Heft 1
Retzer, Arnold & Fritz B. Simon (1998): Editorial: Familie, Erziehung, Schule. In: Familiendynamik 23 (1): 1-5.
Reich, Kersten (1998): Die Kindheit neu erfinden. In: Familiendynamik 23 (1): 6-24.
abstract: Die Kindheit ist als genuiner Forschungsbereich der Pädagogik zunehmend verschwunden. Sozialwissenschaftliche und psychologische Ansätze dominieren in der Analyse von Kindheit. Für eine innovative pädagogische Arbeit ist dies unzureichend. Insbesondere treten konstruktive, verändernde Entwürfe für Handlungen in der Praxis zunehmend in den Hintergrund. Aus konstruktivistischer Sicht ist hier ein Umdenken erforderlich. In sieben Thesen werden Grundannahmen darüber entwickelt, inwieweit es erforderlich erscheint, die Kindheit neu zu erfinden.
Rotthaus, Wilhelm (1998): Erziehung aus systemischer Sicht. In: Familiendynamik 23 (1): 25-39.
abstract: Lassen sich aus systemischer Perspektive Anregungen für ein neues Verständnis von Erziehung ableiten? Um dieser Frage nachzugehen, werden im ersten Teil des Beitrags die gesellschaftlichen Grundlagen von Erziehung in traditionellem Verständnis hinterfragt und angesichts offensichtlicher Änderungen im Selbstverständis von Erwachsenen und Kindern heute eine neue Erwachsenen-Kind-Beziehung angeregt. Diese wird im zweiten Teil konkretisiert, indem beispielhaft einzelne Dimensionen des Erziehungsprozesses unter systemischer Sicht näher betrachtet werden.
Käser, Roland (1998): Die Schule als komplexes System. In: Familiendynamik 23 (1): 40-59.
abstract: Der Artikel zeigt auf, wie systemische, ökologische und kommunikationstheoretische Konzepte und Modelle für die Beschreibung und Interpretation schulischer Phänomene fruchtbar gemacht werden können. Zur Einführung werden in einem ersten Teil Entwicklungslinien des systemischen Denkens im Schulbereich in Europa und in den USA nachgezeichnet. Im Hauptteil werden zentrale ökosystemische und kommunikationstheoretische Grundaussagen zu sieben Leitideen verdichtet. Mit Hilfe dieser kognitiven Matrix werden Phänomene, wie sie täglich im Alltag der Schule und des Klassenzimmers beobachtet werden, neu interpretiert. Wenn auch die Einsicht und das Erkennen neuer Zusammenhänge im Zentrum stehen, wird immer auch überlegt, welche Konsequenzen für mögliche Interventionen daraus gezogen werden können.
Storath, Roland (1998): «Sag‘ mir (nicht), Was ich tun soll!« – Überlegungen zur Elternberatung in der Schule. Vom »Rat-Schlag« zum Verhandeln zwischen Überzeugungsmustern. In: Familiendynamik 23 (1): 60-80.
abstract: Im Artikel wird der Frage nachgegangen, warum Ratschläge von Pädagogen immer wieder »leerlaufen«. Vertreten wird die These, daß Eltern der Beratung ambivalent gegenüberstehen: Sie halten sie für wichtig, befürchten aber gleichzeitig Verletzungen ihrer Autonomie. Der vom Berater wahrgenommene Wunsch »Sag’ mir, was ich tun soll« droht bei Nichtbeachtung der Ambivalenz wie der subjektiven Theorie der Ratsuchenden umzuschlagen zum Widerstand »Sag’ mir nicht, was ich tun soll«. Eine Analyse der Beratungsinteraktion führt zum Vorschlag, neben der Klärung der Beratungsbedingungen der Verhandlung zwischen den Theorien von Ratsuchenden und Berater mehr Platz einzuräumen.
Leonhardt, Ellen (1998): Was macht eine Lehrerin anders, wenn sie in ihrer Klasse »sytemisch« zu arbeiten versucht? Ein Erfahrungsbericht. In: Familiendynamik 23 81-92.
abstract: Die Autorin schildert Erfahrungen, die sie als Lehrerin einer Grundschulklasse bei ihren Versuchen machte, aus systemischen Modellen alternative Strategien im Umgang mit der Klasse bzw. einzelnen Schülern und Eltern abzuleiten. Es zeigt sich, daß sehr kleine, oft wenig spektakulär erscheinende Maßnahmen zur Lösung von alltäglichen Problemen eines Lehrers beitragen können.
