Liebe Kolleginnen und Kollegen,
an dieser Stelle ist bereits auf den großen systemischen Diagnostik-Kongress hingewiesen worden, der vom 25.-27.5.2017 unter Beteiligung von systemagazin stattfinden wird. Wir haben schon viel Resonanz aus dem Feld erfahren und spannenderweise wird das Kongress-Thema und der Kongress selbst schon diskutiert, lange bevor er eigentlich startet. Das ist für uns als Veranstalter und Organisatoren eine wunderbare Nachricht, denn um das Anschieben einer Debatte geht es uns ja – nicht um die Frage „Diagnostik oder nicht?“, sondern vielmehr um die Frage „Wie diagnostizieren wir eigentlich was – und was bedeutet das für die therapeutische und beraterische Praxis?“. Da in zwei Wochen die Frühbucherfrist abläuft, die es allen InteressentInnen ermöglicht, zu einem besonders günstigen Tarif von 295,00 € sich schon jetzt zur Tagung anzumelden, möchte ich hier noch einmal auf die inhaltlichen Überlegungen zurückkommen, die mich persönlich bewogen haben, an diesem gemeinsamen Projekt mit Hans Lieb, Matthias Ohler, Wilhelm Rotthaus und Bernhard Trenkle teilzunehmen.
Die systemische Therapie und Beratung steht derzeit vor besonderen Herausforderungen, deren Bewältigung für die Zukunft des Systemischen Ansatzes von großer Bedeutung ist. Eine Anerkennung als Richtlinienverfahren im Rahmen der gesetzlichen psychotherapeutischen Versorgung würde vielen Klienten die Möglichkeit bieten eine kassenfinanzierte systemische Therapie in Anspruch zu nehmen. Andererseits wäre sie mit einer massiven Relativierung verbunden, wenn nicht gar mit der Aufgabe klassischer systemisch-konstruktivistischer Positionen, von den möglichen fachlichen, berufsbezogenen und politischen Verwerfungen innerhalb des systemischen Feldes einmal ganz abgesehen.
Ich bin seit über 35 Jahren an der Entwicklung des Feldes durch Lehrtätigkeiten, fachpolitische Aktivitäten und zahlreiche Veröffentlichungen aktiv beteiligt und habe den Eindruck, dass die vor uns liegenden Herausforderungen einer intensiven inhaltlichen Debatte bedürfen.
In den vergangenen Jahren haben sich die systemischen Verbände vor allem für die Gleichstellung der systemischen Therapie und Beratung mit anderen Therapieverfahren eingesetzt, jetzt ist es an der Zeit, in die inhaltliche Diskussion einzusteigen. Deshalb freue ich mich, mit Hans Lieb, Wilhelm Rotthaus, Matthias Ohler und Bernhard Trenkle gemeinsam einen Raum der Begegnung unterschiedlicher Personen, Positionen und Praktiken für eine solche Debatte zu organisieren. Wie kaum ein anderes Thema ist das Thema Diagnostik und Fallverstehen geeignet, sowohl die Identität des systemischen Ansatzes als auch seine Überschneidungen und Berührungspunkte mit anderen Schulen und Konzepten herauszuarbeiten. Systemische Therapie und Beratung unterscheidet sich (wie alle anderen Therapie- und Beratungsverfahren) von einer alltäglichen Kommunikation über Probleme und Lösungen dadurch, dass sie aus einem Anliegen einen „Fall“ macht. Erst diese Transformation in eine auf bestimmte Weise formatierte Fallbearbeitung erlaubt es, Therapie und Beratung als professionelle Verfahren einzusetzen (und abzurechnen). Im Anschluss an Niklas Luhmann lässt sich aber nun jeweils fragen: Was ist der Fall? Und was steckt dahinter?
Zum Selbstverständnis systemischer Therapie und Beratung gehört von Anfang an, ein ontologisches Problemverständnis zu hinterfragen, nämlich dass ein Problem, eine Störung oder eine Krankheit etwas bereits Vorhandenes sei, das mit Hilfe diagnostischer Verfahren und Methoden richtig erkannt und einer entsprechenden Behandlung zugeführt werden könne. Die gesamte systemisch-konstruktivistische Epistemologie baut auf der Erkenntnis auf, dass Diagnosen, Fallbeschreibungen und Problemdefinitionen Beobachtungen darstellen, die keine Auskunft über eine beobachtungsunabhängige Problemwirklichkeit liefern, sondern selbst Konstruktionen sind, die ganz wesentlich von den relevanten und sich ändernden Beobachtungskontexten fachlich-disziplinärer, sozialer, ökonomischer und rechtlicher Art abhängen.
In der klinischen Alltagskommunikation wird aber eine Diagnose schnell zu etwas, das ein Patient oder eine Klientin „hat“ oder „nicht hat“, z. B. eine „Störung mit Krankheitswert“, ohne die im Rahmen des Gesundheitssystems keine Leistung erbracht werden kann. Der systemische Fokus auf Kontext, Beziehung und Kommunikation als Rahmenbedingung für die Entstehung und Aufrechterhaltung von (zwischen)menschlichem Leid wird hier allenfalls als Randbedingung und Sonderfall berücksichtigt.
Sollten die Bemühungen um eine Anerkennung und Integration Systemischer Therapie in das bestehende System der Richtlinienverfahren erfolgreich sein, steht der systemische Ansatz vor einer schwierigen Aufgabe: Er muss in ein an die klassische Medizin angelehntes positivistisch-technizistisches Behandlungsmodell mit den entsprechenden diagnostischen und methodischen Implikationen einsteigen, ohne die genannten, für die eigene Identität zentralen Konzepte aufzugeben.
