Fischer, Hans Rudi (2004): Editorial: Methodisches und Konzeptuelles. In: Familiendynamik 29 (1): 1-3.
Kreische, Reinhard (2004): Die phobische Kollusion. Eine paartherapeutische Kasuistik. In: Familiendynamik 29 (1): 4-21.
abstract: Angstpatienten und Menschen mit phobischen Persönlichkeiten neigen bei ihrer Partnerwahl zu Kollusionen mit Partnern, die dazu tendieren, viele Funktionen, insbesondere eine Steuerungsfunktion, in der Partnerbeziehung und Familie zu übernehmen. Bei der phobischen Kollusion handelt es sich um Beziehungen zwischen einem phobischen und einem kontraphobischen Partner. Der phobische Partner befindet sich in einer »regressiven« und der kontrophobische Partner in einer »progressiven« Position. Am Beispiel einer paartherapeutischen Krisenintervention werden phobische Interaktionen in der Gegenwarts- und Herkunftsfamilie, phobische Interaktionen mit Ärzten und anderen Personen im sozialen Umfeld, typische Gegenübertragungen, kontraphobisches Verhalten und psychodynamische Hypothesen zur Herzphobie und zur phobischen Kollusion beschrieben.
Schmitt, Alain (2004): Magische Gestalten auf dem Familienbrett. In: Familiendynamik 29 (1): 22-53.
abstract: Der Artikel stellt eine neue Technik vor, die das Familienbrett (FB) und seine abstrakten Holzfiguren um konkrete, detailreiche Fingerpuppen ergänzt. Sie besteht darin, KundInnen zunächst zu bitten, ihr soziales Bezugssystem mit den Holzfiguren am FB aufzustellen (Standardmethode). Dann sollen sie aus einer vilefältigen Sammlung von Fingerpuppen jene aussuchen, die ihre Probleme repräsentieren, und sie dazu stellen. Die Fingerpuppen machen das Problem greifbarer, erleichtern die Suche nach Lösungen und ermöglichen symbolische Lösungen und deren Darstellung. Probleme und Lösungen werden so in Bezug zum sozialen Hintergrund gesetzt. Es handelt sich um eine Externalisierungstechnik, die sowohl diagnostischen wie therapeutischen Zwecken dient. Sie wird mit Fallbeispielen illustriert, in ihrer praktischen Umsetzung detailliert beschrieben und theoretisch begründet. Letzteres heißt, dass (1) auf die psychologischen Hintergründe und Wirkungen von Externalisierungen Bezug genommen wird, und dass (2) die Methode der Externalisierung in den Rahmen magisch-religiöser und animistischer Weltbilder gesetzt wird, deren Hauptform des Handelns das magische Wirken oder Zaubern ist. Aus dieser Sicht erlauben FB und Fingerpuppen magisches, primärprozess- und bildhaftes, den Emotionen nahes Denken und Handeln psychotherapeutisch zu nutzen (im Einzel- und Familien- oder Gruppen-Setting, mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen). Die Theorie ist übertragbar auf das FB an sich.
Linsenhoff, Arndt (2004): Trennungsmediation und Emotion. In: Familiendynamik 29 (1): 54-66.
abstract: Strittige Trennungen sind hochemotionale Prozesse. Bezugnehmend auf die Theorie der Affektlogik Luc Ciompis werden Vorstellungen zu den Emotionen und Kognitionen von Paaren entwickelt, die sich in Mediation begeben. Wie Mediatoren sich an deren Gestimmtheit ankoppeln und einen angemessenen prozesssteuernden Umgang anbieten können, wird im Folgenden dargestellt. Auf diesem Hintergrund werden Ergänzungen zu den bisherigen Ausbildungs- und Supervisionsinhalten vorgeschlagen.
Pleyer, Karl Heinz (2004): Rezension – Marie-Luise Conen (Hg.) (2002): Wo keine Hoffnung ist, muss man sie erfinden. Aufsuchende Familientherapie. Heidelberg (Carl-Auer-Systeme). In: Familiendynamik 29 (1): 67-68.
