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Lob des Zauderns

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Rudolf Klein gehört nicht nur zu den erfahrensten Suchttherapeuten im deutschsprachigen Raum, er vermag auch wie nur wenige andere theoretische Einsichten und praktische Überlegungen auf eine ebenso inhaltlich schlüssige wie formal elegante Weise dem Fachpublikum zu vermitteln. Hatte er schon 2002 mit „Berauschte Sehnsucht“ systemisch-konstruktivistische Ideen auf den Bereich der Therapie süchtigen Trinkens angewendet und mit vielen Praxisbeispielen und kommentierten Transkripten veranschaulicht, bietet er mit seinem neuesten Buch „Navigationshilfen für die systemische Therapie von Alkoholabhängigkeiten“ an, die allen PraktikerInnen nur ans Herz gelegt werden können. In seiner Einleitung schreibt er: „Die dargestellten Überlegungen und Vorgehensweisen sind in einer langjährigen ambulanten Praxis entstanden. Unter diesen Bedingungen konnten zwei unterschiedliche Perspektiven miteinander verknüpft, reflektiert und weiterentwickelt werden: einerseits konkrete therapeutische Erfahrungen mit abhängig trinkenden Menschen, ihren Schicksalen, Bewältigungsversuchen, Hoffnungen und Enttäuschungen; andererseits theoretische und therapeutische Vorannahmen über das Phänomen der Alkoholabhängigkeit. Durch die Reibung dieser beiden Perspektiven entstand ein Ansatz, der sowohl theoretische als auch praktisch-therapeutische Zugänge bietet.

Rudolf Klein (2014): Lob des Zauderns

Rudolf Klein (2014):
Lob des Zauderns

Im folgenden Text werden die therapeutischen Verläufe von vier erwachsenen Klienten – Frau Müller, Herrn Meier, Herrn Hans und Herrn Hoffmann – dargestellt. Obwohl die vier Klienten auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Lebensverläufe und Lebensbedingungen aufweisen, lassen sich bei genauerem Hinsehen doch erstaunliche Ähnlichkeiten finden, die für die theoretischen Annahmen relevant sind. Trotz, besser: wegen dieser erstaunlichen Ähnlichkeiten erfordert jedoch jeder therapeutische Prozess einen individuell angepassten und zugeschnittenen Weg der Veränderung und Wandlung.

Beides will und soll dieses Buch liefern: Die individuellen Unterschiede werden in einem übergeordneten Konzept integriert, und das übergeordnete Konzept wird im therapeutischen Verlauf individualisiert. Das Buch strebt dreierlei an: zum einen Menschen Anstöße für die Reflexion des eigenen Trinkverhaltens geben und damit einen Beitrag zu ihrer Entscheidung für oder auch gegen eine Veränderung liefern; zum zweiten Menschen ermutigen, den Weg in professionelle Therapien einzuschlagen, auch wenn sie diesen Weg zwischenzeitlich als untauglich bewertet oder ihn aus anderen Gründen bislang vermieden haben; und drittens Kolleginnen und Kollegen neugierig auf die Arbeit mit süchtig Trinkenden machen und dadurch die Angebotspalette für alkoholabhängige Menschen erweitern – über die oft stark eingefahrenen theoretischen Sichtweisen und praktischen Angebote der traditionellen Suchtkrankenhilfe hinaus“. „Wer im Labyrinth der Alkoholtherapien Orientierung sucht, kommt um dieses Buch nicht herum“, schreibt Arnold Retzer im Klappentext des Buches, und da kann man ihm nur zustimmen. Das tut jedenfalls auch Hans Schindler, der das Buch gelesen hat und rezensiert. 

