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Systemische Therapie bei Erwachsenen: Vorbericht erschienen

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Presseerklärung (IQWIG Köln, 23.8.2016): Bei bestimmten Störungen zeigen die verfügbaren Studiendaten einen Vorteil

Ob die Systemische Therapie bei Erwachsenen im Vergleich zu anderen Interventionen oder zu keiner Behandlung einen Nutzen oder Schaden haben kann, ist derzeit Gegenstand einer Untersuchung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).

Es ist das erste Mal, dass das Institut ein Psychotherapieverfahren bewertet. Die vorläufigen Ergebnisse liegen nun vor: Demnach zeigen die verfügbaren Studiendaten bei bestimmten Störungen einen Vorteil der Systemischen Therapie. Bis zum 20. September 2016 können interessierte Personen und Institutionen schriftliche Stellungnahmen zu diesem Vorbericht abgeben.

Breite Palette von Konzepten und Techniken

Bei der Systemischen Therapie handelt es sich um eine ausgesprochen vielgestaltige Therapieform – für die theoretischen Konzepte gilt das ebenso wie für die eingesetzten Techniken. So kann es in der systemischen Therapie darum gehen, nicht die einzelne Person oder das Symptom zu betrachten, sondern den Kontext, in dem es auftritt. Primär stehen dann die Beziehungen einer Familie oder Gruppe im Fokus, die ein System aufrechterhalten.

Mittels einer Vielzahl von Techniken wird unter anderem versucht, symptomfördernde Interaktionen und Strukturen, dysfunktionale Lösungsversuche und einschränkende Familienerzählungen infrage zu stellen und ihnen neue, gemeinsam mit dem Patienten zu entwickelnde Interaktionen entgegenzusetzen. Im Idealfall kann das System so verändert werden, dass das Symptom nicht mehr „notwendig“ ist.

Das Verfahren wird mittlerweile sowohl ambulant als auch stationär eingesetzt und ist auf kein bestimmtes Setting eingegrenzt. Es gibt sowohl systemische Einzeltherapie als auch Paar- oder Gruppentherapie.

IQWiG bewertet erstmals Psychotherapieverfahren

Die Systemische Therapie ist bislang keine Leistung der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Von der GKV erstattet werden bislang nur die analytische und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sowie die Verhaltenstherapie („Richtlinienverfahren“).

Zwar wurde die Systemische Therapie 2008 vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) wissenschaftlich anerkannt. Um in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen werden zu können, muss aber auch der Nutzen nachgewiesen sein. Deshalb hatte der G-BA das Institut beauftragt, Nutzen und Schaden der Systemischen Therapie zu bewerten, allerdings ausschließlich für Erwachsene. Der Vergleich solle sowohl gegenüber anderen Interventionen als auch gegenüber keiner Behandlung angestellt werden. 

Viele Studien passten nicht zur Fragestellung des Berichts

Bei ihrer Recherche fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine relativ hohe Zahl von Studien, die die Systemische Therapie untersuchten. Doch konnte nur ein Teil in die Bewertung einbezogen werden. Das lag unter anderem daran, dass ihre sogenannten Studienpopulationen nicht der Fragestellung des Auftrags entsprachen, etwa wenn sie nicht psychisch Kranke, sondern Schwangere untersuchten, bei denen Angst vor der Geburt mittels Systemischer Therapie reduziert werden sollte.

Zumeist waren die Studien relativ klein: Die größte hatte 326, die zweitgrößte 209 Patientinnen und Patienten randomisiert. Zwar passten insgesamt 40 Studien zur Fragestellung des Berichts, aber nur 31 lieferten verwertbare Daten.

Probleme und Mängel bei der Studiendurchführung

Aufgrund der Art der Therapie handelt es sich um offene, nicht verblindete Studien – bei einer Psychotherapie wissen die Therapeuten natürlich welche Art der Therapie sie jeweils durchführen. Zudem basieren die Ergebnisse zu den meisten Zielkriterien auf subjektiven Einschätzungen der Betroffenen. Auch bei ihnen war häufig nicht klar, ob diese verblindet waren.

