: In diesem Beitrag wird es darum gehen, die Luhmannsche Theorie der funktionalen Differenzierung auf das Gesundheitssystem anzuwenden. Hierbei wird zwischen Medizin, medizinischer Wissenschaft, medizinischen Organisationen auf der einen und den so genannten Gesundheitswissenschaft und der Gesundheitspolitik auf der anderen Seite zu unterscheiden sein. Indem diese unterschiedlichen Kontexturen miteinander in Beziehung gesetzt werden, ergibt sich ein erweiterter Blick auf die gesundheitspolitischen Diskurse der vergangenen Jahrzehnte. Das Verhältnis von Wissenschaft und klinischer Praxis, die Frage der ärztlichen Profession, der Arzt-Patient-Beziehung sowie die von den Gesundheitswissenschaften vertretene Idee der Prävention und Salutogenese erscheinen nun im Lichte der Spannung unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionsbezüge. Teile des gesundheitswissenschaftlichen Diskurses erscheinen nun als eine an die Politik angekoppelte Einheitssemantik, welche einen Zentralwert proklamiert, der sich jedoch im Sinne der Differenzstruktur der modernen Gesellschaft weder in der Medizin, noch in der Wissenschaft als Funktionsbezug wieder findet.

Lee, Daniel B. (2005): Making Music out of Noise: Barbershop Quartet Singing and Society. In: Soziale Systeme 11(2), S. 271-293.

abstract: A traditionally American form of music, barbershop is a style of unaccompanied singing with three voices harmonizing to the melody (an ensemble of four voices). Depending on the production and perception of noise for its own operations, the social system of barbershop organizes and codes human vocal noise into a form of music with the help of communication. With a functionalist interest in observing how society solves problems of understanding and order, this ethnographic study describes how barbershop singers restrict the variety of their own vocal noise to conditionally reproduce the specific form of their art. The emergence and continuation of barbershop as an empirically operating social system can be considered highly unlikely, requiring much more than the willing participation of singers. The improbable connectivity of barbershop depends on semantic and structural resources made available within interaction, organization, and society: three differentiated unities of communication.

Musik aus Geräuschen: Barbershop Quartett-Gesang und Gesellschaft. Die traditionelle US-amerikanische Musikrichtung, Barbershop, ist eine spezielle Form des A-Capella-Gesangs mit einem vierstimmigen Akkord auf jeder Melodienote. Die selbstreferentielle Organisation dessen, was sich zunächst nur als Rauschen darstellt, aber zu Musik werden soll, gelingt dabei mit Hilfe von Kommunikation. Diese Perspektive, die sich dafür interessiert, wie eine Gesellschaft Probleme der Verständigung und Ordnung löst, verdankt sich zunächst einem funktionalistischen Interesse. Auf ethnographischer Basis wird dabei nachvollzogen, wie das soziale System des Barbershop-Singens diese besondere Form des Gesangs herstellt, indem es die Variationsmöglichkeiten vokaler Geräusche einschränkt. Entstehung und Fortdauer des Barbershop-Singens als empirisch operierendes soziales System muss als hochunwahrscheinlich angesehen werden, insofern es mehr als der Zustimmung zur Teilnahme bedarf. Es hängt darüberhinaus von semantischen und strukturellen Ressourcen ab, die auf drei verschiedenen Formen der Kommunikation beruhen: Interaktion, Organisation und Gesellschaft.

