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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Systemisch – symptomspezifisch, beobachterInnenabhängig, kompatibel mit dem medizinischen Gesundheitssystem?

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Hans Lieb (2014) Störungsspezifische Systemtherapie

Hans Lieb (2014)
Störungsspezifische Systemtherapie

Im vergangenen Jahr ist als Einleitungsband einer neuen Reihe zur „störungsspezifischen Systemtherapie“ im Carl-Auer-Verlag der programmatische Einleitungsband von Herausgeber Hans Lieb erschienen, der von Wolfgang Loth für das systemagazin ausführlich rezensiert worden ist. In der letzten Ausgabe der Zeitschrift systhema hat sich Jürgen Hargens anstelle einer weiteren Rezension mit einem Diskussionsbeitrag zu diesem Buch (und Konzept) zu Wort gemeldet, der hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion online gestellt wird.

 Jürgen Hargens, Meyn:

Dies sollte ursprünglich eine Rezension werden, doch beim Lesen bemerkte ich, dass mich diese Aufgabe überforderte – einfach weil ich inhaltlich (fachlich, politisch?) eine ganz an­ dere Ansicht vertrat und mir darüber im Laufe der Argumentation in diesem Buch immer klarer wurde. Insofern will ich hier meine andere Auffassung anhand der Lektüre

Hans Lieb (2014): Störungsspezifische Systemtherapie. Konzepte und Behandlung. Heidelberg (Carl-Auer)

ein wenig erläutern und auf ein paar Aspekte hinweisen, die mir nicht so eindeutig theorie­konsistent scheinen.

Der Reihe nach:

Meinen grundlegenden Einwand kann ich leicht formulieren: ich teile die Idee einer stö­rungsspezifischen Systemtherapie nicht. Hintergrund dieser Idee – und da zolle ich Lieb uneingeschränkt Respekt, da er dies so klar bereits am Anfang offenlegt – sind die „zur Zeit laufenden Bestrebungen, eine sozialrechtliche Anerkennung im Gesundheitswesen zu errei­chen“, und die „machten es notwendig, die Wirksamkeit der Systemtherapie für bestimmte Störungen nachzuweisen“ (S. 9).

Wobei ich mich frage, woraus sich diese Notwendigkeit ableitet – denn sie bedeutet in meinen Augen zunächst einmal nichts anderes, als die Spielregeln des Gesundheitssystems anzuerkennen und das eigene Konzept dafür „passend“ zu machen. Vor diesem Hinter­grund sind die Beschreibungen, Erklärungen und Begründungen durchaus nachvollziehbar und reihen sich in die Veröffentlichungen ein, die bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen sind: das Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II. Das störungsspezifische Wissen von Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe (2006).

Insofern wird dieses Buch die Debatte – und die notwendige Entscheidung – befördern, was das „Systemische“ an „der“ Systemtherapie ausmachen kann, soll und wird. Systemische Therapie hat sich – man denke an die epistemologischen Debatten, die 1982 in der Zeit­schrift Family Process (1982 [21/1]) begannen – als Kritik an der bestehenden psychothe­rapeutischen Praxis entwickelt und dabei ein paar stärker „subversive“ Ideen entwickelt – Abkehr vom Medizinsystem, Betonung der Erzählungen, Aufgeben der Vorstellung von Krankheit als eigenständige Entität u.Ä.m. Gerade die Etablierung systemischer Ansätze in Europa zeigt dies überdeutlich (Selvini-­Palazzoli et al. 1977).

Hinzukommt, dass mit dem Darstellen von Störungsspezifität oft zugleich ein psychotherapeutisches – hier: systemisches – Vorgehen entsprechend der Logik eines me­dizinischen Modells impliziert wird, was durchaus von SystemikerInnen auch anders gesehen wird. Ich verweise nur auf die Darstellung der Systemischen Gesellschaft, wo es auf ihrer Website gerade in Hinblick auf Störungsspezifität und damit verbunden auch in Bezug auf Diagnose heißt: Beschreibung statt Diagnosen.

