Zum Abschluss des diesjährigen Adventskalenders schreibt Ulrich Sollmann aus Bochum über eine Reise nach Indien
Es war einmal eine Reise nach Indien, bei der ich wie so manch anderer in der damaligen Zeit (ich glaube, wir schrieben das Jahr 1976) auf der Suche nach einem alten Mann war, der unter einem noch älteren Baum saß und gerade durch seine anmutige, in sich ruhende Haltung und natürlich den entsprechenden weisen, langen, weißen Bart, die (aus heutiger Sicht natürlich idealisierte) erhoffte Weisheit verkörperte, um an dieser Weisheit zu partizipieren.
Damals, mit dem Auto unterwegs nach Indien, machte ich derweil so manche eigentümliche Erfahrung. Eine dieser Erfahrungen erschütterte mich und mein Verständnis davon, wie die Welt wohl zu funktionieren habe. Aber leider nicht funktionierte.
In Südindien, in der Nähe von Madras, wurde mir über Nacht meine Fotoausrüstung gestohlen. Ich hatte eine Ahnung, wer der Dieb wohl hätte sein können, wähnte mich daher sicher, als ich die Polizei beauftragte, den Dieb zu suchen.
Der Polizist, ein freundlicher Inder, setzte sich zu mir und wollte den Vorfall aufnehmen. Ganz zu meiner Überraschung fragte er sehr ausführlich nach den Dingen, die nicht gestohlen wurden, die also noch da waren. Dinge, die der Dieb zurückgelassen hatte.
Trotz meines mehrfachen Drängens bemühte er sich weiterhin gerade diese Dinge aufzulisten, um mich mit einem weiterhin freundlichen Lächeln zu vertrösten: Es bliebe ja immer noch genug Zeit, den Dieb zu suchen, ich sollte mich doch nicht so eilen.
Wenns kommt, dann kommts richtig! – Ich verstand damals Gott und die Welt nicht mehr, hatte ich doch Sorge, dass je länger wir warteten, desto weiter sich der Dieb vom Tatort entfernen könnte.
Zwar wusste ich um die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Indien. War daher mental gut vorbereitet. Zwar hatte ich mich, da ich mit dem Auto unterwegs war und so einige Zeit bereits in Indien verbracht hatte, an die dortigen Gepflogenheiten gewöhnt. Jetzt, im Ernstfall, versagte aber all mein so erworbenes kulturelles Wissen. Ich fühlte mich radikal auf mich selbst zurückgeworfen, spürte die Erschütterung in meinem Körper, konnte nur noch aufspringen, als der Polizist weiterhin lächelte und mich befragte, um im Raum auf und abzurennen. All das, was ich wusste, all das, was ich mir vorgenommen hatte, all das, was mir geraten wurde, all das funktionierte auf einmal nicht mehr, und ich erlebte mich nur noch körperlich tief erschüttert und gerade diesem körperlichen Erlebensprozess ausgeliefert.
Schnitt.
Inzwischen bin ich in verschiedenen kulturellen Kontexten beruflich unterwegs. Sei es in der Arbeit mit Kroaten in der Ausbildung, sei es in dem kollegialen Austausch mit Chinesen über Kommunikation und Psychotherapie im interkulturellen Kontext. Sei es über Workshops bei internationalen Kongressen. In der Regel, wenn die mir sonst vertrauten Möglichkeiten des Verstehens und des Austauschs versagen, erlebe ich eine ähnliche, unmissverständliche, körperliche Resonanz, wie damals in Indien. Inzwischen bin ich immer noch erschüttert (das kann dann starke Verunsicherung, aber auch überraschende Freude und Neugier sein). Und doch bringen mich solche Erfahrungen nicht mehr so aus dem Lot wie es damals der Fall war, bedingt durch das freundliche Lächeln und die doch so ganz einfachen Fragen des indischen Polizisten es vermochten.
Die Begegnung in der Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturkreisen, vor allem wenn die Worte versagen, wird erleichtert gerade durch solche körperlich gespürten Erschütterungsprozesse. Erschütterungen auf beiden Seiten. Erschütterungen, die mich wach halten. Erschütterungen, die, wenn beim anderen wahrgenommen, gegenseitiges implizites Verstehen erleichtern.
Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es ein nicht zu unterschätzendes Merkmal von interkulturellen Erfahrungsprozessen ist, auf solche paradoxen Begegnungen zu stoßen. Man kann ihnen nicht entgehen, sind sie doch gerade auch Merkmal einer interkulturellen Erfahrung.
Und das ist auch gut so.
Übrigens, natürlich habe ich den weisen Mann mit dem weißen Bart in sich ruhend unter dem alten Baum nicht getroffen. Stattdessen bin ich mir selbst begegnet und habe gemerkt, wo immer ich hingehe, habe ich mich selbst im Rucksack mit dabei. 😉