Vor einigen Tagen machte die skandalöse Ablehnung der Gesprächspsychotherapie als abrechenbares Verfahren angeblich mangels ausreichender wissenschaftlicher Fundierung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss Furore. Diese Ablehnung wurde im wesentlichen damit begründet, dass die Gesprächspsychotherapie nicht in ausreichendem Maße Forschungsergebnisse vorweisen könne, die dem „Goldstandard“ (Foto: Wikipedia) der evidenzbasierten Therapieforschung genügten. Diese sogenannte Goldstandard ist nun aber nicht nur als Forschungsparadigma für die Psychotherapieforschung denkbar schlecht geeignet, auch für die Beurteilung der Rechtfertigung medizinischer Behandlungen kann er nur begrenzt herangezogen werden. Ein lesenswerter Beitrag des Juristen Peter Holtappels und des Arztes Wilram Tieman„Zur gerichtlichen Kontrolle der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses“ zeigt nicht nur auf, dass es dem Gemeinsamen Bundesausschuss mangels demokratischer Legitimierung an rechtlichem Fundament fehlt, sondern auch seine Auslegung„evidenzbasierter Medizin“ meilenweit an deren ursprünglichen Konzeption als Unterstützung der individuellen klinischen Expertise vorbei geht – und damit einen kruden Lobbyismus (jedenfalls nicht der angewandten Psychotherapie und Medizin) offenbart. So ist die Forderung nach so genannten RCTs (random controlled trials) überhaupt nur bei sehr eingegrenzten Fragestellungen sinnvoll:„Für eine große Zahl von therapeutischen Alltagsaufgaben des Arztes verbietet sich die Anwendung der EvBM schließlich aus der Natur der Sache. Für den Nachweis der Notwendigkeit eines operativen Eingriffes bei einer Appendektomie bedarf es ebenso wenig einer randomisierten Blindstudie wie für eine Fülle von anderen chirurgischen Eingriffen. Ähnliches gilt nach den Shapiros für die Psychoanalyse und die Psychotherapie. (
) Der Aussagewert von RCTs und damit der darauf aufbauenden Übersichtsarbeiten ist zudem naturgemäß beschränkt. Kliene und Kiene beschreiben das wie folgt: RCTs können die Frage untersuchen, ob eine bestimmte Therapie in einem genau definierten Setting für eine spezifische Gruppe von Patienten mit genau definierter Diagnose einen bestimmten, aus wissenschaftlicher Sicht relevanten Vorteil bringt. Diese Information hilft jedoch den meisten Ärzten nicht viel. Vor allem in die Primärversorgung kommen meist Patienten mit unspezifischen Symptomen, oft gar keinen Diagnosen, in frühen Krankheitsstadien, mit mehreren Erkrankungen und mit ganz unterschiedlichen Zielen. (
) In der Praxis des Einzelfalls ist die Richtlinie also entweder gar nicht (Geriatrie und Pädiatrie) oder – in anderen Anwendungsbereichen nur eingeschränkt anwendbar. So berichten Kolkmann et al., man schätze, dass maximal ein Viertel der Patienten eines normalen Krankenhauses den Ein- und Ausschlusskriterien solcher Studien entsprechen, sodass streng genommen die Ergebnisse entsprechender Studien für den einzelnen Kranken nicht angewandt werden können“
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Zur gerichtlichen Kontrolle der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses
18. Dezember 2006 | Keine Kommentare