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Systemische EMDR-Intensivtherapie

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Wie ich an dieser Stelle schon öfter beklagt habe, ist es um die Kasuistik im systemischen Feld nicht allzu gut bestellt. Viel zu oft werden nur kurze, wenig aussagekräftige Fallvignetten präsentiert, um die Wirksamkeit einer Intervention oder die überraschende Veränderung zu illustrieren, die als Ergebnis der eigenen therapeutischen Vorgehensweise vorgestellt werden. Das kompliziertere Auf und ab eines therapeutischen Prozesses, die subtilen Weichenstellungen, die ins Gelingen führen, die Hemmnisse und redundanten Schleifen, die einen Prozess erschweren und verlangsamen, von all dem ist selten in Ausführlichkeit die Rede. Umso großartiger ist das hier vorgestellte Buch von Susanne Altmeyer, die seit vielen Jahren in der systemischen Szene verankert ist und Chefärztin einer systemisch geführten psychosomatischen Klinik ist, welche sich auf die Bearbeitung von Traumatisierungserfahrungen spezialisiert hat. In dieser Klinik hat sie mit ihrem Team ein intensivtherapeutisches Konzept entwickelt, das vergleichsweise hochfrequente Sitzungen innerhalb eines kurzes Zeitraumes vorsieht. In bestimmten Situationen kann es möglich sein, auch über diese ressourcenintensive Arbeit noch hinauszugehen. Davon handelt ihr Buch „EMDR-Intensivtherapie – Systemisch – fokussiert – effektiv“. Es ist die Geschichte einer EMDR-Therapie mit einer komplex traumatisierten Patientin, die über die Dauer von fünf Tagen täglich zwischen vier und acht Stunden lang EMDR-Therapie angewandt wurden. Ihr Buch ermöglicht uns, ein solch außergewöhnliches Format sowohl aus der Perspektive der Therapeutin als auch der der Klientin nachzuvollziehen, die ihrerseits ihre parallelen Tagebucheintragungen für diesen Band zur Verfügung gestellt hat. Insofern geht es hier um eine faszinierende Ko-Produktion eines therapeutischen Prozesses, deren Darstellung man ein sehr großes Publikum wünschen möchte. Wolf Ritscher hat das Buch rezensiert und empfiehlt die Lektüre nachhaltig.

Wolf Ritscher, Unterreichenbach: Therapie als Koproduktion

Susanne Altmeyer ist Chefärztin der Klinik und Tagesklinik für Psychosomatische Medizin, Psychotraumatologie und EMDR des Gezeiten Hauses Schloss Eichholz in Wesseling bei Köln. Sie verfügt über eine jahrelange Erfahrung in der stationären und ambulanten Kombination von Traumatherapie und EMDR und eine beeindruckende Expertise in diesem Feld.

Sie hat nun ihren Erfahrungsschatz in Buchform veröffentlicht – mit vielen Anregungen und konzeptionellen Überlegungen für alle sich mit Psychotraumata befassenden Kolleg:innen. Dabei erweist sie sich als versierte Systemikerin, die zugleich auch andere Richtungen der Psychotherapie in therapeutische Prozesse integriert, z.B. Körperarbeit, Hypnotherapie und imaginative Verfahren. Und es lassen sich in der Arbeit mit Symbolen auch einige Verbindungslinien zur Tiefenpsychologie finden. Sie zeigt, wie wichtig der »Blick über den Zaun« ist, um sich selbst und die eigene therapeutische Praxis weiter zu entwickeln.

Das Zentrum ihres Buches bildet die Darstellung einer sich über 5 Tage erstreckenden EMDR-Intensivtherapie mit Frau Schubert (Name geändert), die nach einem Informationsaustausch mit ihrem ambulanten Psychotherapeuten stationär aufgenommen wurde. Die wertschätzende Kooperation mit dem Kollegen im Vorfeld und nach der Beendigung der Intensivtherapie ist ganz im Sinne eines mit der EMDR-Therapie verknüpften systemischen Konzeptes.

Der Falldarstellung wird eine kurze und prägnante Einführung in die EMDR-Therapie und die verschiedenen Verfahren, Methoden und Konzepte, die mit ihr verknüpft werden können, vorangestellt. Dazu gehören Systemische Therapie, Hypnotherapie, Ego-State-Therapie, Imaginationsverfahren und körperorientierte Interventionen.