Simon, Fritz B. & Arnold Retzer (1998): «Therapeutische Schnittmuster« – ein Projekt. In: Familiendynamik 23 (1): 93-99.
abstract: Haute Couture und Konfektion – Argumente für eine differenzierte systemische Diagnostik, Pathologie und Behandlungsmethode – die Diagnostik der Probleme und die Probleme der Diagnostik – von der therapeutischen Beliebigkeit zur therapeutischen Spezifität – das Projekt »therapeutisches Schnittmuster«
Hansen, Jürgen Rolf (1998): Rezension – Richard C. Schwartz (1997): Systemische Therapie mit der inneren Familie. Mit einem Vorwort von Helm Stierlin. München (Pfeiffer). In: Familiendynamik 23 (1): 100-101.
Rohmann, Josef A. (1998): Rezension – W. E. Fthenakis et al. (1995): Gruppeninterventionsprogramm für Kinder mit getrennt lebenden oder geschiedenen Eltern: TSK Trennungs- und Scheidungskinder. Weinheim/Basel (Beltz). In: Familiendynamik 23 (1): 101-102.
Rohmann, Josef A. (1998): Rezension – W. Jaede, J. Wolf & B. Zeller-König (1996): Gruppentraining mit Kindern aus Trennungs- und Scheidungsfamilien. Weinheim (Beltz-PVU). In: Familiendynamik 23 (1): 102-102.
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Heft 2
Retzer, Arnold & Fritz B. Simon (1998): Editorial: Paare. In: Familiendynamik 23 (2): 113-116.
Duss-von Werdt, Josef (1998): Paarkonflikte in der Mediationspraxis. In: Familiendynamik 23 (2): 117-128.
abstract: Es wird folgende Grundidee entwickelt und an Beispielen verdeutlicht: Mediation mit Paaren in Trennung und Scheidung hat es primär mit Sachproblemen und nicht mit der Lösung von Paarkonflikten zu tun. Deshalb ist sie etwas anderes als Paartherapie und kann nicht mit deren Ansprüchen und Gesetzmäßigkeiten gemessen werden. Die Konflikte jedoch säumen stets den Weg der Mediation und beeinflussen seinen Verlauf in unterschiedlicher Weise. Mediation wird als eine rationale Tätigkeit geschildert, die sich auf dem irrationalem Gelände des Konflikts abspielt. Auch unter Mediatorinnen und Mediatoren besteht keine einheitliche Vorstellung darüber, was Mediation sei. Das gilt sowohl für die sie praktizierenden Berufe (Anwältinnen, Sozialarbeiter, Psychotherapeutinnen, Familientherapeuten usf.), als auch für ihre verschiedenen Anwendungsbereiche in Schule, Wirtschaft, Miet- und Erbrecht. Vorab gilt es für Trennungs- und Scheidungsmediation. Es erscheint deshalb für das Verständnis der folgenden Darstellungen sinnvoll zu sein, zuerst transparent zu machen, wie Mediation bei Trennung und Scheidung hier verstanden wird.
Limacher, Bernhard & Jürg Willi (1998): Wodurch unterscheidet sich die ökologisch-koevolutive Therapiekonzeption von einer systemisch-konstruktivistischen? In: Familiendynamik 23 (2): 129-155.
abstract: In der vorliegenden Arbeit wird der ökologisch-koevolutive Therapieansatz einem systemisch-konstruktivistischen gegenübergestellt. Zunächst werden die unterschiedlichen Ausgangspunkte der Konzeptentwicklung aufgezeigt, anschließend Unterschiede im Menschenbild sowie im Verständnis therapierelevanter Probleme dargestellt. Weiter wird die unterschiedliche Schwerpunktsetzung in der Therapie sowie der verschiedenartige Umgang mit psychiatrischem Fachwissen beschrieben. Schließlich wird die therapeutische Praxis beider Ansätze anhand von zwei Fallbeispielen illustriert.
