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Zweierlei Liebe

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Laura und Alois verliebten sich, weil sie sich mit einer Dringlichkeit brauchten, die sie wie im Nebel erahnten. Laura hatte eben ihren Vater durch Krebs verloren. An der Beerdigung sang der Männerchor – und zum Chor gehörte Alois.
Alois, ein paar Jahre älter als Laura, hatte sie als Leiter einer kirchlichen Jugendgruppe kennen gelernt und ihr geholfen, ihre Examensängste im Gymnasium zu überwinden. Als sie sich bei der Beerdigung des Vaters wieder trafen, war Alois eben in eine eigene Wohnung in der nahen Industriestadt gezogen, wo er sich so einsam fühlte wie bei seiner Arbeit als Informatiker. Seine Einsamkeit und Lauras Verzweiflung vertieften ihre frühere Bindung. Ein Jahr nach dem Tod des Vaters heirateten sie.
Laura, blond und warmherzig, Alois, dunkelhaarig und sportlich – ein schönes Paar kommt mir entgegen. Sie strahlen Freundlichkeit aus, aber gleichzeitig spüre ich ihre Traurigkeit. Laura erzählt, dass Alois sie nicht mehr in seine Nähe lasse und von Monat zu Monat weniger fassbar sei. Alois beklagt sich über Lauras unerträgliche Intensität, ihre überbordende Zärtlichkeit und Mütterlichkeit. Sie wolle unbedingt Kinder haben, er aber habe von Anfang an gesagt, dass Kinder in seinem Leben kaum Platz hätten.
Zum dritten Gespräch kommen beide mit Tränen in den Augen. Das Geheimnis ist gelüftet. Alois hat Laura erzählt, dass er heimlich wieder einen Jugendfreund trifft, mit dem er vor der Begegnung mit ihr eine innige, erotische Beziehung hatte. Er liebe Laura zwar noch immer, als ob sie eine wunderbare Schwester wäre, aber begehren könne er sie nicht. Zweierlei Liebe, das gebe es doch?
Die Gespräche mit beiden und mit jedem allein ziehen sich über ein Jahr dahin, und ich begleite sie, mit langem Atem. Laura, getreu ihrem Lebensmotto, sucht Alois zu «erlösen», was diesen erst recht zur Verzweiflung treibt. Als sie ihn endlich mit grossem Schmerz loslässt, klammert er sich an sie wie ein Ertrinkender. Ihr Auf und Ab scheint endlos. Schritt um Schritt wird deutlich, dass Laura und Alois die gleichen Lebensthemen zu bewältigen haben: die fällige Ablösung von den Eltern sowie den Umgang mit zwei Formen von Liebe, beide gleich viel wert, aber in dieser Lebensphase des Paares unvereinbar.
Schliesslich reichen sie die Scheidung ein, was niemand verstehen kann. Erst viel später fasst Alois den Mut zu einem Coming-out. Beide machen ihren Weg nun allein: Laura ist Schulleiterin geworden und hat einen verwitweten Mann geheiratet; Alois ist in ein Land gezogen, in dem die homosexuelle Ehe mit seinem Freund staatlich anerkannt ist. Und beide haben ihre eigene Identität gefunden.

Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.

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