Hans Schindler, Bremen

Hans Schindler

Hans Schindler

Rudolf Klein legt zwölf Jahre nach seinem beeindruckenden Buch »Berauschte Sehnsucht« erneut ein methodisch und didaktisch bemerkenswertes Werk vor. In seiner systemischen Einführung in die Themen Abhängigkeit und Selbstorganisation beschreibt er Alkoholabhängigkeit als eine Form von Selbstregulationsmanagement mit dem Ziel, unangenehme Einflüsse erträglicher zu machen oder/und angenehme Zustände noch angenehmer zu gestalten: »Alkoholabhängigkeit ist das Ensemble chronifizierter Lösungsversuche« (S. 46). Was soll/muss gelöst werden? Mit der menschlichen Existenz sind zwingend Krisen verbunden. Als menschliche Individuen befinden wir uns in einem permanenten Prozess von Selbstschöpfung und Mündigwerden und müssen uns immer wieder neuen Lebensphasen anpassen. »Die vorübergehende Berauschung in Krisen kann dann ein probates Hilfsmittel darstellen, das Erleben existenzieller Krisen abzumildern« (S. 88). In der zugespitzten Form werden die notwendigen Veränderungen vermieden. Therapie heißt dann, diese Prozesse wieder in den Blick zu nehmen und anzugehen. Dies ist mit Angst und Schmerz verbunden. Deshalb ist der Titel »Lob des Zauderns« eine Aufforderung an die TherapeutInnenen, das Zaudern ihrer Klienten wertzuschätzen: »Ein Reflexionsraum wird eröffnet, in dem Menschen sich den Widernissen des bisherigen Lebens stellen und gleichzeitig abwägen können, ob, und wenn ja, auf welche Art der Mut zum Sprung riskiert werden kann« (S. 93).

Klein hat ein Dreiphasenmodell des Wandels entwickelt, in dem die Spezifik des systemischen Ansatzes sehr deutlich wird. Darin wird offensichtlich, dass sich der Wandel nicht allein auf das Trinken bezieht. Es geht darüber hinaus um Gewordensein, Selbstdefinition, Identität und die soziale Einbindung (Familie u.a.). In der jeweiligen Phase werden bestimmte Themen nacheinander abgearbeitet.

In der ersten Phase (Selbstregulation des Trinkens) geht es um das Trinkverhalten, die eigentliche Sucht-Therapie. Dabei ist Abstinenz nicht als »festgesetztes« Ziel, sondern als eine von verschiedenen Möglichkeiten im Diskurs, der vordringlich eine Problem-Lösungs-Balance sucht und die Beziehung des Klienten zu sich selbst thematisiert und fördert. Die Herausforderung des Trinkverhaltens wird zugespitzt mit der Frage: »Führen Sie das Leben, das Sie führen wollen?« Denn es gibt »gute Gründe« zu trinken und auch »gute Gründe«, das Nichttrinken zu vermeiden. Wichtig an der Tatsache, nicht ein bestimmtes Ziel vorzugeben, ist, dass durch Versuche die Erreichbarkeit unterschiedlicher Ziele (Reduktion, Abstinenz) praktisch ausprobiert werden kann. So wird versucht, eine kooperative Beziehung zwischen KlientIn und Therapeutin aufzubauen. Oft werden erste Zielformulierungen im weiteren Prozess korrigiert. In dieser Phase kann es vorkommen, dass Klienten und Therapeuten gemeinsam zu der Einschätzung kommen, dass es ohne eine stationäre Entwöhnungsbehandlung nicht möglich ist, Bewegung in das Trinkverhalten zu bekommen. Hilfsmittel sind da einerseits Trinktagebücher, aber auch das Ausprobieren alternativer Verhaltensoptionen in Drucksituationen wie kaltes Duschen, Eiswürfel lutschen etc. (S. 129).
»Hat sich eine bessere Selbstregulation des abhängigen Trinkens eingestellt, fokussiert die zweite Phase das Erleben und damit die individuelle Geschichte der Klienten« (S. 99). Oft hat die Veränderung des Trinkverhaltens/der Wegfall des Trinkens nicht nur positive Konsequenzen: »Klienten berichten von depressiven Verstimmungen, suizidalen Ideen, sie fühlen sich überfordert, einsam, und gelegentlich mündet eine solche Phase in ein erneutes süchtiges Trinken« (S. 161).
In diesem Therapieabschnitt geht es wie in jeder Therapie um Brüche, Traumata, Verluste und vermiedene Entwicklungsschritte. Dabei wird deutlich, dass es darauf ankommt, den passenden Zugang zu den unterschiedlichen KlientInnen zu finden. In Rudolf Kleins Praxis kommen sowohl hypnotherapeutische, hypnosystemische, systemische wie auch narrative Ansätze zur Anwendung. Er passt sie den individuellen Bedürfnis- und Notlagen der KlientInnen an, so dass sie einen Entwicklungssprung wagen können. Der Therapeut muss dabei das Zaudern respektieren und begleiten: »Ein gelingender Veränderungsprozess bedarf immer der Zustimmung der Person, die den Wandel vollziehen soll« (S. 95). Am Ende dieser Phase hat sich eine Stabilisierung in Bezug auf das Trinken ergeben. Bis dahin stand die individuelle Entwicklung des Klienten im Zentrum.
In der dritten Phase stehen dann systemisch-familientherapeutische Themen im Vordergrund: Vertrauen, Misstrauen und Beziehungsveränderungen. Es geht um die Zukunft: (Wie) können die Klienten in ihren sozialen Systemen unter den veränderten Bedingungen ihr Leben als BeziehungspartnerInnen und Eltern wahrnehmen? Nicht selten kommt es in dieser Phase zu (schmerzhaften) Veränderungen: »Eine partielle, manchmal auch radikale Umorganisation des sozialen Systems ist innerhalb oder als Folge dieser Therapiephase zu erwarten« (S. 183). Erst in dieser Phase scheint es sinnvoll, Angehörige in den Therapieprozess miteinzubeziehen oder ihnen anzuraten, sich selbst therapeutische Unterstützung zu organisieren.
Tiefen Eindruck hinterlässt dieses Buch, weil alle Prozesse anhand von vier Fallgeschichten (ein arbeitsloser Hilfsarbeiter, ein Handwerksmeister, ein Manager und eine Angestellte) in den unterschiedlichen Phasen und mit unterschiedlichen Themen sehr verständlich und differenziert anschaulich gemacht werden. Am Ende kommt es oft anders als am Anfang gewünscht: KlientInnen, die kontrolliert trinken lernen wollten, sind abstinent oder das Gegenteil ist der Fall. Im besten systemischen Sinne haben sich die Wahlmöglichkeiten erhöht. »So unterschiedlich die Ausgangsbedingungen der vier Klienten auch waren, so interessant sind die individuellen Entwicklungen. Manche Impulse dazu gingen von den therapeutischen Begegnungen aus. Manche kamen seitens der Familie oder des erweiterten sozialen Systems. Manche ergaben sich zufällig. Und manche bleiben unerklärlich und rätselhaft« (S. 220).

