„In den letzten Jahren habe ich mehrmals Zeit in einem kleinen Hotel auf einer kroatischen Insel verbracht. Inzwischen kenne ich die Kellner, die in der Sommersaison zwischen Terrasse, Anrichte und Küche hin und her laufen, Gäste bedienen und wartende Gäste bitten, später wiederzukommen. Auch die gemächliche und erwartungsvolle Freundlichkeit des Hotelpersonals zu Saisonbeginn habe ich schon genossen, als ich einmal zwei Wochen vor Ostern dort war. Alle Welt bereitete sich auf die Feiertage vor. Mein Mann und ich hatten ein schönes Appartement unter dem Dach, an dem Drähte angebracht waren gegen die Tauben, die uns im Sommer zuvor mit ihrem fiesen Gurren auf die Nerven gegangen waren.
Dieses Mal bin ich im Winter hierher gekommen, um in Ruhe an einem Text zu arbeiten. Außer mir gibt es nur noch einen einzigen weiteren Gast im Hotel. Komme ich morgens zum Frühstück, steht Ante, der besonders nette und umsichtige Kellner, am Ende seiner Schicht hinter der Theke. Er begrüßt mich mit müdem Gesicht und fährt fort, mit Gläsern und Flaschen zu hantieren. Unaufhörlich läuft das Radio mit kroatischen Heimatmelodien und sensationellen Werbeansagen, die eine ähnliche Wirkung auf mich haben wie das Gurren der Tauben im letzten Sommer. Kaum habe ich mich morgens zum Frühstück hingesetzt, trieft der Heimatsound aus dem Radio zuerst in mein Unbewusstes und schwemmt dann leichten Ärger in mein Bewusstsein. Ich könnte Ante bitten, das Radio auszustellen. Mit mildem, verständnislosem Blick würde er meiner Bitte nachkommen. Wenn ich ihn jedoch mit seinem im Unterschied zum Sommer bleichen und leeren Gesicht geistesabwesend mit den Gläsern hantieren und auf die Hafenbucht vor dem Hotel blicken sehe, kann ich ihn nicht darum bitten, weil ich annehme, dass das Radioprogramm ihn vom Abgrund einer Winterdepression fernhält“
So schön fängt ein Beitrag von Edelgard Struß an, den sie für das systemagazin verfasst hat und das in der Systemischen Bibliothek zu finden ist. Ihr Thema ist die Langeweile, die sich als Spannungszustand in Arbeitsprozessen herauskristallisiert, in denen man nichts zu tun hat, aber jederzeit darauf eingestellt sein muss, dass sich dieser Zustand sehr schnell ändern kann. Die„erzwungene Muße“ stellt hohe Anforderungen nicht nur an das Personal, sondern auch an die Führung von Mitarbeitern:„Den Vorgesetzten der Un-Tätigen und den Führungskräfte in der Organisation bleibt nichts anderes übrig, als die Untätigkeit von Mitarbeitenden in Kauf zu nehmen und zu ertragen. Sie können darüber hinaus produktiv damit umgehen, sich aktiv mit den Folgen für das Arbeitsverhalten des Personals auseinandersetzen und für Strukturen sorgen, die einen vernünftigen Umgang mit der Untätigkeit für alle Beteiligten möglich machen. Das bedeutet zunächst, Untätigkeit als notwendigen Bestandteil von Arbeit anzuerkennen und den Versuchen der Mitarbeitenden, mit den Folgen der Un-Tätigkeit umzugehen, grundsätzlich Respekt entgegenzubringen. Das ist nicht immer einfach, weil zum einen unser kulturell tief verankertes aktivistisches Arbeitsverständnis es nahe legt, auf Untätigkeit unwillkürlich abwertend zu reagieren. Zum anderen kommt es beim Ausgleich der Spannung zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig an Arbeit unvermeidlich zu berufs-, team- und personentypischen Entgleisungen und Grenzverletzungen. Sie verlangen den Vorgesetzten einerseits ein gewisses Maß an Duldsamkeit und Diplomatie ab. Andererseits müssen sie aber auch immer wieder Ordnung herstellen, Ansprüche klären und gemeinsam mit den Mitarbeitenden den eigentlichen Zweck und die Ziele der Arbeit reflektieren. Beides kann anstrengend sein und wird nicht immer ohne Konflikte ablaufen“
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Untätigkeit von berufswegen
13. März 2008 | Keine Kommentare