Gewalt in Familien bedeutet längst nicht immer die Misshandlung von Kindern und Partnern, zunehmend werden auch Eltern Opfer der Gewalttätigkeit ihrer Kinder. Barbara Cottrell aus Halifax in Kanada hat dieses Thema schon früh erforscht und 2001 einen ausführlichen Bericht für die kanadische Öffentlichtkeit erstellt. In Heft 3/2002 von systhema ist ein Artikel von ihr auch in Deutsch erschienen. Cottrell schreibt: „1995 begann Diane Kays, klinische Therapeutin in Halifax, Neuschottland, Kanada, im Freundes- und Kollegenkreis nach Informationen zum Thema Elternmisshandlung zu suchen. Klienten hatten Diane von Gewalt berichtet, die sie durch ihre eigenen Kinder erfahren hatten – eine Form von Gewalt in der Familie, die der Therapeutin neu war. Es wurde sehr bald deutlich, dass es zu diesem Thema kaum Informationen gab. Drei Organisationen vor Ort (Captain William Spry Community Centre, Committee Against Woman Abuse und die Family Service Association of the Halifax Regional Municipality) gründeten daraufhin das „Elternmisshandlungsprojekt“ (Parent Abuse Project Committee), um Formen und Entstehung von Elternmisshandlung zu erforschen.
Wir entwickelten das Forschungsdesign zu einer Studie über dieses Thema und mit einer Finanzierungshilfe durch das kanadische Gesundheitsministerium wurden sowohl Intensivinterviews als auch semi-strukturierte Interviews durchgeführt. Interviewt wurden, einzeln und in Gruppen, 45 Eltern, die Misshandlung selbst erlebt haben, 34 Mitarbeiter von sozialen Diensten im wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Bereich sowie 39 Jugendliche. Einige waren sowohl beruflich involviert als auch selbst betroffen. Das Ziel war herauszufinden, in welcher Form Elternmisshandlung auftritt, wie weit verbreitet sie ist, welche Jugendlichen ihre Eltern misshandeln, welche Eltern misshandelt werden, warum die Misshandlung passiert und wo Familien Hilfestellung suchen.
Die Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass Misshandlung von Eltern durch ihre pubertären Kinder eine Form der familiären Gewalt ist, die möglicherweise genau so oft vorkommt wie andere Formen, die aber ein gut gehütetes Geheimnis geblieben ist. Es findet sich eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen herkömmlichen Einstellungen gegenüber Frauenmisshandlung damals und Elternmisshandlung heute: Vor 30 Jahren glaubte man, dass Misshandlung von Frauen durch ihre Partner selten sei. Die Opfer der Gewalt seien selbst schuld, die Gewalt wurde als eine reine Familienangelegenheit angesehen und es gab nur wenige Unterstützungsmöglichkeiten für die Frauen. Über die Jahre wurde Gewalt in der Familie dann zum öffentlichen Thema, es wurden politische Unterstützungsmaßnahmen entwickelt, um Frauen und Kinder vor Gewalt zu schützen. Um Elternmisshandlung hat man sich bisher wenig gekümmert. Schuld für das Verhalten ihrer Kinder wird zuerst den Eltern zugeschoben, es gibt für sie nur wenig Hilfe und noch kaum öffentliche Aufmerksamkeit.