Textor, Martin R. (1998): Enrichment und Paarberatung – Hilfen auf dem Weg durch den Ehezyklus. In: Familiendynamik 23 (2): 156-170.
abstract: Dysfunktionale Ehebeziehungen – ob sie in eine Trennung münden oder nicht – haben oft negative Folgen für das psychische und physische Wohlbefinden von Erwachsenen und die Entwicklung von Kindern. Deshalb muß präventiven Angeboten eine größere Bedeutung als bisher zukommen. Diese sollten sich an den Phasen des Ehezyklus, die in einer Tabelle genauer beschrieben werden, und an den dazwischen liegenden Transitionen orientieren. Im folgenden werden vor allem in den USA entwickelte Maßnahmen der Ehebereicherung vorgestellt, die in Deutschland noch sehr selten sind. Flächendeckend angeboten wird hingegen Eheberatung, für die es ganz unterschiedliche therapeutische Ansätze gibt. Evaluationsstudien zeigen jedoch, daß sie häufig die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt.
Mattes, Claudia & Guy Bodenmann (1998): Die Bewältigung von Eifersucht in Partnerschaften. In: Familiendynamik 23 (2): 171-196.
abstract: Ziel dieser Untersuchung war die Analyse von emotionalen Reaktionen und Bewältigungsverhalten betroffener Personen als Reaktion auf verschiedene potentiell eifersuchtsauslösende Situationen. Das in den präsentierten Situationen inhärente Bedrohungspotential wurde systematisch variiert. Wenig zufriedenstellende Partnerschaften werden häufiger von jeder Form von Untreue betroffen. Negative Emotionen eifersüchtiger Personen gehen mit negativer Interaktion mit der untreuen Partnerin/dem untreuen Partner einher. Im Gegensatz zu anderen Untersuchungen wurden nur schwache Zusammenhänge zwischen Partnerschaftsqualität und dyadischen Bewältigungshandlungen gefunden. Hinsichtlich der Eifersuchtsintensität zeigte sich sowohl die Bedeutung kognitiver Variablen wie Einstellungen, als auch die Relevanz der individuellen Bewältigungskompetenz. Insgesamt ergaben sich geringe Geschlechtsunterschiede: Frauen reagierten emotional aggressiver auf eine Verletzung der sexuellen Exklusivität der Partnerschaft durch ihre Partner, Männer hingegen verhielten sich allgemein passiver.
Simon, Fritz B. & Arnold Retzer (1998): »Therapeutische Schnittmuster« – ein Projekt. Ein systemisches Diagnose-Schema. In: Familiendynamik 23 (2): 197-215.
abstract: Es wird ein System theoretisch begründetes Diagnose-Schema dargestellt, das von der Unterscheidung zwischen Plus- und Minus-Symptomen als charakteristischen Abweichungen von sozialen Erwartungen ausgeht. Darüber hinaus wird eine Zuordnung des Auftretens und der Entstehung von Symptomen zu unterschiedlichen Phänomenbereichen (Organismus, Psyche, Kommunikationssystem) vorgenommen und ein Schema zur Beschreibung der Organisation von Konflikten in sozialen Systemen (Familien, Institutionen etc.). Es ermöglicht eine symptomspezifische Differenzierung familiärer und institutioneller Muster. Das vorgestellte diagnostische Schema soll die Grundlage für die Entwicklung spezifischer therapeutischer Strategien bilden.
König, Oliver (1998): Rezension – Günter Burkart (1997): Lebensphasen – Liebesphasen. Vom Paar zur Ehe zum Single und zurück? Opladen (Leske und Budrich). In: Familiendynamik 23 (2): 216-218.
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Heft 3
Retzer, Arnold & Fritz B. Simon (1998): Editorial: Variationen von Elternschaft. In: Familiendynamik 23 (3): 229-231.
Stammer, Heike, Tewes Wischmann & Rolf Verres (1998): Paartherapie bei unerfülltem Kinderwunsch. In: Familiendynamik 23 (3): 232-251.
abstract: Vorgestellt wird ein Konzept fokaler Paarpsychotherapie bei ungewollter Kinderlosigkeit, das im Rahmen der »Heidelberger Kinderwunsch-Sprechstunde« entwickelt wurde. Grundlage ist ein biopsychosoziales Verständnis der Fruchtbarkeitsstörungen, das eine Kooperation verschiedener Berufsgruppen (Ärzten und psychosozialen Beratern) und den betroffenen Paaren erfordert. Ziel unseres therapeutischen Vorgehens ist der Versuch, durch eine Flexibilisierung der Paarkommunikation eine bessere Bewältigung der Fertilitätskrise zu ermöglichen und neue Lösungswege für die Zukunft des Paares zu eröffnen.
