Noah Artner, Wien: Systemisch kann alles! … oder?
Ein kecker Kollege sprach mich letztens an und meinte: „Ihr Systemiker, ihr glaubt doch wirklich, ihr könnt alles gleich gut.“ Abgesehen von den Untertönen, die ich hier beiseite lassen möchte, habe ich mir doch darüber Gedanken gemacht. Umso mehr trifft es sich gut, dass Tom Levold heuer danach fragt, was dem systemischen Ansatz fehle.
Passend dazu schrieb Kollegin Iris Seidler in der Mitgliederzeitschrift der Lehranstalt für systemische Therpie über die Schönheit und Gefahr der systemisch-therapeutischen Beziehung. Was mich zu dem ersten Punkt meiner Überlegungen führt. Oft werden systemische Interventionen und Angebote als elegant und schön beschrieben. An unseren Fahnen prangt die Lösungsorientierung und Resourcenfokussierung, die ich, nebenbei bemerkt, nach wie vor sehr schätze. Wir befassen uns größtenteils mit Ausnahmen, guten Aspekten und Lösungen. Aber was ist mit unseren Schattenseiten, Dämonen und nicht so schönen Seiten? In unserer alltäglichen Arbeit werden wir immer wieder damit konfrontiert und manchmal merke ich, dass es ohne das genauere Hinsehen, das Aushalten und das Annehmen nicht geht. Vielleicht sind wir auch manchmal eher der Schöngeistigkeit zugewandt, wem wäre es zu verdenken.
Ich habe den Eindruck, dass SystemikerInnen oft sehr kritisch und auch mutig an neue Inhalte, Theorien und Strömungen herangehen und doch kenne ich diesbezüglich wenig Literatur, wo sich KollegInnen eben mit diesen Aspekten vertieft auseinandersetzen. Auch hinsichtlich der Anforderung, dass Psychotherapie nicht nur heilend wirken soll, sondern auch Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen soll würde dann auch bedeuten, dass wir manchmal eben genauer hinsehen und nicht nur schnell reparieren sollen. Als besonders schmerzhaft erlebe ich es, wenn besonders im Wirtschaftsbereich Systemikerinnen auf die Methoden und Tools reduziert werden oder sich selbst darauf reduzieren. Ich weiß nicht, ob dies mit fehlendem Wissen oder zu wenig Auseinandersetzung mit der systemischen Haltung zu tun hat. Gerade letztere halte ich so besonders wertvoll und unersetzlich an unserer Richtung.
Dies führt mich weiter zu der Frage, wie und warum sich das systemische Feld so entwickelt, wie es dies tut. Rasend schnell erweitert sich der Markt und die dementsprechende Theorie dazu. Ich frage mich, wo hier eine natürliche Grenze ist und ob man mit dem Wildwuchs nicht auch eine gewisse (Über)sättigung provoziert. Wo und was sind die Grenzen des Systemischen? Maturana und Varela meinten in Bezug auf die Systemtheorie hinsichtlich der Autopoiese, dass jedes System bzw. die Einheit erkennbare Grenzen haben muss. Also frage ich mich was die Grenzen des Systemischen sind. Dies zu erforschen fände ich wahrlich spannend. Zudem müsste man sich in weiterer Folge die Frage stellen, wer dann diese Grenzen definieren sollte und wie dies überhaupt funktionieren könnte. Da ich mich im Zuge meiner Supervisionsausbildung mehr mit integrativer Therapie beschäftige, bringe ich diese als Beispiel ein. Hilarion Petzold gilt als Begründer der integrativen Therapie. Es gibt ein Modell, den tree of science, der im weitesten Sinn definiert, bestimmt und steuert, was methodenkonform integrierbar ist. Bei uns Systemikern stelle ich mir dies deutlich schwieriger vor. Wir haben eben mehrere Gründermütter und –väter, mit durchaus unterschiedlichen Haltungen und Ansichten. Bis heute reden ganz viele Stimmen mit. Die Betonung dabei liegt auf dem Mitreden. Das Miteinander reden und auch das kritische Ausverhandeln im fachlichen Kontext ist für mich wenig bemerkbar. Frieden und schöne Beziehungen ohne anzuecken bringen eben auch Schwammigkeit und Profilverlust mit sich.