Bei einem großen Teil der einbezogenen Studien stellten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fest, dass Mängel bei ihrer Durchführung nicht auszuschließen waren. Unter anderem war nicht immer klar, ob die zufällige Zuteilung der Studienteilnehmer zu einem der Studienarme verdeckt geschah (Allocation Concealment).

Ergebnisse zu neun Störungsbereichen gebündelt

Das IQWiG bündelte die Studienergebnisse zu insgesamt neun „Störungsbereichen“: Angst-und Zwangsstörungen, Demenz, depressive Störungen, Essstörungen, gemischte Störungen, körperliche Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie und affektive psychotische Störungen sowie Substanzkonsumstörungen (Abhängigkeit, Missbrauch).

Unter anderem aufgrund der beschriebenen methodischen Defizite ließ sich aus den Daten in der Gesamtschau, also über alle Endpunkte hinweg, nur bei zwei Störungsbereichen ein „Hinweis“ ableiten, bei allen anderen waren es „Anhaltspunkte“.

Hinweis auf Nutzen bei zwei Störungsbereichen

Weder Vor- noch Nachteile der Systemischen Therapie konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der Demenz sowie bei Persönlichkeitsstörungen feststellen. Entweder es gab keine Daten oder sie zeigten keine (relevanten) Unterschiede.

Jeweils einen Hinweis auf einen Nutzen gibt es bei Angst- und Zwangsstörungen sowie bei der Schizophrenie, allerdings gilt dies nur für den Vergleich mit „keine Behandlung“. Gegenüber Beratung und Informationsvermittlung zeigen die Daten bei den Angst- und Zwangsstörungen lediglich einen Anhaltspunkt für einen Nutzen und gegenüber der Psychotherapie fallen die Ergebnisse sogar zuungunsten der Systemischen Therapie aus (Anhaltspunkt für geringeren Nutzen). Bei Schizophrenie fehlen für den Vergleich mit anderen psychotherapeutischen Verfahren Daten, gegenüber Beratung und Informationsvermittlung lässt sich aus den verfügbaren Studienergebnissen kein Nutzen oder Schaden ableiten.

Bei den übrigen fünf Störungsbereichen (depressive Störungen, Essstörungen, gemischte Störungen, körperliche Erkrankungen, Substanzkonsumstörungen) liefern die Daten jeweils Anhaltspunkte für einen Nutzen bei einem oder mehreren Vergleichen.

Aussagekräftige Studien sind machbar

„Studien zu nichtmedikamentösen Verfahren mögen in mancher Hinsicht schwieriger sein als Arzneimittelstudien, etwa bei der Verblindung“, kommentiert der stellvertretende Institutsleiter Stefan Lange die Ergebnisse des Vorberichts, „aber auch hier sind aussagekräftige Studien machbar, wie die vorläufigen Ergebnisse zur Systemischen Therapie zeigen“, so Stefan Lange.

Zum Ablauf der Berichtserstellung

Den vorläufigen Berichtsplan für dieses Projekt hatte das IQWiG im Februar 2015 vorgelegt und um Stellungnahmen gebeten. Die eingegangene Stellungnahme wurden zusammen mit einer Würdigung und dem überarbeiteten Berichtsplan im Juli 2015 publiziert. Stellungnahmen zu dem jetzt veröffentlichten Vorbericht werden nach Ablauf der Frist gesichtet. Sofern sie Fragen offen lassen, werden die Stellungnehmenden zu einer mündlichen Erörterung eingeladen.