- Wie soll das gelingen?
- Worüber müssen wir dann reden oder streiten?
- Was können wir von anderen lernen, wo sollten wir uns abgrenzen?
Die Fragen,
- was eigentlich diagnostiziert wird und warum,
- ob überhaupt diagnostiziert werden muss und was das bedeutet,
- welche alternativen Konzepte von Diagnosen sinnvoll oder notwendig wären,
- welche konzeptuellen und ideengeschichtlichen Entwicklungslinien den unterschiedlichen Vorstellungen von „Krankheit“, „Störungen“ oder „Problemen“ zugrundeliegen,
- was die Unterschiede zwischen einem epistemologischen, klinisch-praktischen oder ökonomischen Zugang zu Fragen der Diagnostik und der daran anzuschließenden „Behandlung“ sind,
- welche unterschiedlichen Konzepte von Diagnostik und Fallverstehen in den verschiedenen Bereichen systemischer Praxis zum Zuge kommen und
- wie sich Systemische Therapie überhaupt im Kontext dieser Fragestellungen in den nächsten Jahren entwickeln wird,
all diese Fragen treffen Konzeption und Selbstverständnis des Systemischen Ansatzes ins Mark.
Aus diesem Grund haben wir einen Tagungsrahmen geschaffen, der es uns und Ihnen ermöglicht, sich mit diesen und vielen anderen Fragestellungen zum Thema schulenübergreifend auseinanderzusetzen und neue Perspektiven auf die eigene Praxis, aber auch für die Arbeit in Organisationen, im Gesundheitsbereich und im System Sozialer Arbeit zu entwickeln.
In der Heidelberger Stadthalle haben in den vergangenen Jahrzehnten schon einige richtungsweisende systemische Tagungen stattgefunden. Auch wenn die Details noch nicht feststehen, können wir Ihnen ein hochkarätiges Programm und drei spannende Tage im schönen Monat Mai 2017 versprechen. Dazu möchte ich Sie herzlich einladen – ich freue mich auf Ihr Interesse!
Herzliche Grüße
Tom Levold
Herausgeber systemagazin
Lieber Martin,
vielen Dank für deinen Hinweis, der mir noch einmal die Gelegenheit gibt, auf einen wichtigen Punkt aufmerksam zu machen. Unsere Idee, eine Tagung zum Thema Diagnostik zu machen, wird offenbar von vielen Kolleginnen und Kollegen aus dem systemischen Feld so verstanden, als ginge es uns darum, die Frage „Diagnose oder nicht“ zum Kernpunkt des Kongresses zu machen. Wir sind aber gerade der Auffassung, dass wir grundsätzlich nicht nicht-diagnostizieren können. Die Frage lautet dann, welche Arten der Diagnostik zu welchen Beobachtungen führen. Das wirft behandlungspraktische, theoretische, ökonomische und andere Fragen auf, die bei einer rein pragmatischen Verkürzung auf Fragen der rechtlichen Anerkennung in der Regel aus der Beobachtung herausfallen. Diese Fragen wollen wir so breit wie möglich diskutieren und werden deshalb auch viele Referentin und Referenten auf dem Kongress haben, die unterschiedliche professionelle Perspektiven, unterschiedliche fachliche Ansätze bzw. Schulen und unterschiedliche länderbezogene Erfahrungen repräsentieren werden. Wir hoffen durch unsere Impulse dazu beizutragen, dass alle Beteiligten aus den Diskussionen untereinander lernen können, das gilt natürlich auch für Systemiker, die vielleicht schon das Gefühl haben, zum Thema Diagnostik alles zu wissen.
Herzliche Grüße, Tom
Lieber Tom
“ Wir sind …der Auffassung, dass wir grundsätzlich nicht nicht-diagnostizieren können. Die Frage lautet dann, welche Arten der Diagnostik zu welchen Beobachtungen führen. Das wirft behandlungspraktische, theoretische, ökonomische und andere Fragen auf.“
Schön auf den Punkt gebracht! Genauso könnte die Komplexität reduziert und euer Kongress weiter beworben werden.
Mit herzlichem Gruss aus der Schweiz
Martin
Lieber Tom
Herzlichen Dank für Deinen erneuten Hinweis auf den „Diagnose-Kongress“, der sich einreiht in diejenigen Deiner Mitorganisatoren.
Auch wenn ich mich keineswegs konzeptuell einmischen möchte, erlaube ich mir euch darauf hinzuweisen, dass es Sinn machen würde, dazu auch KollegInnen aus solchen Ländern einzuladen, wo die Systemische Therapie seit Jahren sowohl wissenschaftlich als auch kassenärztlich anerkannt ist (z.B. Schweiz, Oesterreich). Viele von Ihnen stehen seit Jahren mit beiden Beinen in der klinischen Praxis, behandeln also Menschen mit „krankheitswertigen Störungen“, verstehen sich als Systemiker und verfügen über einen grossen Erfahrungsschatz im Umgang mit Diagnosen bzw. deren Auswirkungen auf den Therapieverlauf wie auch auf das Verständnis systemischer Therapie. Auch in diesem Sinne ist die Systemische Therapie selber in ihrer Entwicklungs- und Veränderungsgeschichtegeschichte wohl nur kontextuell zu verstehen.
Mit liebem Gruss
Martin Rufer