Wischmann, Tewes (2004): Rezension – Martin Spiewak (2002): Wie weit gehen wir für ein Kind? Im Labyrinth der Fortpflanzungsmedizin. Frankfurt (Eichborn). In: Familiendynamik 29 (1): 69-69.
Kandziora, Elisabeth (2004): Rezension – Rosmarie Welter-Enderlin, Bruno Hildenbrand (Hg.) (2002): Rituale – Vielfalt in Alltag und Therapie. Heidelberg (Carl-Auer-Systeme). In: Familiendynamik 29 (1): 70-70.
Clement, Ulrich (2004): Editorial: Sex? In: Familiendynamik 29 (2): 75-77.
Schmidt, Gunter & Johannes von Stritzky (2004): Beziehungsbiographien im sozialen Wandel. Ein Vergleich dreier Generationen. In: Familiendynamik 29 (2): 78-100.
abstract: In einer Interviewstudie (n = 776) an drei Generationen (1942, 1957 und 1972 geborene Großstädter) untersuchen die Autoren Veränderungen von Beziehungsverläufen in den letzten drei Jahrzehnten. Sie beschreiben eine ständige Zunahme der Beziehungsmobilität im Beobachtungszeitraum und die Abnahme von »Kontinuitätsbiographien« zugunsten von »Kettenbiographien«. Junge Erwachsene erleben ihre seriellen Beziehungen als wichtige Phase eines Such- und Sozialisationsprozesses. Der Wandel hat auch die ältere Generation erfasst. Viele 60-Jährige sind aus dem für diese Altersgruppe noch typischen traditionellen Entwurf einer Beziehungsbiographie (frühe Ehe, meist mit Kindern) in den mittleren Jahren ausgestiegen und leben in einer »Umbruchsbiographie« oder der »zweiten Kontinuitätsbiographie«. Drei Beziehungsszenarien werden beschrieben, die in Zukunft an die Stelle der herkömmlichen dominanten Szenarios der lebenslangen Ehe treten.
Schnarch, David (2004): Der Weg zur Intimität. »Sexual crucible« – Im Schmelztiegel der Sexualität. In: Familiendynamik 29 (2): 101-120.
abstract: Im Gegensatz zu der üblichen Suche nach Intimität, die das Problem der »Angst vor der Verlassenheit« lösen helfen soll, ist das tiefgehende Erkanntsein für diejenigen, die von der Bestätigung ihres Partners abhängig sind, weder beruhigend noch eine Quelle der Sicherheit. Wenn zwei Menschen heiraten, ist der Normalfall die emotionale Verschmelzung (bei geringer Differenzierung), worunter ihre Intimität leidet. Ihr Sexualleben wird langweilig und monoton, weil intensive Sexualität und Intimität (und deren Veränderung) weitaus bedrohlicher und beängstigender sind, als die Partner sich dies vorstellen können, und mehr gereifte Autonomie und Ichstärke erfordern, als sie aufbringen können. Therapeuten, die dies erkennen – und dem Paar nicht die üblichen »Kommunikationsfertigkeiten« beibringen oder die reziproke Bestätigung und Akzeptanz hervorheben -, können den Partnern helfen, ihre Intimitätsprobleme in den Dienst des persönlichen Wachstums und der Entwicklung ihrer Beziehung zu stellen.
Tiefer, Leonore (2004): Offensive gegen die Medikalisierung weiblicher Sexualprobleme. In: Familiendynamik 29 (2): 121-138.
abstract: Die Medikalisierung weiblicher Sexualprobleme ist ein gesellschaftlicher Prozess mit theoretischen wie auch praktischen Implikationen. Dieser wird von der Pharmaindustrie und der Urologenlobby aktiv gefördert, die zuvor in der Entwicklung von Seldenafil involviert waren, um einen neuen Markt für pharmazeutische Produkte und medizinische Dienste aufzubauen. Doch unerwarteterweise haben definitorische und methodische Probleme diesen Prozess verlangsamt. Feministische Klinikerinnen und Sozialwissenschafltlerinnen haben in den USA eine Kampagne ins Leben gerufen, in der die Medikalisierung weiblicher Sexualprobleme hinterfragt wird und die eine öffentliche Diskussion anregen und an bestimmten Orten Widerstand formieren soll.