Im therapeutischen und beraterischen Bereich orientiert sich systemische Praxis am Anliegen der Klienten (Kunde/-innen) und verzichtet auf normative Zielsetzungen und Pathologisierung. Im Rahmen von fürsorglichen und sozial-pädagogischen Maßnahmen knüpft systemische Praxis an die Ressourcen der Beteiligten an, um ethisch vertretbare Zustände herbeizuführen.

Systemische Praxis verfolgt gemäß ihrem theoretischen Ansatz weder das Ziel, die Probleme diagnostisch zu erkunden und zu klassifizieren, noch sie kausal zu verändern. Vielmehr versucht sie, im Dialog mit den Betroffenen Beschreibungen zu entwickeln, die die Möglichkeiten aller Beteiligten, wahrzunehmen, zu denken und zu handeln, erweitern. Sie sucht also nach Bedingungen, mit deren Hilfe die Klienten ihre Ressourcen aktivieren können, um in Selbstorganisation zu ihren Zielen gelangen zu können (SG, o. D.)

Dies wird auch – so verstehe ich Lieb – von ihm selber so gesehen: „Aus der Systemtheorie lassen sich weder bestimmte Interventionen für die Therapie oder für den Umgang mit Kli­enten mit ,Symptomen‘, ,Störungen‘, ,Krankheiten‘ ableiten noch deren Ablehnung“ (S. 16).

Ausgangspunkt systemischer Ansätze war und ist die Beobachtung der betroffenen Men­schen selber, was die SG mit dem Begriff „Selbst­-Expertentum“ zusammenfasst:

Statt der immer besseren „Erfassung“ von Individuen und Systemen rückt der Erkennende (Beobachter) und seine persönlichen Hintergründe (Vorerfahrungen, Glaubenssysteme, Tabus und „blinde Flecken“) in den Vordergrund. Systemisch ausgerichtete Therapeut/-innen, Berater/-innen und Supervisor/-innen gehen von der Autonomie der Rat- und Hilfesuchenden aus und betrachten diese als „Experten und Expertinnen ihrer selbst“. Dabei wird das individuelle Erleben der Einzelnen als subjektive Verarbeitung ihrer lebensgeschichtlichen, affektiven und kognitiven Beziehungserfahrungen verstanden (o. D.).

Nun ließe sich sagen, dass im medizinischen Gesundheitsmodell solche Ideen eher störend und subversiv sein dürften. Was geschehen kann, wenn sich solche anfangs subversiven Ideen in das System hineinwünschen, sieht auch Lieb, indem er das Beispiel der Verhaltens­ therapie nach ihrer Etablierung als Krankenbehandlung im Gesundheitswesen anführt: „An ihrer Entwicklung danach kann man beobachten, wie sich eine Therapieschule durch An­passung an ihre Umwelt verändert. Eine erste Generation von Verhaltenstherapeuten übte sich nach dieser Etablierung in einer ,doppelten Buchführung‘“ (S. 24f.).

Was sich mir z. B. in diesem Zusammenhang nicht erschließt, ist ein Aspekt von Liebs Über­sicht „Was die störungsspezifische Systemtherapie nicht ist“ (S. 20f.): „Mit störungsspezifi­scher Systemtherapie verbindet sich keine Bewertung der Phänomene, die mit dem Begriff ,Störung/Krankheit‘ markiert werden. Bewertungen sind stets solche von Beobachtern und gehören zu deren Kontexten“ (a. a. O.). Für mich sind Begriffe wie Störung/Krankheit immer mit Bewertungen verbunden. Ich wüsste nicht, wie es anders sein sollte. Und Bewertungen sind immer mindestens zweiseitig – zum einen persönlich und subjektiv, zum anderen ge­sellschaftlich und sozial, wobei beides durchaus nicht übereinzustimmen braucht. Genau deshalb halte ich es für notwendig, sehr genau darüber zu reflektieren, welche Worte/Be­griffe verwendet werden – auch weil nach konstruktivistischer Sicht Sprache Wirklichkeiten hervorbringt. Zumal Lieb selber darauf aufmerksam macht, dass der „Begriff ,Krankheit‘ … der somatisch orientierten Medizin“ entstammt (S. 22) – das wirft bei mir die Frage auf, ob und ggf. inwieweit es dann sinnvoll ist, eben diesen Begriff zu verwenden. Zumal, wie Lieb anmerkt, eine solche „Übertragung … weitreichende Folgen“ hat, denn „[s]ie führt zu zahl­reichen Paradoxien“ (a. a. O.). Da erscheint es mir nützlicher und überzeugender, von vorn­herein auf solche Übertragungen zu verzichten.