KritikerInnen anderer Richtungen werfen uns manchmal vor, dass wir zu schnell sind, zu oberflächlich arbeiten und zu rasch an den Lösungen dran sind. Letztens fragte mich ein Kollege einer anderen Richtung, ob wir die Arbeitsbeziehung wirklich so außen vor lassen, wie es gesagt wird. Ich fühlte mich etwas ertappt, denn ich musste zugeben, dass es so sein könnte. Ich überlegte auch, wie oft ich in letzter Zeit KlientInnen gefragt habe, wie es Ihnen in der Zusammenarbeit mit mir geht. Umso länger ich darüber nachdenke, umso wichtiger erscheint mir dieser Aspekt. Wir reden viel über Beziehungen aber vermutlich selten über unsere Arbeitsbeziehung zu unseren KlientInnen und was da passiert und was das macht bzw. auslöst.
Mittlerweile ist es auch recht gut erforscht, dass im Arbeitskontext Teams mit einer möglichst breiten Altersstruktur am besten funktionieren. Von Familien wissen wir dies seit langem. Leider wird dies im Arbeitsalltag noch immer viel zu wenig gelebt. Bezogen auf systemische Therapie würde ich mir hier auch Pioniergeist wünschen. Kümmern wir uns genug um die Förderung des systemischen Nachwuchses? Andere Richtungen feiern ihre fachlichen „Gallionsfiguren“ bis sie vermutlich bald zu spät erkennen, dass diese auch älter werden, sich verabschieden, gehen und bemerken, dass nicht zureichend an die Nachfolge gedacht wurde. Wäre es nicht wunderbar, wenn die SystemikerInnen diesbezüglich eine Vorreiterrolle einnehmen und der oft zugeschriebenen Innovationsfähigkeit gerecht werden oder sind wir ins Stocken gekommen?
Die Auseinandersetzung mit der Kybernetik der ersten und zweiten Ordnung zeigt dabei möglicherweise einen Lösungsweg auf. Während es zu Zeiten Minuchins und der vorherrschenden strukturellen und strategischen Familientherapie-Modelle einen eindeutigen Ausschlag in Richtung der Kybernetik der ersten Ordnung gab, folgte danach der Umschwung in Richtung Kybernetik 2. Mittlerweile dürfte es sich eingependelt haben und eine Mischung aus beidem als richtig gelten. Menschen in Krisen brauchen und wollen eben auch oft ExpertInnen, weil sie Halt suchen, weil sie die fehlende Sicherheit im gewohnten Umfeld momentan nicht bekommen können. Wie sieht es mit unserem eigenen fachspezifischen Halt aus?
Obwohl ich selbst das Gefühl habe, für mich zu wissen, was systemische Therapie ist, frage ich mich doch ab und an bei Erstgesprächen, wenn ich die Methode erkläre, ob das denn nun so stimmt. SystemikerInnen sind, meines Erachtens nach, MeisterInnen im „schwimmen“, fexibel, wendig und interessiert. Es macht uns nichts aus uns auf unbekanntem Terrain fortzubewegen und ergebnisoffen und neugierig zu bleiben. Aber was ist, wenn wir uns neben dem Schwimmen einmal ausruhen möchten und Halt suchen?
Egal ob im beraterischen oder therapeutischen Kontext sind wir uns einig, dass eine professionelle, klare und transparente Ab- bzw. Aufklärung der KlientInnen stattzufinden hat. Dazu müssen wir jedoch die Dinge für uns selbst klar haben. Wir wissen, wo der systemische Horizont begonnen hat aber wohin soll er nicht führen? Danach zu fragen was fehlt, stimmt mich positiv, da ich dies als Aufblitzen in Richtung einer kritischen Auseinandersetzung mit den Grenzen des systemischen Felds deute. Diese Auseinandersetzung erfordert Mut und Neugierde. Wir fragen Menschen, die zu uns kommen, oft nach Unterschieden und Ausnahmen. Wie sieht dies bei uns aus? Was können wir nicht und was sind wir nicht? Und wo wollen wir hin? Was könnte das Ziel sein? Nutzen wir doch unsere Ressourcen und Stärken um uns weiterzuentwickeln, das „systemische System“ lebendig zu erhalten.
Vor kurzem erklärte ich einem Jugendlichen, der in einer betreuten WG lebt, die systemische Richtung anhand eines Fußballspiels. (© Dr. Reinhold Bartl) Als ich nachfragte , ob er damit etwas anfangen könne meinte er: „ Also so wie ich das verstanden habe dürfen alle etwas sagen, auch wenn sie nicht da sind. Es gibt Regeln und ich habe Platz und darf trotzdem so sein, auch komisch, wie ich eben bin.“ Besser hätte ich es auch nicht sagen können.
In dem Sinne wünsche ich Ihnen eine schöne Vorweihnachtszeit und spannende oder auch geruhsame Tage.