Am Ende von zwölf Kapiteln hatte ich den Eindruck: Rudolf Klein weiß über systemische Therapie mit dem Thema Sucht hervorragend Bescheid. Und dann: »Gerade wenn man zu glauben beginnt, einiges von der Dynamik der Alkoholabhängigkeit verstanden zu haben, ist eine kritische Distanz den eigenen Konzepten und Erfindungen gegenüber wünschenswert« (S. 221). Eine solche zweifelnde Einstellung ist eine modellhafte Selbstdefinition Systemischer Therapeutinnen.

Nicht nur wer mit Suchtthemen arbeitet, findet in diesem Buch Anregungen und Überraschungen. Eine kleine Verstörung am Ende gehört ebenfalls dazu. Es ist bedauerlich, dass das Credo der Rehabilitations- und Suchtberatungseinrichtungen mit ihrem Postulat »ohne Abstinenz geht gar nichts« für diese systemische Herangehensweise nicht offen ist. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist der Beschluss des GBA, dass eine ambulante Kurzzeitpsychotherapie auch ohne Abstinenz beginnen darf. Ihr Ziel muss jedoch laut Vorgabe sein, diese Abstinenz in den ersten zehn Therapiesitzungen herzustellen, ein Schritt in die richtige Richtung, aber, wie dieses Buch eindrücklich zeigt, zu kurz gedacht.

(Mit freundlicher Erlaubnis des Klett-Cotta-Verlages aus Familiendynamik Heft 4/2014)

links

 

Einleitung und Leseprobe

info

 

Rudolf Klein (2014): Lob des Zauderns. Navigationshilfen für die systemische Therapie bei Alkoholabhängigkeiten. Heidelberg (Carl-Auer)

229 S., kart.
Preis 29,95 €
ISBN 978-3-8497-0020-1

Verlagsinformation:

Traditionelle, von Kranken- und Rentenversicherern finanzierte Angebote der Suchttherapie bestehen in der Regel auf dem Ziel der absoluten Abstinenz. Dadurch riskieren diese Ansätze, eine Vielzahl an Veränderungen auszuschließen und eigentlich kooperationsbereite Klienten für unmotiviert zu erklären. Rudolf Klein plädiert dafür, die selbst gesteckten Ziele von Abhängigen stärker zu berücksichtigen: Abstinenz, kontrolliertes Trinken, weniger Trinken, „normales Trinken“ … Anhand von vier kompletten Fallverläufen präsentiert er praxiserprobte systemische Techniken und Methoden entlang der einzelnen Therapiephasen. Parallel dazu werden 24 typische Herausforderungen, vor denen Suchttherapeuten stehen, detailliert aus systemischer Sicht beschrieben. Zur Sprache kommen u. a. Überlegungen zu Therapiezielen, zur Motivationsarbeit, zu Rückfällen, zu Zwangskontexten, zu existenziellen Themen, zu speziellen Entwicklungsblockaden, zur Paar- und Familientherapie sowie zum Verhältnis zwischen abhängigen Eltern und ihren Kindern. Aus all dem entwickelt Rudolf Klein nicht nur ein gut nachvollziehbares Therapiemodell, sondern auch eine überaus praktische Navigationshilfe für die Arbeit mit Abhängigen, gespickt mit Ideen für den therapeutischen Alltag.