Wie sich eine störungsspezifische Systemtherapie damit auseinandersetzen kann, welche Auswirkungen eine solche Übernahme vor­herr­schender Konzepte des etablierten Ge­sundheitswesens für systemische Ansätze haben kann und wie sich „Systemisches“ ihre Identität bewahren kann, davon findet sich dann leider so gut wie nichts in diesem Buch. Das ist das, was ich bedauerlich finde, allerdings nachvollziehen kann angesichts der poli­tischen Situation – die beiden großen systemischen Fachverbände haben beschlossen, die Anerkennung des Gesundheitswesen zu erhalten, was immer das für „Systemtherapie“ be­deuten wird – denn darüber wird wenig öffentlich debattiert.

Levold macht beispielsweise (2014, 146) darauf aufmerksam, dass der „psychodiagnosti­sche Mainstream … nach wie vor an individuellen Pathologien ausgerichtet [ist] und … Be­ziehungsmuster und soziale Kontexte als Randphänomene ohne eigenständigen Problem­wert [behandelt]“.

Die für mich bedeutsamen Grundsatzfragen lauten, ob und ggf. inwieweit (1) sich Grund­ideen der beiden Bereiche (Systemtherapie und medizinisch ausgerichtetes Gesundheitswe­sen) überschneiden, (2) eine Übernahme traditioneller Begrifflichkeiten wesentliche Unter­scheidungskriterien aufheben und (3) Unterschiede nützlich und befruchtend sein können.

Das hat u. a. auch damit zu tun, welche Begriffe verwendet werden. Wie nützlich ist es, von Störungen zu sprechen, von Diagnose, angesichts dessen, dass „ohnehin nicht der Missio­nar [bestimmt], sondern der Missionierte, was dabei herauskommt“ (Lieb, S. 119), was ich so verstehe, dass – egal, wie sehr sich systemisch Interessierte um Klärungsprozesse etc. bemühen, es VertreterInnen des bestehenden Gesundheitssystems sind, die entscheiden. Von daher ist es für mich bedeutsam, mögliche (!) Auswirkungen auf die eigenen Ideen (Konzept der Rückbezüglichkeit) zu reflektieren, ehe (!) solche Entscheidungen getroffen werden. Diese Diskussion habe ich vermisst und vermisse sie noch immer – was nichts da­ran ändert, dass ich durchaus erkenne, welche (soziale und finanzielle) Bedeutung es auch hat, im Gesundheitswesen Anerkennung zu finden. Für mich die Frage: um welchen Preis?

Literatur

Family Process, 21(1), März 1982
Levold, T., Wirsching, M. (Hrsg.) (2014). Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch. Heidelberg (Carl­-Auer)
Schweitzer, J. & von Schlippe, A. (2006). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II. Das störungsspezifische Wissen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)
Selvini-Palazzoli, M., Boscolo, L., Cecchin, G., Prata, G. (1977). Paradoxon und Gegenparadoxon. Ein neues Therapiemodell für die Familie mit schizophrener Störung. Stuttgart (Klett-Cotta)
SG (o. D.): http://systemische-gesellschaft.de/systemischer-ansatz/was-ist-systemisch/ (Zugriff: 15.2.2015)

8 Kommentare

  1. Dass im Zusammenhang mit den “ immensen Anstrengungen um die sozialrechtliche Anerkennung“ auch bei Brigitte Ott „der Eindruck aufkommt, dass alte Ideale den Gesetzen des Marktes geopfert werden“, ist nicht unberechtigt. Trotzdem: welches sind den die „alten Ideale“, die diesem (und nicht einem andern systemdynamischen Prozess in unserem Berufsfeld!) zum Opfer fallen könnten? Ganz allgemein, insbesondere als Ausbildner lässt sich beobachten, dass der inhaltliche Diskurs über „Ideale“ der Jagd nach schneller Anerkennung und den damit verbundenen ECT Punkten zum Opfer fällt. Eine Tendenz, die sich über die Therapieschulen (auch die Systemische), die Ländergrenzen und über die Demarkationslinie der „anerkannten Verfahren“ hinweg beobachten und beklagen lässt . Gerade darum bin ich der Meinung, dass wir „Systemiker“ uns hier nicht weiter „ex-kommunizieren“ (Retzer u.a.) lassen sollten, sondern unsere „alten Ideale“ sowohl in den eignen Reihen als auch darüber hinaus in den psychotherapeutischen Diskurs einbringen sollten.