Matthiesen, Silja & Margret Hauch (2004): Wenn sexuelle Erfahrungen zum Problem werden. In: Familiendynamik 29 (2): 139-160.
abstract: Ausgelöst durch den Markterfolg des Potenzmittels Viagra und das große Interesse der Pharmaindustrie an der Medikalisierung weiblicher sexueller Funktionsstörungen, wird in der Sexualwissenschaft gegenwärtig eine kontroverse Debatte um eine sinnvolle Neu-Klassifikation sexueller Probleme von Frauen geführt. Vor diesem Hintergrund untersucht der vorliegende Aufsatz das Vorkommen sexueller Probleme in Deutschland anhand einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe (776 Hamburger und Leipziger Frauen und Männer der Geburtsjahrgänge 1942, 1957, 1972). Zentrale Fragestellungen waren die Häufigkeit sexueller Probleme in festen Beziehungen, der Einfluss von Geschlecht, Alter und Lebenssituation sowie die Auswirkungen sexueller Probleme auf die Beziehungszufriedenheit. Dabei zeigt sich, dass eine Differenzierung zwischen sexuellen Schwierigkeiten und sexuellen Problemen über eine Operationalisierung des »persönlichen Leidensdrucks« die Prävalenz sexueller Probleme in der Bevölkerung von über 40 % auf das seriöse Maß von etwa 10% reduziert.
Tiedemann, Friederike von (2004): Gezielte Prozess-Steuerung bei sexuellen Themen in der Paartherapie. In: Familiendynamik 29 (2): 161-176.
abstract: Anhand einer Falldarstellung wird der Einsatz sensibel ausgewählter Interventionen bei sexueller Luststörung praxisnah dargestellt. Im Wechsel zwischen Transkripteinheiten und Prozessanalyse wird die kombinierte Anwendung und Wirkung von folgenden Interventionen detailliert beschrieben: Bilanzierungs- und hypothetische Fragen, Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus, Formulierung eines »idealen sexuellen Szenarios«, Analyse und Visualisierung destruktiver Interaktionen, Verhandlung von Verhaltensalternativen und Symptomverschreibung.
König, Oliver (2004): Editorial: Familie herstellen – soziologische Sichtweisen. In: Familiendynamik 29 (3): 181-184.
Hochschild, Arlie (2004): Die Warenfront – Zur Kommerzialisierung des privaten Leben. In: Familiendynamik 29 (3): 185-208.
abstract: In diesem Aufsatz untersuche ich die Reaktionen von Studierenden auf eine Anzeige, in der im Internet eine Stelle angeboten wurde, bei der eine weibliche Bewerberin viele Aufgaben übernehmen sollte, die normalerweise von einer Ehefrau übernommen werden – sie sollte beispielsweise Rechnungen bezahlen, als Gastgeberin fungieren, Reisebegleiterin spielen, »sinnliche Massagen« geben und vertrauliche Mitteilungen für sich behalten. Ich fragte die Studierenden, inwiefern und warum sie diese Anzeige irritierte. Meines Erachtens liegt die Antwort nicht darin, dass die Kommerzialisierung des Privatlebens ein neues Phänomen wäre, sondern darin, dass wir a) von der Existenz einer kulturellen Sphäre ausgehen, die vom Markt getrennt ist, b) im Hinblick auf die Form und Kontinuität unserer Familie und des Lebens in der Gemeinschaft immer unsicherer sind, c) die Rolle der Ehefrau und Mutter als »unerschütterlicher Fels« des Familienlebens zunehmend fetischisieren und d) es eine neue »Mami-Industrie« gibt, die diese Rolle in Frage stellt.
König, Tomke & Andrea Maihofer (2004): «Es hat sich so ergeben« – Praktische Normen familialer Arbeitsteilung. In: Familiendynamik 29 (3): 209-232.
abstract: Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die gegenwärtig unstrittige These, wonach Familie immer weniger als eine selbstverständliche gesellschaftliche Konvention gelebt wird. Paare, die Kinder bekommen, müssen heute individuell »herausfinden«, wie sie die Haus-, Erziehungs- und Erwerbsarbeit aufteilen und organisieren wollen. Empirische Forschungen zeigen, dass es zur Regelung des Alltags immer komplexerer Verständigungsprozesse bedarf. Doch diesen Untersuchungen zufolge erfasst die »Modernisierung« nicht gleichermaßen das Denken und Handeln der Individuen. Entgegen einem egalitären Selbstverständnis der sozialen Akteure setzen sich in ihrem alltäglichen Handeln immer wieder traditionelle Muster geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung durch.