Lieber Herr Artner,
„Menschen in Krisen brauchen und wollen eben auch oft ExpertInnen, weil sie Halt suchen“, schreiben Sie. Ob es jedoch wirklich der „fachspezifische Halt“ ist, der am Ende das Gesuchte leistet – im Sinne von: überwiegend sind es die eingesetzten Werkzeuge – oder ist es vielleicht doch auch eine individuelle Qualität des Therapeuten, die sich nicht auf die Anwendung von Tools reduzieren lässt; darüber werden sich vermutlich die Meinungen teilen.
Es ist gerade ein Merkmal unserer Zeit, dass wir Menschen zwar als Individuen ansehen und die Gesellschaft „granularer“ wird, wir jedoch gleichzeitig durch Operationalisieren und Standardisieren etc. alles dafür tun, ihnen ihre Individualität zu nehmen; es herrscht die Arbeitshaltung sich des Subjektiven und damit dem Menschlichen selbst zu entfremden (siehe auch Gesundheitswesen in D: Pauschale Fälle). Es wird nur noch das hochspezialisierte Norm als Qualität verstanden, während das Individualspezifische zunehmend bloß noch für „fehlerhaft“ steht. Aber wäre nicht genau das, die höchst spezifische Differenz das Lebendige und damit das, was „systemisch“ macht? Diese lebendige Individualdifferenz, die aus der persönlichen Erfahrung, der individuell prozessierten Unterscheide, der versammelten Eigen-Erfahrung (vgl. „Eigen-Werte“) und dem Ringen mit den „eigenen Dämonen“ resultiert? Dass sich manche derjenigen, die sich in der Business Welt z.B. „Systemsicher Coach“ auf die Fahnen schreiben, kaum je gerungen haben, das ist mein Eindruck (deshalb wird in der Businessbranche so gerne Training als Coaching verkauft).
Auch wenn die Psychodynamik keinen besonders hohen Stellenwert im Systemischen hat – sieht man mal vom Hypnosystemischen ab – dann ist meine Hypothese zu mir und meiner Biographie, dass ich als Naturwissenschaftler und Ingenieur nur deshalb so einen guten Zugang zum systemischen Ansatz gefunden habe, weil ich eine vierjährige therapeutische Ausbildung mit einem hohen Selbsterfahrungsanteil gemacht habe; und „Schattenarbeit“ nach C.G. Jung gehörte dazu – dafür bin ich dankbar. Nicht zuletzt deshalb, habe ich, glaube ich, einen relativ guten „Halt“.
Ein frohes Fest! – Ist das nicht die Mischung, von der Sie sprechen: Spannende und geruhsame Tage …?
Gute Wünsche – für alle Fälle!
Claus Riehle
Lieber Herr Riehle,
ich stimme Ihnen zu, dass es da vermutlich große unterschiedliche Haltungen gibt. Ich persönlich glaube, dass es wenig mit Werkzeugen zu tun hat sondern vielmehr auf die Beziehung und Haltung ankommt. Die Werkzeuge unterstützen dies.
Subjektiv orte, oder vielleicht erhoffe, ich zu der von Ihnen geschilderten IST-Situation eine stille Revolution. In der täglichen Arbeit ist es ja zumeist das, was die Menschen sich in der Therapie erhoffen. Sie möchten als Individuum mit ihren ganz persönlichen Bedürfnissen, Empfindungen, Wünschen und Träumen erkannt und gesehen werden. Und ich denke, dass es die Frage ist, was man will. Eine schnelle „Reparatur“ oder nachhaltige „Verbesserung“. Für Letzteres halte ich daher eine tiefgreifende Auseinandersetzung unabkömmlich, je nachdem was die Person, die kommt, möchte.
Leider wird, wie Sie es ansprechen, das Systemische oft „darübergestreut“ um es für die EndkonsumentInnen attraktiver zu machen. Bei näherer Betrachtung meinerseits wird dabei die systemische Haltung letztlich auf die Werkzeuge reduziert, das stimmt mich bedenklich.
Toll, finde ich Ihren kurz geschilderten beruflichen Verlauf. Ihrer Meinung in Bezug auf die Selbsterfahrung und die „Schattenarbeit“ teile ich sehr.
Bezogen auf das frohe Fest: Genau diese Mischung ist es und vor allem das „im Fluss bleiben“.
Wünsche Ihnen einen guten Start ins neue Jahr!