Müller-Schlotmann, Richard M.L. (1998): Folgeelternschaft. Pflegefamilie und Stieffamilie aus interaktionistischer Perspektive. In: Familiendynamik 23 (3): 252-265.
abstract: Folgeelternschaft grenzt sich von der Eltern-Kind-Beziehung in der Kernfamilie dadurch ab, daß sie lediglich sozial, nicht biologisch begründet ist. Immer mehr Kinder erleben die Wiederverheiratung eines Elternteils und wachsen mit einem Stiefelternteil auf. Andere Kinder können nicht in der eigenen Familie bleiben und werden in Pflegefamilien vermittelt. Diesen Kindern ist gemeinsam, daß sie Beziehungen zu Erwachsenen auf der Grundlage vorhergehender primärer Beziehungserfahrungen gestalten. Ein Vergleich von Ergebnissen der Stieffamilien- und der Pflegefamilienforschung legt nahe, daß die Beratung von Stieffamilien bei Beziehungs- und Erziehungsproblemen durch die Hinzuziehung von Fachkräften aus dem Pflegekinderdienst effektiver gestaltet werden kann.
Heekerens, Hans-Peter (1998): Der allein stehende Vater und seiner Familie – eine Näherung aus demographischer Sicht. In: Familiendynamik 23 (3): 266-289.
abstract: Auf der Basis von Mikrozensus-Daten aus den Jahren 1961, 1985, 1991, 1993 und 1995 sowie Ergebnissen spezieller Einzelerhebungen aus den Achtzigern werden im systematischen und historischen Vergleich Angaben zum alleinstehenden Vater und seiner Familie vorgestellt zu den Punkten: Verbreitung, Typen, allgemeine Lebenssituation, sozio-ökonomische Situation, Kinderbetreuung, soziales Netz, professionelle Hilfen, Belastungsfaktoren, psychische Probleme und Partnerschaftswünsche.
Duss-von Werdt, Josef (1998): Die Zweifel des Ödipus, Adoptivsohn der Könige von Korinth. In: Familiendynamik 23 (3): 290-302.
abstract: In diesem Beitrag werden zwei Themenbereiche miteinander verbunden. Der erste ist familienphilosophisch und betrifft die Fragen von Herkunft und Zugehörigkeit. Der zweite liest den Ödipusmythos anders, als es die fast zu mythischer Popularität gelangte Version von Sigmund Freud tut.
Retzer, Arnold & Fritz B. Simon (1998): «Therapeutische Schnittmuster« – ein Projekt. Schizophrenie-Therapie I. In: Familiendynamik 23 (3): 303-315.
abstract: Auf der Grundlage des von den Autoren entwickelten systemischen Diagnose-Schemas werden schizophrene Symptome klassifiziert und die damit verbundenen Kommunikationsmuster beschrieben. Vieldeutigkeit produzierende innerfamiliäre Kommunikationsmuster werden als Mittel zur Auflösung zentraler Konfliktthemen und Dilemmata dargestellt (individuelle Schuld und Unschuld, Autonomie und Abhängigkeit). Das therapeutische Grundprinzip der Schizophrenie-Therapie – die Wiedereinführung des Exkommunizierten in die Kommunikation – wird erläutert und an Beispielen demonstriert.
Riehl-Emde, Astrid & Dagmar Hosemann (1998): Systemischer Alltag. In: Familiendynamik 23 (3): 316-318.
Roderburg, Sylvia (1998): Rezension – Klaus G. Deissler (1997): Sich selbst erfinden? Von systemischen Interventionen zu selbstreflexiven therapeutischen Gesprächen. Münster/New York/München/Berlin (Waxmann). In: Familiendynamik 23 (3): 319-320.
Krüll, Marianne (1998): Rezension – Uwe Heilmann-Geideck/Hans Schmidt (1996): Betretenes Schweigen – Über den Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt. Mainz (Matthias-Grünewald- Verlag, Edition Psychologie und Pädagogik). In: Familiendynamik 23 (3): 320-321.