5 Kommentare

  1. Helga sagt:

    Lieber Tom, danke für eine Übersicht von therapeutischen Konzepten und Techniken. Für jeden Patienten ist von entscheidender Bedeutung, symptomfördernde Interaktionen und Strukturen sowie dysfunktionale Lösungsversuche und endlich Störungsbereiche richtig festzustellen. Aus eigener Erfahrung kommt, dass Mängel bei der Studiendurchführung zur richtigen Lösung nicht führt, so was passierte mit der Oma von meinem Freund, wo nur Demenz ohne weiteres zur Acht genommen wurde. Die Studien zu nichtmedikamentösen Verfahren gewinnen meiner Meinung nach an Bedeutung. Hier muss man wirklich die Therapie im ganzen System unter die Lupe nehmen. Danke https://www.thomann-psychotherapie.de/therapie-und-beratung/

  2. Katrin Ludewig sagt:

    Auf der website der SG ist zur Veröffentlichung des IQWIG-Vorberichtes zu lesen: „Systemische Psychotherapie wirkt”, „Hohe Wirksamkeit bei Angst- und Zwangsstörungen und Schizophrenie“ und „Methodisch gute Psychotherapiestudien sind machbar“. Abschliessend werden Dr. B. Hermans und Dr. U. Borst zitiert: „Wir sind sehr zuversichtlich, dass der G-BA in Kürze allen Versicherten gesetzlicher Krankenkassen dieses effektive und effiziente Verfahren zur Verfügung stellen wird“.
    Schon beim Lesen der Zwischenüberschriften der IQWIG-Presseerklärung fällt auf, dass die o.g. Ergebniswiedergabe offensichtlich eine einseitige Darstellung ist. Dass das IQWIG verschiedene „Endpunktkategorien“ geprüft hat und zu vielen gar keine Aussage getroffen werden konnte, wird ebenso verschwiegen, wie das Fazit, dass bezüglich des Endpunktes „Vollremission Angststörung“ ein Anhaltspunkt fuer einen geringeren (!) Nutzen der ST im Vergleich zur psychodynamischen Langzeittherapie vorliegt. Für PatientInnen (und TherapeutInnen, die an einer lege artis Berufsausübung interessiert sind,) dürften das existenziell wichtige Informationen sein.
    Im übrigen stellt sich die Frage, inwieweit die vom IQWIG herangezogenen Studien überhaupt ein angemessenes Bild der systemischen „Therapie“ in Deutschland wiedergeben. Borst schreibt in ihrem von v. Schlippe herausgegebenen Buch (Systemische Therapie, Psychotherapie-Verlag, Tübingen 2013) auf S. 29: „Das Reden über die Störung (Krankheit), ihre Bedeutung für die Familie, die Bewältigung der Krankheitsfolgen sind durchaus Thema in einer systemischen Beratung oder Therapie, nicht aber die Besserung oder Heilung der Störung (Krankheit) selbst.“ Laut IQWIG-Glossar ist das Ziel von „Therapie“ Heilung oder zumindest eine Verbesserung der Beschwerden. Borst schreibt dazu auf S. 83: „Zentrale Begriffe für die Veränderungen, die Therapie erreichen kann, sind „Verstörung“ und „Krise“. Was hat das mit einem Heilberuf zu tun? Auf welcher Rechtsgrundlage meint Borst, eine solche Berufsauffassung vertreten zu können? Wem ist gedient, wenn der G-BA allen Versicherten gesetzlicher Krankenkassen ein solches Verfahren zur Verfügung stellt?

    • Lothar Eder sagt:

      Sie sprechen einen zentralen Punkt an, Frau Ludewig. Jeder Vertragspsychotherapeut verpflichtet sich dazu, seine Patienten über Vorgehensweise, Erfolgsaussichten, Gefahren und Alternativen seines Verfahrens zu Beginn der Behandlung aufzuklären. Das ist in vielen Punkten gut so, solange man den Patienten klar macht, dass PT keine Passivbehandlung, also keine Art „Heilsalbe“ bei seelischen Problemen ist. In großen Teilen der systemischen Szene ist dies aber (noch) nicht angekommen. Vielmehr stößt man auf kategorische Ablehnung. Selbstverständlich hat ein Patient, eine Patientin einen Anspruch darauf, zu wissen, wie ich seine Problematik einschätze und wie ich die Aussichten auf eine erfolgreiche Behandlung sehe. Wenn die die ST in die Richtlinien PT will, muss sie sich mit den Realitäten der Versorgungspraxis anfreunden.
      Wenn ich die von Ihnen angeführten Zitate lese, entsteht in mir ein großes Bedauern. Denn die ST, und nicht zu vergessen; die Familientherapie, hat soviel Gutes und Wertvolles an Perspektiven und Werkzeugen zur Psychotherapie beigesteuert, was ja bereits in die Versorgungspraxis eingegangen ist. Und dann kommen am Ende so kleinmacherische Sätzchen in der Selbstbeschreibung heraus – ein Jammer! Mehr Mut, liebe systemische Kollegen! Wir können soviel. Und wenn wir aufhören würden, alles in systemtheoretische und konstruktivistische Schwurbelbegriffe und Bedenken zu packen, hätten wir eine Chance, unsere Kompetenzen offensiv zu vertreten.