Im ersten Abschnitt problematisieren wir die dieser These zugrunde liegende ideologiekritische Trennung von Denken und Handeln und erläutern unsere eigene ideologietheoretische Perspektive. Aus dieser Perspektive wird ein spezifisches empirisches Vorgehen und Material erforderlich, das wir in einer Pilotstudie entwickelt haben. Anhand eines Beispiels aus dieser Studie illustrieren wir, wie sich die Prozesse gestalten können, in denen ein spezifisches Arrangement innerfamilial entsteht, und welche Kriterien dabei eine Rolle spielen. Im Anschluss daran beschreiben wir, wie dieses Paar die Arbeit konkret teilt. Überprüft wird dabei, ob sich diese Arbeitsteilung gegen den ausdrücklichen Willen der Beteiligten durchsetzt. Die ungleiche Struktur und Aufteilung der Erziehungsarbeit erweist sich als das Ergebnis eines komplexen Geflechts von Absprachen, gemeinsam gefundenen Kompromissen, eingespielten Gewohnheiten, von unterschiedlichen Wünschen, Fähigkeiten und Vorstellungen. Eine besondere Rolle spielen dabei die verschiedenen Vorstellungen und Erwartungen innerhalb der einzelnen Individuen. Im letzten Abschnitt beschäftigen wir uns schließlich mit der Frage, was es für die Einzelnen heißt, Familie »herstellen« zu müssen.
Burkart, Günter (2004): Selbstreflexion und Familienkommunikation. Die Kultur virtuoser Selbstthematisierung als Basis der Modernisierung von Familie. In: Familiendynamik 29 (3): 233-256.
abstract: In den Sozialwissenschaften wurde in den letzten beiden Jahrzehnten viel über Individualisierung debattiert. Man konzentrierte sich dabei auf Fragen von Wahlmöglichkeiten, Enscheidungsautonomie, Bastelbiografie u. Ä.; um die Frage, wie das Individuum sich selbst thematisiert und reflektiert, ging es nur am Rande. Die folgenden Ausführungen setzen hier an. Selbstthematisierung wird verstanden als eine von drei Dimensionen der Individualisierung, die zunächst kurz skizziert werden (1). Hintergrundthese ist die Vermutung, dass kulturelle Formen von Selbstbeobachtung und Selbstreflexion an Bedeutung gewonnen haben. Es folgt eine Skizze von Techninken und Institutionen der Selbstthematisierung (2), bevor dann von »Virtuosen der Selbstthematisierung« die Rede ist – Personen, die in besonderer Weise geschult sind, sich zu beobachten und auf das eigene Selbst zu achten, das eigene Leben kontinuierlich reflexiv zu thematisieren (3). Abschließend (4) wird gefragt, was dieses Entwicklung für die Familie bedeuten könnte. Bestimmte Formen der Selbstthematisierung, so die allgemeine These, ist für Gemeinschaften wie Paarbeziehungen und Familien wichtig; die Familie kann den Individualismus produktiv integrieren, der sonst häufig mit ihrem Untergang in Verbindung gebracht wird, wenn er etwa mit narzisstischer Selbstverwirklichung gleichgesetzt wird.
Hildenbrand, Bruno (2004): Fallrekonstruktive Familienforschung und Familientherapie: Die Sequenzanalyse in der Genogrammarbeit. In: Familiendynamik 29 (3): 257-287.
