«Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, daß Psychotherapie zwei gleichwertige Phasen bzw. Ziele hat. Das erste Ziel ist, die Tiefenstruktur eines Narrativs aufzudecken und in eine Oberflächenstruktur zu transportieren. Dieser Prozeß unterscheidet sich von dem traditionellen Vorgehen der Psychoanalyse. Die psychoanalytische Theorie geht von einem unbewußten verdrängten Wissen aus oder von Abwehrmechanismen bzw. dem Widerstand, etwas zu berichten. Die traditionelle Aufgabe der psychoanalytischen Arbeit ist das Aufheben dieses Widerstandes bzw. der Abwehr. Somit kommt das Material zum Vorschein. Meines Erachtens funktioniert dieser Vorgang nicht für das sog. implizite unbewußte Wissen, das nicht psychodynamisch verdrängt ist. Dieses Material wird nicht abgewehrt, sondern es befindet sich in dem Raum des Nicht-Bewußten, der nonverbalen Existenz. So scheint die Frage zu sein, was man machen kann, um dieses implizite Wissen in eine Oberflächenstruktur zu verwandeln, so daß ein Narrativ erzählt werden kann. Im zweiten Schritt, falls es sich um eine psychodynamische Behandlung handelt, geht es um die Deutung. Damit können die narrativen Strukturen, die auftauchen, zueinander in Beziehung gebracht werden und es wird ein sog. Meta-Narrativ konstruiert. Um das Material deuten zu können, muß bereits eine Oberflächen-Struktur vorhanden sein. In diesem Sinne deckt die Deutung nicht etwas auf, sondern sie kann die Voraussetzung für eine„Entdeckung“ schaffen. Im folgenden würde ich nun gerne auf diesen„Entdeckungsprozeß“ eingehen, da dieser Prozeß nicht dasselbe ist, wie Abwehr aufzuheben oder Verdrängung aufzulösen. Ein Beispiel für das implizite Wissen wäre das Küssen: Jeder weiß, wie man küßt und wie es sich anfühlt geküßt zu werden. Wahrscheinlich haben Sie dies noch nie in Worte gefaßt und falls man es versuchen würde, wäre es sehr merkwürdig, weil man vermutlich sagen würde:„Man benützt die Muskeln im Mund usw“ Es würde wahrscheinlich eine dreiviertel Stunde benötigen, um dies zu erklären, und man würde das Essentielle gar nicht erfassen. Was man eigentlich machen müßte, um zu erklären, wie man küßt und wie es sich anfühlt, wäre in Versform zu sprechen oder Metaphern und Analogien zu benützen, die diese Erfahrung kurzerhand erfassen würden, weil es keine Art und Weise gibt, dies in Worten zu erläutern. Dies ist wesentlich, da es hier nicht um Verdrängung geht; es ist eine andere Sprache, auch wenn die Grundstruktur die gleiche für beide ist (Tiefen- und Oberflächenstruktur) – die gleiche narrative Struktur, die zielorientiert und motiviert ist.» (In:„Das Narrative Selbst )
Zitat des Tages: Daniel N. Stern
16. August 2009 | Keine Kommentare