«Es ist nicht zu verkennen, dass in der modernen westlichen Gesellschaft die Sexualscham von der Statusscham fast völlig verdrängt worden ist. Noch für Sigmund Freud war die Scham ein Damm gegen die (sexuell motivierte) Schaulust. Man vergleiche nur kurz jene Epoche, in der der junge Freud zutiefst erschrak, während einer Fahrt im Schlafwagen matrem nudam zu sehen (noch als Erwachsener musste er das in lateinischen Worten niederschreiben), mit der gegenwärtigen und mit ihrem Fernsehprogramm, das ja auch Kindern im Alter des kleinen Sigmund mühelos zur Verfügung steht. In einer Zeit, in der Jugendliche durchaus in der Lage sind, sich auf dem Schulhof während der Pause zum Zeitvertreib via Handy überreichlich Sex- und Gewaltdarstellungen zu betrachten, leben wir offenkundig unter völlig anderen Bedingungen als einst in der viktorianischen oder in der wilhelminischen Ära. Natürlich hat es auch früher Status-Scham gegeben, aber sie bezog sich meist auf den Ehrencodex privilegierter Schichten: Spielschulden sind Ehrenschulden, das ist das Motto, das in Arthur Schnitzlers Meisternovelle Spiel im Morgengrauen den jungen Leutnant Willi Kasda zum Suicid treibt, dem Aias im Grundsatz durchaus ähnlich. Heute ist die Status-Scham demokratisiert und infolgedessen ubiquitär; sie bezieht sich vor allem auf die Verfügbarkeit über Gebrauchsgüter und Verhaltensoptionen. Einem Kollegen von mir ist es tatsächlich widerfahren, dass seine pubertierende Tochter ihn erbost zur Rede stellen wollte, weil er während des Schulfestes telefoniert hatte: Wie kannst du mich nur so blamieren! Mit so einem alten Handy! Das Wort peinlich fällt nicht ohne Grund in der Sprache der Jugendlichen äußerst häufig. Die Scham dieser Jugendlichen von heute kristallisiert sich in erster Linie an der Unfähigkeit aus, Dockers-Schuhe, Diesel-Jeans und T-Shirts zu tragen. Auch hier wird die Bedeutung der visuellen Sphäre deutlich: Man schämt sich jetzt wie einst für den Anblick, den man bietet aber nicht nackt und bloß, sondern uncool und ohne Markenware.» (In: Scham und Schaulust, Macht und Ohnmacht . Vortrag im Rahmen der 57. Lindauer Psychotherapiewochen 2007, Foto: das.syndikat.com)
Zitat des Tages: Till Bastian
12. Oktober 2009 | Keine Kommentare