abstract: Es wird hier eine Perspektive der Genogrammarbeit vertreten, derzufolge Genogramme sich nicht dafür eignen, Familiengeschichten neu zu erzählen und aus der Beschreibung von Wiederholungen von Familienkonstellationen und Familienereignissen auf Regelhaftigkeiten zu schließen. Auch halten wir die Vermischung von »objektiven« Genogrammdaten mit Deutungen der im Genogramm vorkommenden Personen nicht für hilfreich. Wir vertreten die Auffassung, dass Genogramme in der Abfolge »objektiver Daten« wie Geburts- und Todestag, Beruf, Wohnort, Heirat das Ergebnis von Entscheidungen in lebenspraktisch zu bewältigenden Krisen vor dem Hintergrund objektiv gegebener Möglichkeitsräume sind. Diese wie auch die sukzessive getroffene Wahlen gilt es Schritt für Schritt, also sequenzanalytisch, zu rekonstruieren, an jeder Sequenzstelle gedankenexperimentell Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten zu entwickeln und mit den tatsächlich getroffenen Entscheidungen zu konfrontieren, um so ein Muster zu entdecken, das es ermöglicht, den Grad der lebenspraktischen Autonomie eines Familienzusammenhangs zu beschreiben. Dieses kann dann in einem zweiten Schritt mit den Deutungen, die die Akteure selbst entwickelt haben, verglichen werden.
Schmidt, Gunther (2004): Rezension – Rudolf Klein (2002): Berauschte Sehnsucht. Heidelberg (Carl-Auer). In: Familiendynamik 29 (3): 288-289.
Ruf, Gerhard Dieter (2004): Rezension – Arnold Retzer (2004): Systemische Familientherapie der Psychosen. Göttingen/Bern/Toronto/Seattle (Hogrefe). In: Familiendynamik 29 (3): 289-291.
Willi, Jürg (2004): Rezension – Helm Stierlin (2003): Die Demokratisierung der Psychotherapie. Stuttgart (Klett-Cotta). In: Familiendynamik 29 (3): 291-293.
Ritscher, Wolf (2004): Rezension – Günter Reich (2003): Familienbeziehungen von Patientinnen mit Bulimia nervosa. Heidelberg (Asanger; Günter Reich (2003): Familientherapie der Essstörungen. Göttingen (Hogrefe). In: Familiendynamik 29 (3): 293-296.
Fischer, Hans Rudi (2004): Editorial: Hirn – Bewusstsein – Psyche. In: Familiendynamik 29 (4): 303-308.
Heintel, Peter & Kurt Broer (2004): Welche Gehirnforschung für die Familientherapie? Einige systematische Perspektiven und Fragen zu einer »Hirnforschung als dialektische Sozialwissenschaft«. In: Familiendynamik 29 (4): 309-328.
abstract: Der naturwissenschaftliche Realitätsbegriff der Hirnforschung erfasst nicht das synthetisch Lebendige und nicht das Denken des Gehirns als unermessliches Widerspruchsfeld. Als historisches Organ ist das Gehirn nur organisch nicht begreifbar. Für eine Hirnforschung als dialektische Sozialwissenschaft steht die Rückkopplung zwischen dem Hirn als Werk und Denkwerkzeug im argumentativen Zentrum, eine noch immer für Forscher – die dem naturwissenschaftlichen Realitätsbegriffe anhängen – provokante »Top-down«-These. Es wird für eine Paradigmenkorrektur plädiert. Immerhin, Psychotherapie (Familientherapie) argumentiert und operiert weitgehend wie die kritische Philosophie, denn jede psychotherapeutische Intervention weist unvermeidlich derartige Rückwirkungseffekte auf. Als konkrete dialektische Problemfelder werden diskutiert: die Risiken der heutigen Beschleunigungsgesellschaften, die Bedeutung von Mehrfachidentitäten, die emotionelle Polarität zwischen positiv besetzter Kleingruppe (Familie) und negativ besetzter Organisation, die Widersprüche bzw. Ambivalenzen von Bewahren und Verändern, der Kampf um Deutungsmacht, die Reflexionsverweigerung.
Kurthen, Martin (2004): Kognitive Neurowissenschaft und Psychotherapie. In: Familiendynamik 29 (4): 329-347.
abstract: Wird der Aufstieg der Neurowissenschaften die Psychotherapie unterstützen oder in wissenschaflticher und klinischer Hinsicht in Bedrängnis bringen? Der vorliegende Artikel argumentiert trotz des vorherrschenden Reduktionismus in der Neurowissenschaft für eine Ko-Evolution von Psychotherapie und Neurowissenschaft zu einer Neuro-Psychotherapie, die das wachsende neurowissenschaftliche Wissen für die Verbesserung psychotherapeutischer Verfahren nutzt. Beide Disziplinen konvergieren über die Themen der Verkörperung, der sozialen Kognition und der Emotion. Der Artikel diskutiert diese Konvergenz und beleuchtet den neurowissenschaftlichen Zugang zu verkörperter Kognition anhand der »Theory of mind«-Fähigkeit und der Neurobiologie sozialer Normen.