Die Autorin betont die Bedeutung der therapeutischen Beziehung als Motor und Mediator des Therapieprozesses und zeigt in den Protokollen der Therapie mit Frau Schubert ganz konkret, wie sie diese praktisch realisiert. Ihre Fürsorge und Empathie für Frau Schubert sind beeindruckend, vor allem weil sie trotzdem auf die notwendige Distanz achtet und dadurch einen dialektischen Tanz zwischen den Polen von Nähe und Distanz choreographiert. Es ist überhaupt diese humane Grundeinstellung, die für das Buch und seine Verfasserin charakteristisch ist. Neben der mit anderen Verfahren verknüpften systemisch ausgerichteten EMDR-Therapie wird von der Autorin das von dem israelischen Soziologen Aaron Antonovsky entworfene Konzept der »Salutogenese« als ihre theoretische Basis beschrieben. Das macht Sinn, denn dessen zentrale Perspektive ist die »Kohärenz« – die als kognitiv-affektiver Kontext (Ciompi) jeder Erfahrung einen subjektiven Sinn und eine subjektive Bedeutung unterlegt.

Damit wären wir bei dem zentralen dritten Kapitel des Buches angelangt: »Der Guhl, das ganz Kleine und die tentakeligen Monster«). Es beinhaltet die Darstellung des von Susanne Altmeyer als Therapeutin und Therese Schubert als Patientin gemeinsam hergestellten, durchgehaltenen und erfolgreichen therapeutischen Prozesses. Jochen Schweitzer hat in seinem letzten Buch »Ich hätte da noch eine Idee« systemische Therapie unter anderem als Ergebnis der kommunikativen »Coproduktion« von Therapeut:in und Klient:in beschrieben. »sapere aude! Habe Mut Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!« war die Antwort Immanuel Kants auf die Frage »Was ist Aufklärung«. Und dieser Mut zum Gebrauch des eigenen Denkens richtet sich sowohl auf den einzelnen Menschen selbst, als auch auf seine immerwährende und nicht hintergehbare Kommunikation mit den sozialen Anderen.

In der therapeutischen Fallarbeit treffen zwei in diesem Sinne mutige Menschen zusammen: Frau Schubert, die sich in der Abfolge der fünf aufeinander folgenden Therapietage (27 Therapieeinheiten mit einer jeweiligen Zeitdauer zwischen 100 und 150 Minuten) offen mit den furchtbaren traumatischen Erfahrungen ihres bisherigen Lebens von der Kindheit bis in das Erwachsenenalter konfrontierte und Susanne Altmeyer, die bereit war, als un-be-irrbare Wegbegleiterin ihrer Patientin deren Schmerzen, Symptome und inneren Konflikte auszuhalten und ihr immer wieder selbstwirksames Handeln ermöglichte. Frau Schubert gelingt es, aus der Rolle des ohnmächtigen Opfers, das sie in der Kindheit zweifellos war, in die eines (mit allen Rückschlägen) Selbstwirksamkeit erfahrenden und die Zukunft in die eigene Hand nehmenden Menschen zu wechseln. Susanne Altmeyer bewährt sich dabei in der Rolle, die sie an einer Stelle des Buches als »Ressourcentrüffelschwein« charakterisiert: Manchmal geht sie suchend voran, ein anderes Mal ist sie die aufmerksame Begleiterin an ihrer Seite, und in einer dritten Variante folgt sie Frau Schubert geduldig auf den Pfaden ihrer Erinnerungs- und Gefühlswelten – und bleibt dabei immer im Kontakt mit ihr. In den Begriffen der Hypnotherapie findet hier ein optimaler Wechsel zwischen »pacing« und »leading« statt.

Was diesen Fallbericht so spannend und wirklichkeitsnah werden lässt, ist der Wechsel zwischen den empathischen und die Patientin in ihrem ganzen So-sein zur Geltung bringenden Prozessbeschreibungen von Susanne Altmeyer und den immer wieder in sie eingeflochtenen Tagebucheintragungen von Frau Schubert. In diesen schildert sie die »gleichen« therapeutischen Situationen, die Susanne Altmeyer beschreibt, aus ihrer Sicht – mit all ihren darauf bezogenen Gedanken, Emotionen und Resonanzen. Sie beschreibt, wie bestimmte Interventionen der Therapeutin bei ihr ankommen, was sie in ihr auslösen und welche weiterführenden Assoziationen, Gedanken, Gefühle, Empfindungen, Bewertungen sie bei sich selbst wahrnimmt. Solch differenzierte und ausführliche Rückmeldungen der Klient:innen/Patient:innen/therapeutischen Dialogpartner:innen gibt es selten. Sie sind neben dem durch das von beiden »Dialogpartnerinnen« geschaffene Beziehungsklima der wechselseitigen Akzeptanz und Empathie auch den salutogenetischen Ressourcen dieser sensiblen, motivierten und klugen Klient:in zuzuschreiben.

Das macht diese Fallgeschichte so wertvoll und berührend.