  2. Brigitte Ott sagt:

    Brigitte Ott, PPSB-Hamburg
    Den kritischen Betrachtungen von Jürgen Hargens kann ich mich voll und ganz anschließen. Die Auseinandersetzungen der letzten Zeit zeigen, dass diese Debatte um den Umgang mit Beobachtungsergebnissen der beobachtenden Therapeut_innen in der Kommunikation unter Fachkräften unterschiedlicher Denkkonzepte äußerst wichtig ist. Auch die Systemiker sollten ihre Weltsicht deutlicher kennzeichnen. Nicht ohne Grund war es bisher Sprachregelung von einer beschreibenden Art und Weise im Umgang mit dem Leid der Hilfesuchenden auszugehen, um die Verhandlungsebene und damit den Dialog zwischen Hilfesuchenden Menschen und anbietendem Therapeuten sicherzustellen. So bleibt uns die kooperative und konstruktive Kommunikation mit den Hilfesuchenden erhalten. Diagnosen verleiten uns zu Festschreibungen und sind ein Zugeständnis an die vorherrschenden Systeme im Gesundheitswesen. Sicher müssen wir auch Kompromisse eingehen jedoch sicher nicht um jeden Preis.
    Die immensen Anstrengungen um die sozialrechtliche Anerkennung, die schon in den jetzt neu angebotenen Approbationsausbildungen den systemischen Ansatz in den Hintergrund schiebt, lässt den Eindruck aufkommen, dass alte Ideale den Gesetzen des Marktes geopfert werden. Worum geht es? Geht es um den Paradigmenwechsel, der es den Anliegengeber_innen ermöglicht selbstgesteuert mit Hilfe Systemischer Beratung Ihr Problemsystem zu bearbeiten und die Anzahl Ihrer Möglichkeiten zu erhöhen? Die vermeintlichen Berater_innen und Therapeut_innen bleiben dabei bescheiden in Ihrer Haltung, wissend, dass Sie selbst durch Ihre eigenen Möglichkeiten in Ihren Beobachtungen begrenzt sind. Ein ehemals großer Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen und therapeutischen Bereich, für den viele sich leidenschaftlich, idealistisch und politisch einsetzten. Dieser Ansatz ließ Macht, Ohnmacht, Allwissenheit und Ständedünkel im neuen Licht erscheinen und ermöglichte neue Auseinandersetzungen und persönliche Weiter-Entwicklungen in vielerlei Hinsicht. Oder geht es darum zu glänzen als Systemische Therapeut_in mit einem Konzept, was schnelle auch wirtschaftlich interessante Hilfe verspricht – nach dem Motto, wir wissen, wie das geht? Oder geht es auch um finanziell interessante Marktanteile, die sich viele schnell sichern wollen um jeden Preis. Dieser Eindruck kann entstehen, wenn wir uns den ganz schnellen Entwicklungsprozess der jetzt die Approbationsausbildung anbietenden Institute ansehen. Dies geschah in einem rasanten Tempo. Die systemische Ausrichtung, deren Haltung und Inhalte entwickelten sich zur Nebensache. Die kritischen Fragen in den vorbereitenden AGs der SG, welchen Stellenwert denn die Systemische Therapie/Beratung/Supervision/Haltung/Theorie hätte, wurden unseres Erachtens vernachlässigt. Es schien vielmehr darum zu gehen Marktanteile zu sichern und den Zug nicht zu verpassen. Dass es in diesen Ausbildungen darum geht, mit einem längst überholten pathologischen Störungsbegriff umzugehen, die systemische Therapie den sonstigen Therapieverfahren unterzuordnen war kaum diskutierbar oder wurde nicht als wichtig betrachtet. Diese Diskussion ist in vielerlei Hinsicht längst überfällig, wie sich nun auch anhand der Veröffentlichungen zu störungsspezifischem Wissen im systemischen Kontext der SG zeigt.