      • Katrin Ludewig sagt:

        Sehr geehrter Herr Eder,
        Sie sprechen davon, dass „jeder Vertragspsychotherapeut“ sich zur Aufklärung verpflichtet. Etwas später schreiben Sie, wenn die ST in die Richtlinien PT will, sie sich mit den Realitäten der Versorgungspraxis anfreunden müsse. Gestatten Sie mir den ergänzenden, möglicherweise auch klarstellenden Hinweis, dass Aufklärungspflichten sowohl in den Berufsordnungen der Psychotherapeutenkammern als auch im Behandlungsvertragsrecht (§§ 630a bis 630h BGB) geregelt sind. Im übrigen sei daran erinnert, dass die ST 2008 die „berufsrechtliche Anerkennung“ erhalten hat (zum Unterschied zur „sozialrechtlichen Anerkennung“ s. FAQ zur beginnenden Prüfung Systemischer Therapie durch den G-BA auf der website der DGSF). Aufklärungspflichten zu beachten ist also nicht nur eine Frage des „Sich-mit-den-Realitäten-der-Versorgungspraxis-anfreundens“, sondern der lege-artis-Berufsausübung eines/r Psychotherapeuten/-in. Mit freundlichen Grüßen, Katrin Ludewig

  3. Jürgen Kriz sagt:

    Es ist schon bemerkenswert, dass die Feststellung,
    bei „Psychotherapie wissen die Therapeuten natürlich welche Art der Therapie sie jeweils durchführen“
    unter „Probleme und Mängel bei der Studiendurchführung“ getroffen wird.
    Ganz schön unfähig, die Forscher!! Hätter man die Therapie nicht in Flaschen abfüllen können – oder zu Pillen zusammenpressen?? Wirklich mangelhaft, richtige Menschen da einzusetzen.

    Und der Magel, dass nicht kontrolliert wurde, ob die randomisierte (!!) Zuteilung der Studienteilnehmer zu einem der Studienarme vielleicht nicht wirklich zufällig geschah, ist ebenfalls gravierend. Jedenfall in Relation zu der völlig unkritischen Forderung von rct-studien, die fälschlich unterstellen, dass die vom Forscher gedachten Strukturen des Manual auch die realen Strukturen in der Lebenwelt der Patienten ist (was selbst von der VT widerlegt wurde und so zur KVT führte !!), oder dass es sich nicht um lineare Abläufe von Zählaufgaben handelt (wo man in 6 Minuten ein zehntel, in 20 Minuten ein drittel und in 50 Minuten 5/6 des Pensums 1 Stunde erreicht), sondern ein nicht linearer Vorgang – wie z.B. Prolemlösen, wo man auch dann, wenn man das Problem nach 60 min gelöst hat, in der Regel NICHT nach 6 Minuten ein zehntel, in 20 Minuten ein drittel und in 50 Minuten 5/6 des PRoblems gelöst hat.

    Es ist aber sicherlich immer gut, wenn jemand akribisch darauf schaut, dass auch nicht der kleinste Messfehler in der Mirkometerschraube geschieht – und die Frage undiskutiert und unberücksichtigt lässt, ob man dann Metallwürfel oder pulsierende Gummiwürfel damit vermisst.

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