Bonney, Helmut (2004): Neurobiologie – Ende der Psychotherapie? Was kann die Neurobiologie zur Rettung der Psychotherapie leisten? In: Familiendynamik 29 (4): 348-362.
abstract: Die heute gültigen Diagnose- und Klassifikationssysteme psychischer Störungen verzichten im Wesentlichen auf psychopathogenetische oder -logische Einordnung und ermöglichen durch reine Verhaltensbeschreibung eine Offenheit für verschiedene psycho- oder auch pharmakotherapeutische Ansätze. Die Beschränkung auf phänomenologische Aspekte der Störungsbilder birgt die Gefahr, allein auf die Wiederherstellung der Funktionalität zu fokussieren, ohne die Entwicklungs- und Lebensumstände des betroffenen Menschen zu berücksichtigen. Zudem fasziniert die neurobiologische Forschung mit neuen Techniken, das Gehirn gleichsam bei der Arbeit zu beobachten und nährt damit die Illusion, mit diesen Beobachtungen zugleich das zentrale Geschehen im Fall von Gesundheit oder Kranksein erfasst zu haben. Damit einher geht die Neigung zu einem neurobiologischen Reduktionismus, dem die pharmazeutische Industrie mit der Entwicklung von Substanzen entspricht, die anscheinend ein gezieltes Eingreifen in den Hirnmetabolismus ermöglichen. Schnelle Wirksamkeit innerhalb der »black box« zu erreichen korrespondiert mit einer Intention der »Schnellfeuerkultur«, die der chemischen Intervention gegenüber besonders aufgeschlossen scheint. Der Umgang mit dem ADHS-Konstrukt liefert ein anschauliches Beispiel für eine moderne therapeutische Haltung, die der Arzneianwendung größeres Vertrauen einräumt, als einem komplexeren psychotherapeutischen Handeln. Die therapeutische Zukunft tut gut daran, biologische und psychotherapeutische Sichtweisen zu integrieren.
Fischer, Hans Rudi (2004): Neurobiologie und Psychotherapie – Lost in Translation? Ein kritischer Überblick zur neueren Literatur. In: Familiendynamik 29 (4): 363-403.
abstract: In den letzten Jahren sind viele Publikationen erschienen, die sich mit den Ergebnissen und Fragestellungen der durch die bildgebenden Verfahren bereicherten Hirnforschung beschäftigten. Die von der Hirnforschung aufgeworfenen Fragen haben inzwischen auch den psychotherapeutischen Diskurs erreicht. Was sind die Konsequenzen für Psychologie und Psychotherapie? Der Artikel gibt einen Überblick über die Geschichte der Psychologie, die immer Naturwissenschaft sein wollte, und sieht die Psychologie in der reduktionistischen Hirnforschung («alles Neuro«) auf ihre Ursprünge zurückkommen. In einer kritischen Würdigung bespricht der Autor ausführlich fünf aktuelle Bücher daraufhin, welche Fragen sie offen lassen, mit welchen Inkonsistenzen sie argumentieren und ob sie der Psychotherapie etwas zu sagen haben. Fischer bezweifelt die Kommensurabilität beider Paradigmen und wirft anhand der besprochenen Bücher und Bilder des Mentalen die Frage auf, ob die vorschnelle Übersetzung neurowissenschaftlicher Hypothesen in die Psychotherapie nicht zu einem »lost in translation« zwischen beiden führt. Eine Psychotherapie, die die Beobachtungskriterien – die Unterscheidungen, mittels derer beobachtet wird – für Erfolg oder Misserfolg aus der Hirnforschung übernähme, wäre zur Hirntherapie geworden, die ihr Selbstverständnis und ihre Identität als Psychotherapie aufgegeben hätte.