Frau Schubert und Susanne Altmeyer erstellten zu Beginn der Therapie eine Liste mit 16 traumatisierenden Situationen, das heißt Situationen, in denen die Existenz von Frau Schubert fundamental in Frage stand und eine »Trauma-Landkarte«. In diese wurden neben den negativ konnotierten Situationen und belastenden Todesfällen auch die positiv bewerteten Ereignisse ihres »erlebten Lebens« (Retzer, 1996) eingetragen. Um die Darstellung der traumatisierenden Situationen herum entstand nun eine vielschichtige, sich stufenweise an die schlimmsten Traumasituationen herantastende Erzählung – im Kontext von heftigen (zunächst hauptsächlich negativen, später dann auch positiven) Emotionen, oft verwirrenden, dann aber auch hilfreichen Gedanken – und Körperempfindungen als »Kontextmarker« der Gedanken, Gefühle und Affekte.

Der fünfte und letzte Tag des Intensivblocks war zwar dessen Ende, aber nicht der Endpunkt, sondern nur eine »Interpunktion« (Watzlawick, Beavin, Jackson) des therapeutischen Prozesses. Es gab noch einige weitere stützende E-Mail-Kontakte, Telefonate, zwei persönliche Gespräche und auch Kontakt mit dem bisherigen Einzeltherapeuten. Die stützenden Kontakte zogen sich noch bis ins nächste Jahr hin und endeten zu einem Zeitpunkt, als Frau Schubert eine neue Einzeltherapeutin gefunden hatte.

Die fünftägige stationäre Intensivtherapie war also nicht das Ende der therapeutischen Hilfe für Frau Schubert, was bei den Horrorszenen ihres »erlebten Lebens« nur zu verständlich ist. Aber sie war nun stabil genug für die Bewältigung ihres Alltags (mit Einschluss der Berufstätigkeit) und einer weiteren ambulanten Therapie.

Die Beschreibung dieses intensiven und dennoch zeitlich überschaubaren therapeutischen Prozesses lässt sich auch als Handbuch einer methodisch geleiteten und zugleich Intuition, Resonanz, Ver(w)irrung und »doppelte Kontingenz« (Luhmann) zulassenden therapeutischen Praxis lesen. Die Autorin führt uns an Hand der acht vom EMDR-Konzept beschrieben Therapiephasen und des darin jede Sitzung strukturierenden methodischen Schemas durch die konkrete Fallarbeit. So erfahren wir neben den persönlich berührenden Inhalten auch etwas über die zentralen Elemente dieses therapeutischen Verfahrens – so wie Susanne Altmeyer sie nutzt.

Ich selbst hatte das Privileg, bei Susanne Altmeyer ebenfalls eine – allerdings ambulante – Intensivtherapie zu durchleben. Insofern habe ich dieses Buch nicht nur aus der Perspektive eines Fachkollegen, sondern auch eines Klienten gelesen. Vieles, was ich selbst erlebt hatte, fand ich hier wieder, auch die Erinnerung an eine außerordentlich hilfreiche Therapie durch eine sensible, empathische, ihren Klienten wertschätzende Therapeutin mit einer hohen methodischen und theoretischen Kompetenz.

Ihr Buch ist einerseits ein Buch für Praktiker:innen, die sich für die Traumatherapie als eigenständiges Feld interessieren und sich darin kundig machen möchten. Es spricht aber auch erfahrene Traumatherapeut:innen an, die sich vor dem Hintergrund von Susanne Altmeyers Erfahrungen selbst reflektieren möchten. Es zu lesen ist also lohnend für Anfänger:innen, Fortgeschrittene und therapieerfahrene Klient:innen.

(mit freundlicher Genehmigung aus Kontext 1/2025)

Leseprobe aus dem Buch

Susanne Altmeyer: EMDR-Intensivtherapie. Systemisch – fokussiert – effektiv. Stuttgart (Klett-Cotta; Reihe Leben Lernen)

140 S., brosch.
Reihe: Leben Lernen, Bd. 348
ISBN: 978-3-608-89323-6
Preis: 22,- € Paperback, 21,99 E-Book

Verlagsinformationen:

Die Autorin beschreibt in diesem Buch besonders anschaulich, wie eine EMDR-Intensivtherapie effektiv und nachhaltig bei traumatisierten Patient:innen eingesetzt werden kann. Selten bekommen Leser:innen die Gelegenheit, einer Therapeutin so unmittelbar über die Schulter zu schauen und gleichzeitig den Therapieprozess auch aus Sicht der Patientin zu erleben. Im Mittelpunkt der Therapie steht eine hochstrukturierte therapeutische Technik, die die Autorin mit ihrer systemischen Herangehensweise um zahlreiche fantasievolle, ressourcenorientierte Methoden ergänzt – wo immer es im Therapieprozess angebracht ist. Daraus ergibt sich eine höchst effektive Methode, Veränderung in Gang zu bringen und nachhaltige Verbesserungen zu erzielen.

Über die Autorin:

Susanne Altmeyer, Dr. med., ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Neurologin, Systemikerin und EMDR-Therapeutin. Sie leitet als Chefärztin die Klinik und die Tagesklinik für Psychosomatische Medizin, Psychotraumatologie und EMDR des Gezeiten Hauses Schloss Eichholz bei Köln.

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