Nichelmann, Rolf & Alexander Paquée (2005): Ethnizität. Ein Problem für die Liquidität des Mediums Macht? In: Soziale Systeme 11(2), S. 294-326.

abstract: Daß Ethnizität nicht, wie noch von Theorien der sogenannten melting pot modernization behauptet, mit fortschreitender funktionaler Differenzierung in der Auflösung begriffen ist, ist inzwischen sozialwissenschaftliches Gemeingut. Wie sich dieses Phänomen theoretisch konsistent konzeptualisieren läßt, bleibt in entscheidenden Hinsichten allerdings offen. Die Diskussion scheint sich auf eine Position zurückgezogen zu haben, die bereits von Max Weber formuliert wurde und Ethnizität als eine Form von Gemeinsamkeitsglauben charakterisiert. Dieser implizite Konsens kann als Ergebnis einer Reihe von epistemologischen Hindernissen beschrieben werden, nicht zuletzt der Tatsache, daß handlungstheoretische Ansätze mit der Handhabung der Unterscheidung psychisch/sozial überfordert sind. Allerdings gelingt es auch den wenigen systemtheoretischen Beiträgen zum Zusammenhang von Ethnizität und Modernität nicht, den Ethnizitätsbegriff funktional hinreichend zu spezifizieren. Wir schlagen eine auf der Unterscheidung von Risiko/Gefahr fußende attributionstheoretische Fassung des Ethnizitätsbegriffs vor. Vor diesem Hintergrund läßt sich das Relevantwerden ethnischer Semantiken für das politische System als Vertrauenskrise beschreiben, welche möglicherweise die Zirkulation des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Macht beeinträchtigt.

Sløk, Camilla (2005): Niklas Luhmann’s Ambiguity Towards Religion. In: Soziale Systeme 11(2), S. 327-345.

abstract: There is an ambiguity in Luhmann’s view of religion, which states on the one hand that religion is an affirmative way of dealing with contingency and freedom and on the other that religion is an old-fashioned system, since it postulates necessity in a modern world where things are always subject to a second-order observational perspective. A way of resolving the ambiguity in Luhmann’s analyses is to look at it through Luhmann’s differentiation between religion’s three sub-systems. The point is that if Luhmann’s own differentation is used, the ambiguity can be seen as a differentiation between 1) religion as church, and 2) religion as reflection. The distanced view on religion may express religion as institution, while the affirmative view on religion may be an interpretation of the reflectory potential in religion’s dealing with contingency and necessity.

Niklas Luhmanns zweideutige Haltung zur Religion. Luhmanns Verständnis von Religion ist ambivalent insofern er einerseits davon ausgeht, daß Religion einen affirmativen Umgang mit Kontingenz und Freiheit pflegt und andererseits Religion als ein letztlich der Moderne nicht mehr angemessenes Funktionssystem betrachtet, da es Notwendigkeit postuliert in einer Gesellschaft, die sich wesentlich über Beobachtungen zweiter Ordnung konstituiert. Eine mögliche Auflösung der Ambiguität der Luhmannschen Analyse liegt in der Annahme einer internen Differenzierung des Religionssystems, indem 1) Religion als Kirche von 2) Religion als Reflexion unterschieden wird. Die distanzierte Sichtweise auf Religion bezieht sich dann auf die Religion als Institution, die eher affirmative Einstellung rekurriert auf das Reflexionspotential der Religion, das in ihrer Beschäftigung des Verhältnisses von Kontingenz und Notwendigkeit begründet liegt.

Schiltz, Michael, Gert Verschraegen & Stefano Magnolo (2005): Open Access to Knowledge in World Society? In: Soziale Systeme 11(2), S. 346-369.

abstract: This paper examines the societal significance of the Open Access movement and especially addresses its role in the public domain and in what’s commonly called ‘global civil society’. Taking advantage of the opportunity to study the emergence of a potentially transformative communicative technology in situ, we explore the social and evolutionary potential of Open Access, demonstrating how the global spread of technologies and associated semantics of ‘openness’ are giving new content to the concepts of the public sphere, civil society and social inclusion. In a first step, the paper argues that classical concept of civil society is less and less convincing and not adapted to the features of modern world society. In a second step the paper proposes different ways to rethink the notions of ‘civil society’ and the ‘public’ to fit the reality of a world society where knowledge is increasingly a resource for creating associations and networks. We argue that the Open Access and Creative Commons movement have contributed to the proliferation of non-localised, global ‘epistemic communities’ and have created new definitions of information and ownership. The paper also tackles misunderstandings of Open Access as a radical denial of copyright or revenue (and even profit), but demonstrates how Open Access is very well compatible with current economic realities and the emerging structure of world society.