Hargens, Jürgen (1998): Rezension – Susan H. McDaniel, Jeri Hepworth & William J. Doherty (Hrsg.) (1997): Familientherapie in der Medizin. Ein biopsychosoziales Behandlungskonzept für Familien mit körperlich Kranken. Heidelberg (Carl-Auer). In: Familiendynamik 23 (3): 321-322.
Kowalczyk, Achim (1998): Rezension – Ellen K. Quick (1996): Doing what works in brief therapy. A strategic solution focused approach. San Diego, Ca. (Academic Press). In: Familiendynamik 23 (3): 323-323.
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Heft 4
Retzer, Arnold, Ulrich Clement & Fritz B. Simon (1998): Editorial: Sex, Liebe und Lustlosigkeit. In: Familiendynamik 23 (4): 331-334.
Theweleit, Klaus (1998): Salzen und Entsalzen. Wechsel in den sexuellen Phantasien einer Generation, 60er bis 90er Jahre. In: Familiendynamik 23 (4): 335-347.
abstract: Theweleit analysiert die rebellisch-visionäre Sexualität der späten 60er Jahre als Antwort der damals jungen Generation auf die Schuld der eigenen Eltern an der Teilnahme oder Duldung am Judenmord der Nazizeit. In Anschluß an eine These von Reiche führt er aus, daß die Sexualisierung dazu gedient habe, die Wahrnehmung dieser Schuld zuzudecken. Die Idee einer sexuellen Befreiung durch die gelebte »Triebtat ohne Schuld« habe der Schonung der Eltern gedient. Am literarischen Beispiel eines Textes von Arno Schmidt aus den fünfziger Jahren zeigt Theweleit, daß das von den »68ern« in sexuelles Handeln umgesetzte Motiv, durch radikale Sexualisierung einen Ausweg aus der latent lauernden Gewalt zu finden, schon früher bereitliegt.
Schmidt, Gunter (1998): «Wir sehen immer mehr Lustlose!« Zum Wandel sexueller Klagen. In: Familiendynamik 23 (4): 348-365.
abstract: Die relative Symptomhäufigkeit bei der Klassifikation sexueller Symptome hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten dramatisch verändert. Die Zunahme des Anteils sexueller Lustlosigkeit (bei Frauen von 8 % auf 58 %, bei Männern von 4 % auf 16 %) erklärt Schmidt damit, daß Patienten wie Therapeuten heute weniger die sexuelle Funktion als die sexuellen Wünsche in den Vordergrund stellen. Die Lustlosigkeit sieht er paardynamisch polarisiert und geschlechtsspezifisch zugespitzt, indem die Frauen das Desinteresse und die Männer den trieb »übernehmen«. Die Ursachen analysiert der Autor aus soziologischer Perspektive und faßt sie in fünf Thesen zusammen: (1) Die Emanzipation schafft den Freiraum für Lustlosigkeit und in dem Sinne, (2) Moderne Beziehungsstrukturen und Beziehungsideale machen die »natürliche« Lustlosigkeit/sexuelle Langeweile schwer erträglich, (3) Wünsche werden knapp, (4) Sexuelle Langeweile spiegelt die Abwendung von einer mechanischen und biologisierenden und die Hinwendung zu einer psychologisierenden und ästhetisierenden Sichtweise der Sexualität wider. (5) Tabuisierung der Sexualität erstickt Erotik und Leidenschaft.
Clement, Ulrich (1998): Sexualität in der systemischen Therapie. In: Familiendynamik 23 (4): 366-376.
abstract: Entgegen der verbreiteten Sichtweise, Sexualität als Ausdruck der Paarbeziehung zu sehen, wird die These vertreten, daß sexuelles Begehren und Partnerbindung einer unterschiedlichen Prozeßlogik folgen. Sexuelles Begehren, das durch Ambivalenz charakterisiert ist, und Partnerbindung, die auf Berechenbarkeit zielt, sind aufeinander bezogen, gehen aber nicht ineinander auf. Sexuelle Lustlosigkeit in langfristigen Paarbeziehungen läßt sich demnach nur begrenzt in der Binnenperspektive der Paardynamik behandeln. Ausgehend von der Überlegung, daß bei der Therapie sexueller Lustlosigkeit Unterschiede eingeführt werden müssen, die den abgegrenzten romantischen Konsens des Paares stören, ist der Kern der therapeutischen Strategie die Nutzung von Phantasien und Verhaltensoptionen, die außerhalb der Dyade liegen. Es wird die spezifische Bedeutung therapeutischer Neutralität bei sexuellen Themen erörtert, und es werden therapeutische Interventionsmöglichkeiten vorgestellt.