  3. Bezug: http://www.systemagazin.com/
    Beitrag von Jürgen Hagens: Systemisch- symptomatisch, beobachterInnenabhängig, kompatibel mit dem medizinischen Gesundheitssystem.
    Schon jetzt hat sowohl das Buch von Hans Lieb als auch die dadurch entstandene Debatte und der aktuelle Beitrag von Jürgen Hargens einen hilfreichen Effekt ermöglicht. Die Debatte um: Was ist eigentlich mit den Systemikern los, wenn sie sich mit den Beschreibungen ihrer Kunden auseinandersetzen? Welches Konzept verfolgen in diesem Kontext. Welchen Zweck verfolgen sie, wenn sie dies tun? Wollen sie eine Bewertung über jemanden abgeben oder wollen sie sich mit den eigenen Kommunikationsproblemen auseinandersetzen, die entstehen, wenn sie sich über diagnostische Fragen verständigen wollen? Es ist aus meiner Sicht nicht möglich eine solche Debatte zu führen ohne gleichzeitig das systemische Konzept zu diskutieren. Da schließe ich mich den Ausführungen von Jürgen Hargens absolut an.
    Außerdem denke ich auch, dass diese Debatte zur aktuellen Situation passt, in der es den systemischen Dachverbänden um die operationale Gestaltung der sozialrechtlichen Anerkennung und den daraus resultierenden Notwendigkeiten einen hilfreichen Umgang mit den Beteiligten am Gesundheitswesen der Republik zu entwickeln. Jeder daran partizipierende Systemiker ist gefordert Stellung zu beziehen und für sich eine hilfreiche, autopoietisch entwickelte Aussage zu konstruieren, die es ermöglicht, seine Ziele in diesem Netzwerk erfolgreich zu verwirklichen. Natürlich werden die jetzt getroffenen Entscheidungen dazu beitragen, dass auch die Systemischen Theorie Anpassungsprozesse Durchlaufen wird. In den Dachverbänden wird hoffentlich die offene Diskussion über solche Veränderungsprozesse dazu beitragen, dass nicht an ihrem Ende gesagt wird: Das hat sich im Laufe der Zeit so ergeben.“
    Einen anderen als den sozialpolitischen Aspekt sehen wir in der Entwicklung einer systemischen Sprache. Es war aus meiner Sicht schon oft ein Dilemma, dass wir eine neue Theorie, die es geleistet hat wesentliche Paradigmen neu zu beschreiben, mit der alten traditionell besetzten Sprache beschrieben haben. Der reproduktive Effekt, der zur Rückkehr zu einem alten Wertesystem führt, ist unterschätzt worden. Es fehlt uns eine Sprache, die einen Unterschied ermöglicht, um sich in der Beobachterwelt respektvoll über die Beobachtungen, die von Beobachtern gemacht werden, auszutauschen.
    Der systemischen Theorie würde es gut anstehen klare Grenzen zu anderen Theorien und zur Sprache anderer Gedankenkontexte zu entwickeln, um eine Auseinandersetzung/Verhandlung mit ihnen zu führen ohne sich in ihnen zu verlieren. Deshalb nochmal ein großes Danke an die beiden Diskutanten Hans Lieb und Jürgen Hargens, die uns diese Möglichkeit mit ihren Beiträgen gegeben haben.
    Harald Ott-Hackmann, PPSB-Hamburg

  4. Keine Frage: Das Ziel die sozialrechtliche Anerkennung der Systemischen Therapien anzustreben ist absolut sinnvoll und legitim. Doch möchte ich Jürgen Hargens Kritik, Anmerkungen und Bedenken beipflichten: Was geben SystemikerInnen auf, wenn sie anfangen eine Fachsprache zu sprechen, die sie nicht erfunden haben, eine Fremdsprache, die sie zwar gelenrt haben, aber die doch wenig kompatibel mit ihrer theoretischen Orientierung und täglichen Praxis ist?!