Der Text untersucht die gesellschaftliche Bedeutung der Open Access Bewegung, insbesondere ihre Rolle in der sog. Public Domain und dem, was üblicherweise ‚globale Zivilgesellschaft‘ genannt wird. Dabei nutzt die Studie die Möglichkeit, das Entstehen einer potentiell die Formen der Kommunikation verändernden Technologie zu beobachten dazu, das soziale und evolutionäre Potential von Open Access herauszustellen, indem sie zeigt, daß die globale Verbreitung von Technologien und damit zusammenhängenden Semantiken der ‚Offenheit‘ zu einem neuen Verständnis von Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und Inklusion führt. In einem ersten Schritt wird gezeigt, daß das klassische Konzept der Zivilgesellschaft immer weniger überzeugt, da es nicht an die neuen Formen der modernen Weltgesellschaft angepaßt ist. Anschließend werden unterschiedliche Konzepte von ‚Zivilgesellschaft‘ und ‚Öffentlichkeit‘ vorgeschlagen, die der Realität der Weltgesellschaft, in der Wissen eine immer wichtigere Ressource für die Herstellung von Verbindungen und Netzwerken wird, angemessen sind. Die Open Access und Creative Commons Bewegungen haben, so unsere These, zur Verbreitung nichtlokaler, globaler ‚epistemic communities‘ beigetragen und neue Definitionen von Information und Eigentum geschaffen. Der Aufsatz kritisiert Ansätze, die Open Access als eine radikale Ablehnung von Urheberrechten oder Gewinnstreben mißverstehen, indem er zeigt, daß Open Access durchaus mit den herrschenden ökonomischen Realitäten und den Strukturen der entstehenden Weltgesellschaft kompatibel ist.

Kron, Thomas & Lars Winter (2005): Fuzzy-systems – Überlegungen zur Vagheit sozialer Systeme. In: Soziale Systeme 11(2), S. 370-394.

abstract: Ziel dieses Beitrags ist, die Luhmannsche Systemtheorie auf eine Modellierung mittels Fuzzy-Logik umzustellen und somit die Theorie autopoietischer Sozialsysteme in Richtung einer Theorie der Fuzzy-Systems fortzuentwickeln. Mit Hilfe der Fuzzy-Logik wird es möglich, Vagheiten von Systemzugehörigkeiten und vage Codierungsprozesse zu modellieren, ohne auf akteur- oder organisationstheoretische Modelle zurückgreifen zu müssen. Dies führt u.a. zu einer Neubestimmung der Vorstellung von Polykontexturalität als Poly-Optik sowie von Systemüberschneidungen.

Schimank, Uwe (2005): Funktionale Differenzierung und gesellschaftsweiter Primat von Teilsystemen – offene Fragen bei Parsons und Luhmann. In: Soziale Systeme 11(2), S. 395-414.

abstract: Der Beitrag widmet sich der Frage, inwieweit das Konzept der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft mit Vorstellungen vereinbar ist, die bestimmten Teilsystemen einen gesellschaftsweiten Primat zusprechen. Sowohl Parsons als auch Luhmann setzen ihr generelles Verständnis funktionaler Differenzierung gerade gegen solche Primatvorstellungen ab. Bei beiden finden sich allerdings vielfältige Hinweise darauf, dass bestimmten Teilsystemen doch ein gesellschaftsweiter Primat zukommen könnte. Diese unübersichtliche Diskussionslage wird systematisiert, und die offenen Fragen werden präzisiert, um eine Fortführung der Klärung einer gesellschaftstheoretischen Kernfrage zu ermöglichen.