Sydow, Kirsten von (1998): Sexualität und/oder Bindung: Ein Forschungsüberblick zu sexuellen Entwicklungen in langfristigen Partnerschaften. In: Familiendynamik 23 (4): 377-404.
abstract: Es wird ein systematischer Überblick über Forschungsarbeiten zur sexuellen Entwicklung im heterosexuellen Beziehungen gegeben, bezogen auf sexuelle Aktivität, Interesse, Genuss und Orgasmus sowie weiterer Dimensionen. Gut erforscht ist die Entwicklung der koitalen Aktivität in Ehen (die quantitativ abnimmt), während über nichteheliche Beziehungen, über Zärtlichkeit und andere sexuelle Praktiken sowie über das sexuelle Erleben der Betroffenen kaum etwas bekannt ist. Doch zumindest Frauen erleben sowohl negative, als auf positive Veränderungen der Sexualität in Dauerbeziehungen. Die Relation von emotionaler Beziehungsqualität und Sexualität ist ebenfalls kaum erforscht; gleichzeitig sind die Befunde zu etwaigen Zusammenhängen von ihr Zufriedenheit und sexuelle Zufriedenheit widersprüchlich. Abschließend werden Ratschläge prominenter Psychotherapeutinnen zum Thema skizziert und die empirischen Befunde kritisch diskutiert im Hinblick auf theoretische Implikationen, Forschungsdefizite, das alltägliche Beziehungsleben und die therapeutische Arbeit.
Symalla, Thomas & Holger Walther (1998): Spezielle Aspekte schwuler Partnerschaften aus systemischer Sicht. In: Familiendynamik 23 (4): 405-412.
abstract: Die Autoren beschreiben als spezielle Aspekte schwuler Partnerschaften das Fehlen von Rollenvorbildern und institutionalisierten Bindungsritualen. HIV-Infektion und AIDS haben gerade bei sich neu bildenden Paaren mit unterschiedlichem Serostatus eine besondere Bedeutung in Bezug auf Schuldzuschreibung und unterschiedliche Lebensperspektive.
Zimmermann, Thomas & Parfen Laszig (1998): Über die Konstruktion von Identität, Körper und Sexualität im Internet – Erotische Schnittstellen zwischen Erweiterung und Begrenzung. In: Familiendynamik 23 (4): 413-420.
abstract: Das Internet als sozialer Raum zusammengeschlossener Computernetzwerke wird wie jedes andere Medium (Sprache, Buch, Film) von Beginn an auch erotisch besetzt. Dieser Beitrag stellt überblicksartig dar, welche technischen Systeme den Online-Anwender/innen zur Verfügung stehen, im Internet erotisch und in Echtzeit mit anderen Menschen zu kommunizieren. Um für die sexuelle Kommunikation resonanz- und beziehungsfähig zu werden, bedürfen die Handelnden im Internet lesbarer Identitäten. Die Struktur des Netzwerkes erlaubt den Akteur/innen, solche Identitäten unter experimentellen Vorzeichen zu schaffen und sie auszuprobieren. Entwickeln sie mit ihren Identitäten die Bereitschaft, sich den anderen Online-Wesen zu öffnen, entstehen Beziehungsangebote, die zu schwachen oder starken Bindungen, zu flüchtigen Begegnungen oder intensiven Flirts über viele Wochen führen können.
Retzer, Arnold & Fritz B. Simon (1998): «Therapeutische Schnittmuster« – Ein Projekt. Sexualtherapie. In: Familiendynamik 23 (4): 421-436.
abstract: Betrachtet man Sexualverhalten als Form zwischenmenschlicher Kommunikation lassen sich »Probleme« und »Symptome« entsprechend ihrer Abweichung von den Erwartungen der Beteiligten als »Plus-« und »Minus-Symptome« unterscheiden. Für beide Symptomtypen werden therapeutische Strategien entwickelt und diskutiert.