Inhalt:

1 Einleitung

2 Vom Ende, das ein Anfang ist

3 Systemische Reflexionen
3.1 Eckpfeiler eines traditionell-medizinischen Suchtmodells
3.2 Implikationen des traditionellen Modells

4 Systemische Annäherungen: Von Lebensproblemen und Problemsystemen
4.1 Ich sehe was, was du nicht siehst: Selbstbeobachtungen und Lebensprobleme
4.2 Du siehst etwas, was ich nicht sehe: Fremdbeobachtungen und Problemsysteme

5 Alkoholabhängigkeit: Ergebnis einer Selbstorganisation
5.1 Sie tun, was sie tun: Autonome Systeme
5.2 Autonome Systeme und Alkoholabhängigkeit
5.3 Alkoholabhängigkeit als sich selbst organisierendes System

6 Versuch einer systemischen Beschreibung
6.1 Ritualtheoretische Überlegungen
6.2 Biografische Hypothesen

7 Zwei Musterbeschreibungen
7.1 Muster 1: Schwellenprobleme
7.2 Muster 2: Grenzprobleme

8 Wandel: Herausforderungen, Chancen und Risiken
8.1 Existenzielle Krisen
8.2 Die Entritualisierung der Überwältigung
8.3 Von Passagen und Sprüngen
8.4 Therapie als Raum des Zauderns

9 Das Dreiphasenmodell des Wandels (DPM)

10 Die erste Phase
10.1 Nass oder trocken? – Enttabuisierung mehrdeutiger Therapieziele
10.2 Motivation wofür? – Die einfache Problem-Lösungs-Balance
10.3 Worum geht es? – Anstoßen existenzieller Herausforderungen
10.4 Wie wichtig bin ich mir? – Förderung der Beziehung zu sich selbst
10.5 Jetzt ist eh alles zu spät: Rückfälle und ihre Bedeutung für die Therapie
10.6 Ich schaff ’s nicht: Hinweise auf notwendige Entzugsbehandlungen
10.7 »Gibt’s nicht« geht nicht: Beobachtungen des eigenen Trinkverhaltens
10.8 Es trinkt mich: Hilfen zur Unterbrechung des Trinkmusters
10.9 Einer geht noch: Empfehlungen zum kontrollierten Trinken
10.10 Was kann man tun, wenn man (scheinbar) nichts tun kann? – Umgang mit Zwangskontexten
10.11 They never come back? – Wenn Klienten Termine nicht wahrnehmen
10.12 Nichtveränderung: Was nun?

11 Die zweite Phase
11.1 Worum geht es noch? – Die erweiterte Problem-Lösungs-Balance
11.2 Verborgene Schätze: Der Blick auf Resilienzen
11.3 Da war doch was? – Erfragen bisheriger Veränderungen
11.4 Fluch oder Chance? – Die Arbeit mit Loyalitäten
11.5 Flüchten oder Standhalten? – Der Umgang mit regressiven Dynamiken
11.6 Wenn, ja wenn …: Der Umgang mit Erwartungen an andere
11.7 Das war schon immer so: Die Arbeit mit Vorwürfen gegen sich und andere
11.8 Die volle Dröhnung: Die Kombination mehrerer Blockierungen

12 Die dritte Phase
12.1 Bleiben oder Gehen?
12.2 Misstrauen oder Vertrauen?
12.3 Eltern sein!?
12.4 Ein neuer Anfang?!

13 Schluss

Über den Autor:

Rudolf Klein Dr. phil., Studium der Sozialpädagogik; Tätigkeit als Gruppentherapeut in einer Klinik für Alkohol- und Medikamentenabhängige; Mitarbeiter einer ambulanten psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle mit dem Schwerpunkt Sucht; Approbation als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut; seit 2004 in freier Praxis tätig; Lehrtherapeut und Lehrender Supervisor der Saarländischen Gesellschaft für Systemische Therapie (SGST) und der Systemischen Gesellschaft (SG); Lehrtherapeut des Wieslocher Instituts für systemische Lösungen (wisl); Gastdozenturen in Luxemburg, Österreich, Polen, Russland, Schweiz, Ukraine.

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