    Wenn es SystemikerInnen um Spezifität geht, sollten sie nicht vielmehr die spezifischen Entwicklungsziele und dazu möglichen Interaktionen in den Fokus nehmen statt die Psychopathologie und das Individuum?

    Es wird Zeit eine Nomenklatur zu entwickeln, die sich an den zu entwickelnden Zielen und nicht an den zu überwindenden Krankheiten orientiert. Eine Nomenklatur, die eine Sprache nutzt, die die potentiellen negativen Bewertungen / Stigmatisierungen vermeidet und das systemisch – lösungsfokussierte Menschenbild sprachlich umsetzt.

    Kreative Ideen hierzu beobachte ich immer wieder auf Workshops von Trainerkollegen, die sich trauen quer zu denken. Ben Furman beispielsweise versucht sich sprachlich immer wieder mit Syndromen und entsprechenden Abkürzungen, die so vermutlich noch nie ausgesprochen wurden:
    Während andere KollegInnen von Depression sprechen, nutzt er explorativ Begriffe, wie das „Freude-hat-sich -versteckt Syndrom“ (kurz FHSV).

    Meine Vision ist es, eine Sprache zu entwickeln, die Störungsspezifität einfängt und umwandelt, die einen Gegenentwurf zu DSM und ICD Kategorien / Klassifizierungen bildet, in dem Kolleginnen anfangen Hypothesen von möglchen Entwicklungszielen zu äußern, wenn sie eine psychopathologische Diagnose hören.

    Ich plädiere für eine mutige und offen gelebte Bilingualität in Sachen Fachvokabular in Bezug auf (Störungs-)Spezifität. Dabei können FachkollegInnen anderer theoretischer und praktischer Herkunft hören, wie ein und derselbe Sachverhalt beschrieben und erfunden werden kann, ohne den Anspruch zu erheben diesen Sachverhalt richtig zu beschreiben, sondern nur konstruktiv verstörend anders.

    Wenn SystemikerInnen ihre Identität behalten wollen, während sie mit störungsspezfisch denkenden Fachkollegen kommunizieren, so sollten sie bei Nutzung der individuumszentriert pathologiezuschreibenden Diagonse immer auch ihre systemische Übersetzung mitdenken, schreiben, kommunizieren:
    Wenn „Depression“ als ein interaktionales Geschehen verstanden und kommuniziert werden kann, in dem mögliche Entwicklungsziele enthalten sind (z.B. versteckte Lebensfreude wieder finden), dann ist ein Wandel möglich, der hoffentlich an sich schon gesundheitsförderlich ist.

    Und abgesehen von der möglichen Effektivität des Ansatzes / der Therapieschule:
    Wenn ich als Kunde / Betroffener wählen dürfte, würde ich vermutlich immer lieber ein FHSV-Syndrom haben als eine Depression – die macht mich immer so hoffnungslos. FHSV suggeriert mir, dass ich meine Freude, die in mir steckt, irgendwo verlegt habe, und diese Beschreibung meines Therapeuten ermächtigt mich – und macht mich hoffnungsvoller.

    • Dein Beitrag hat mich sehr gefreut und ermutigt, in der Aus-Wahl meiner Worte und Formullierungen kreativer und unkonventioneller zu werden.
      Danke für den konstruktiven und nach vorn gerichteten Gedanken. Ich dachte gerade: „Nur so gehts!“
      Zum Glück konnte ich mich an den Satz: „Der Erfinder der Wahrheit ist der erste Lügner“, von Heinz von Foerster erinnern. „So könnte es gehen, vielleicht aber auch ganz anders“, im Luhmannschen Sinne, macht mich noch hoffnungsfroher.