Schöne Grüße,
N. Artner
Lieber Herr Artner,
Sie sprechen verschiedene Aspekte in Ihrem Beitrag an und greifen m.E. ein wenig dabei auch Vorurteile auf, die „andere Verfahren“ gegenüber dem systemischen Ansatz pflegen. Ob sich das systemische Feld „rasend schnell“ per „Wildwuchs“ entwickelt, da bin ich mir nicht sicher. Die Mitgliederzahl der DGSF steigt weiterhin kontinuierlich, aber nicht „rasend schnell“; auch ist der systemische Weiterbildungsmarkt kein Fass ohne Boden. Gerade kleinere Weiterbildungsinstitute stehen nach meinen Eindruck jedes Jahr wieder vor der aufregenden Fragen, ob sie ihre Weiterbildungsgänge durchführen können.
Die Integrative Therapie von Hilarion Petzold als Beispiel einer konsistentere theoretische Fundierung heranzuziehen, das finde ich zumindest gewagt – ich selbst kennen keinen therapeutischen Ansatz der sich so unterschiedlicher und vielfältiger theoretischer Konzepte bedient wie Petzolds Integrative Therapie. Zudem: ich finde die theoretische Begründung des systemischen Ansatzes nicht sooo schwammig und kompliziert. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen sind Konstruktivismus (vor allem radikaler (biologischer) Konatruktivismus und sozialer Konstruktionismus) und Systemtheorie (und hier sind zwei Richtungen relevant: zum einen die soziologische Systemtheorie und zum anderen Selbstorganisationstheorien, wie Synergetik – und zwischen diesen Richtungen herrschen im Austausch nicht nur „Frieden“ und „schöne Beziehungen“)…
Wo ich Ihnen recht gebe, das ist, dass die therapeutische/beraterische Beziehung als Ressource für den Beratungs-/Therapieprozess bisher wenig systematischer im systemischen Kontext ausgearbeitet wurde…. – schön, dass es u.a. an dieser Stelle noch viel zu tun gibt 🙂
Besten Gruß
Matthias Ochs
Lieber Matthias,
Hilarion Petzold bezieht sicherlich in seiner eigenen Art – die man hypomanisch oder auch übersprudelnd nennen könnte – vieles in seinen Ansatz ein, den der konsequenterweise „integrativ“ nennt. Allerdings finde ich in seinem Modell eine durchgehende Stringenz, nämlich die der Wachstumsorientierung. Darin ist er in einer Weise kreativ, die auf manche gelegentlich ermüdend wirkt. Nebenbei aber kann der Mann therapeutisch wirklich etwas und kann es auch (selbsterfahrungsmäßig) vermitteln, ich durfte es selbst erleben.
liebe Grüße, Lothar
Lieber Herr Ochs,
danke für Ihre Rückmeldung, freue mich. Ja, das stimmt so und habe ich bewusst so gewählt. Ich denke, dass dies auch „Stimmen“ sind, die Beachtung finden sollten. Meiner Meinung nach ist da auch immer ein Teil Wahrheit dabei. Wenn wir dies als positive Kritik oder konstruktiven Input sehen, dann können wir ja auch Nutzen daraus ziehen. Wer selbst könnte besser als Außenstehende Dinge erkennen, die wir selbst vielleicht nicht mehr sehen können/wollen. In Bezug auf den systemischen Weiterbildungsmarkt, dachte ich nicht nur an beratende und gesundheitsspezifische Berufe. Hier habe ich von der systemischen SteuerberaterIn, KindergärtnerIn usw. schon vieles entdeckt. Diesbezüglich empfinde ich den Markt der dies unter der Marke „systemisch“ verkauft rasend. Mag sein, dass ich mich diesbezüglich zu wenig klar ausgedrückt habe. Wahrscheinlich muss man auch zwischen den Ländern und den Rahmenbedingungen unterscheiden. In Österreich gibt es drei Ausbildungsinstitute, die ihre Lehrgänge zumeist verdoppeln oder so voll sind, dass man bis zu einem Jahr warten muss, bis man beginnen kann. Nicht zuletzt ist hierzulande die systemische Therapierichtung, die mit den meisten Absolventen pro Jahr.
Mein Beispiel für die integrative Therapie galt nicht dem Vergleich einer Fundierung, es hätte auch eine andere Richtung sein können. Vielmehr war es eher ein mir geläufigeres Modell, dass Abgrenzung schafft und für diese wäre ich auch in der systemischen Therapie. Offenbar sind mir die Orte, wo im systemischen Diskurs auch Auseinandersetzungen fremd. Auf Kongressen, in (Fach-)Zeitschriften und Artikeln erlebe ich sie jedoch nicht. Über Beispiele freue ich mich natürlich!
Wünsche Ihnen einen guten Start ins neue Jahr!
Schöne Grüße,
N. Artner