Wer das schöne Buch von Philipp Felsch über den „Langen Sommer der Theorie“ gelesen hat und womöglich die darin beschriebene Zeit der 1960er bis 1980er Jahre der Theoriebegeisterung noch aus erster Hand miterlebt hat, wird sofort mit dem Begriff der Theorieatmosphäre etwas anzufangen wissen. Der Artikel von Elena Beregow, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der Universität der Bundeswehr München, greift auch immer wieder auf das Buch von Felsch zurück, der selbst darin von einer „Leseatmosphäre“ spricht.
Im abstract zu ihrem Text heißt es: „Dieser Artikel führt das Konzept der Theorieatmosphäre ein, um die affektive Dimension von Theorien zu adressieren. Jenseits einer Engführung auf die Autor:in oder auf den Text wird die Theorieatmosphäre als Produkt des performativen Zusammenwirkens von Text, Lesepraktiken, Dingen und Räumen entworfen. Im Anschluss an Ludwik Flecks Theorie der Denkstile, Denkkollektive und Stimmungen wird die Funktionsweise von Theorieatmosphären umrissen und mithilfe der jüngeren Debatten um Atmosphären und Affekte aktualisiert. In dieser Weise können Theorieatmosphären als Produkte affektiver Praxis (Wetherell) verstanden und um die Rolle nichtmenschlicher Elemente erweitert werden. In einem Vergleich des systemtheoretischen (Luhmann) und des dekonstruktiven Denkstils (Deleuze und Guattari) erfolgt anhand der Parameter des Textes, der Praxis des Lesens sowie der Dinge und Räume von Theorie eine Analyse zweier konträrer Theorieatmosphären. Ausgehend von den Selbstbeschreibungen und den dabei wichtigen metaphorischen Registern werden diese als „heiße“ vs. „kalte“ Theorien akzentuiert. Das Konzept der Theorieatmosphäre zielt auf eine konstitutive, aber meist übersehene Dimension von Theorien und möchte zur Debatte zu Prozessen des Theoretisierens sowie von Schulbildungs- und Rezeptionsprozessen beitragen, indem es erste Antworten auf die Frage liefert: Warum faszinieren Theorien?“
Beregow unterteilt Theorieatmosphären in drei miteinander verflochtene Dimensionen. Der Text mit seiner Oberflächenstruktur, seinem Sound, seinen Metaphern und seinem Komplexitätsgrad schafft den ersten atmosphärischen Eindruck. Hinzu tritt die Praxis des Lesens, bei der affektive Resonanzräume in und zwischen Denkkollektiven enstehen, es bilden sich Lesepraktiken und Rezeptionsmodi heraus – vom intensiven, enthusiastischen bis zum distanziert-nüchternen Umgang. Schließlich prägen auch Dinge und Räume mit ihren Infrastrukturen, materielle Gegenstände (z.B. Buchcover, Notizbücher), Orte und Inszenierungen als Teil eines kollektiven Arrangements die Atmosphäre der Theorie, oft mit popkulturellen oder ikonischen Qualitäten.
Insofern geht die Wirkung von Theorieatmosphären über Text und Autor hinaus und umfasst performative, affektive, materielle und räumliche Praktiken. Durch das Konzept der Theorieatmosphäre wird deutlich, warum und wie Theorien faszinieren: Sie schaffen Verbindungen und Trennungen und wandern zwischen Disziplinen und Kulturen.
„Der Theoriestreit wird nie nur von seinen Protagonisten im Text ausgetragen, sondern auf Bühnen und Podien, in Kritiken, Rezensionen und Kommentarspalten; er befördert die Zirkulation und das Branding von Theorien über den Text hinaus. Theorien erhalten qua so entstehender Markenzeichen eine affektiv aufgeladene Signatur – eine Atmosphäre. Das Beispiel der Kontroverse verweist dabei auf ein wesentliches Charakteristikum von Theorieatmosphären insgesamt: Sie wandern, und zwar in und durch Texte, über fremde disziplinäre Kontexte, hinein in neue, etwa literarische Textgattungen, in Räume und Milieus des Gebrauchs, der Praxis und der Aufführung. Im Nachvollzug dieser Wanderbewegungen wird die Stärke eines Atmosphärenbegriffs sichtbar, der die unvorhergesehenen Nachbarschaften, die durch räumliche Umgebungen hergestellt werden, innerhalb wie außerhalb des Textes lokalisiert. Denn die außertextlichen Formen und Räume – Kolloquien, Seminare, Lesekreise, Bibliotheken, Tagungen – sind Bestandteile von Atmosphären, die entsprechend auch an der Entwicklung der Schulbildung beteiligt sind. Solche atmosphärischen Räume bringen geradezu Kunstformen hervor, aus denen heraus eine Theorierichtung als solche überhaupt
erst Kontur gewinnt“ (S. 212).
Der systemische Ansatz weist seit seinen Ursprüngen eine spezifische Theorieatmosphäre auf, deren Erhalt und Ausgestaltung auch zukünftig erforderlich ist, damit sie nicht unter Theoriefeindlichkeit bzw. -ignoranz und dem Vorwurf vermeintlicher Praxisferne inhaltlich völlig austrocknet und zugrunde geht. Die Gefahr dafür besteht.
Den vollständigen Artikel kann man hier lesen und herunterladen…
Vielleicht noch als kleiner Appetitanreger etwas von Ludwig Fleck, der in Fußnote 3 (S.195) zitiert wird. Die Fußnote ist umfangreicher als der kleine Auszug hier, es lohnt sich, ihn zur Gänze nachklingen zu lassen – ein wohltuender Ton im Betrieb. Fleck sagte da: „Ein schlechter Beobachter, wer nicht bemerkt, wie ein anregendes Gespräch zweier Personen bald den Zustand herbeiführt, daß jede von ihnen Gedanken äußert, die sie allein oder in anderer Gesellschaft nicht zu produzieren imstande wäre. Eine besondere Stimmung stellt sich ein, der keiner der Teilnehmer sonst habhaft wird, die aber fast immer wiederkehrt, so oft beide Personen zusammenkommen“. Im Text geht es weiter, wie gesagt: zur Gänze empfohlen. Dank Dir, Tom, für diese Perle!