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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Zitat des Tages: Hans J. Markowitsch & Harald Welzer

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Ein zentrales Problem der disziplinären neurowissenschaftlichen Perspektive auf Gedächtnis besteht darin daß sie auf das Individuum fokussiert. Diese individualistische Perspektive kann nicht erfassen, daß sich das Gedächtnis in einem sozialen Vorgang ausbildet und strukturiert – was das spezifisch Humane am Menschen ist und dafür sorgt, daß aus Information etwas viel Komplexeres wird: Erinnerung. In einem sehr weitgehenden Sinn gilt das aber auch für die sozialwissenschaftliehe Betrachtungsweise, wenn man eine interaktionistisch orientierte Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung dazu zählen möchte. Denn auch hier wird implizit davon ausgegangen, daß Individuum und Sozialität zwei verschiedene Entitäten seien, und entsprechend richtet sich dann die Kardinalfrage aller Sozialwissenschaften darauf, wie aus einem asozialen Wesen ein gesellschaftliches wird, oder, andersherum, wie eine Gesellschaft, die aus lauter Individuen besteht, mehr sein kann als die bloße Addition handelnder Menschen. Wie zahlreiche Wissenschaftler vor uns auf unterschiedlichste Weise herausgearbeitet haben, ist diese Perspektive so hinderlich wie die Vorstellung, das autobiographische Gedächtnis sei etwas substantiell Individuelles. So hat etwa der Soziologe Norbert Elias schon vor einem Dreivierteljahrhundert darauf hingewiesen. daß wir die Psycho- und Soziogenese des Menschen nur dann zureichend verstehen können, wenn wir den zugrunde liegenden Prozeß als einen begreifen, der sich grundsätzlich innerhalb einer Figuration von Menschen abspielt, die vor dem sich entwickelnden Kind da war. dessen gesamte Entwicklung nach der Geburt also von den kulturellen und sozialen Handlungen und Techniken abhängt, die diese Figuration co-evolutionär entwickelt hat“ (In: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, S. 260f.)

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