  5. Lothar Eder sagt:

    Eine psychotherapeutische Haltung hat meiner Meinung nach nicht vordergründig die Aufgabe, „subversiv“ zu sein, wie Jürgen Hargens dies mehrmals betont. Hört man da nicht an vielen Stellen die „gute alte“ Systemkritik der 70er Jahre heraus?
    Psychotherapie hat als vorderstes Ziel, hilfreich für die Menschen zu sein, die sie in Anspruch nehmen. Daß sich hieraus gesellschaftskritische Aspekte ergeben können, ist eine andere Sache.
    Was Hargens nicht erklärt ist, wie er denn einer Kategorisierung der Phänomene, die ihm in von Seiten des Patienten begegnen, entkommen will – streng genommen kann man „nicht nicht diagnostizieren“. Man wird als Therapeut immer zu bestimmten Deutungen und Interpretationen kommen, die dann wieder in den Prozeß einfließen.
    „Krankheit“ ist zudem keine Erfindung des Medizinsystems (das Hargens a priori negativ konnotiert). Es ist eine Erlebenskategorie. Nicht die Medizin hat sich die Kategorie „Krankheit“ ausgedacht, sondern Medizin wurde entwickelt, um Krankheiten zu lindern. So ist es auch mit der Psychotherapie.
    Wer auf diagnostische Kategorien verzichtet, dem bleiben notwendige und hilfreiche Bereiche und Aspekte verschlossen. Mit Goethe läßt sich sagen: man sieht nur was man kennt.
    Wer z.B. die Kategorie „Traumatisierung“ (PTBS) aus – wie ich finde – ideologischen Gründen ablehnt, läuft Gefahr, in seinem therapeutischen Handeln gravierende Fehler zu machen. Traumarisierungen lassen sich nicht einfach durch eine kognitiv ausgerichtete Auftragsklärung eruieren. Patienten kommen nicht und sagen „ich habe ein Trauma, können wir daran arbeiten?“. Traumata sind oft verborgen, wirken unbewusst, zeigen sich in Sekundärsymptomen. Nur der entsprechend geschulte Therapeut wird seinen Patienten, seine Patientin darin unterstützen können, sich langsam an die verwundeten Teile der eigenen Seele heranzutasten.
    Dies sei nur als eines von vielerlei möglichen Beispielen genannt, daß diagnostische Einordnungen notwendig und sinnvoll sind. Diagnostik dient nicht der Bevormundung von Patienten oder Klienten, sie dient vielmehr, richtig angewandt, der Autonomieförderung von Patienten.
    Insofern ist Liebs Projekt, bei mancherlei kritischen Einwänden, die sich formulieren ließen, ein positiver Ansatz

  6. […] Angeregt durch die Auseinandersetzungen mit störungsspezifischer Systemtherapie, aktuell zum Beispiel unter anderem im systemagazin. Link zum Beitrag […]

  7. Fast scheint es, als ob es in diesem Diskurs um die Gretchenfrage zum Selbstverständnis und der Positionierung systemischer Therapie geht: Wie hälst Du es mit einem an psychischer Krankheit und damit einem störungsspezifischen Modell. Vieles von dem, was Jürgen Hargens schreibt, ist nicht nur aus der Geschichte der Systemtherapie, sondern auch auch aus der psychotherapeutischen Alltagspraxis und mit Blick auf ein kontextuelles (und nicht medizinisches) Therapiemodell (Wampold, Miller u.a) gut nachvollziehbar. Trotzdem: mir scheint ein „entweder-oder“ hier wenig zielführend, da insbesondere ärztliche, systemisch orientierte PsychotherapeutInnen seit Jahren (Schweiz) über die Krankenkasse und mit klinischer Diagnose abrechnen. Zudem scheint mir auch aus konstruktivistischer Perspektive und mit Bezug zu den Klienten als den Experten (ihres Leidens) sinnvoll mit einem dynamischen (und nicht dualen) Verständnis von Krankheit und Gesundheit kreativ zu arbeiten. Ich gehe aber mit Jürgen Hargens einig, dass eine Psychotherapie, die in der Medizin aufgeht, sich aufgibt (Fuchs), d.h sich unter einem zunehmend störungsspezifischen (psychiatrischen) Fokus Psychotherapie als ein eigenen Regeln gehorchendes „Beziehungssystem“ den Regeln des medizinischen Modells anpasst. Dass aber die konzeptuell (!) gekoppelte Störungsorientierung der Preis ist, den man für die kassenärztliche Anerkennung einer Therapiemethode bezahlen muss, glaube ich auf dem Hintergund meiner doch langjährigen Erfahrung als systemischer Therapeut, der mitunter auch über die Versicherung (Zusatzversicherung) abrechnet, nicht.

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