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systemisch – was fehlt? Die Sensibilität für die Problematik der Weltveränderung

| 1 Kommentar

3adventHeiko Kleve, Potsdam:

„Systemisch“ kann in der Tat alles und nichts sein, es ist ein Eye Catcher-Begriff, eine modisch daher kommende Bezeichnung, die suggerieren soll, dass das, was damit bezeichnet wird, das Richtige, Passende, auf der Höhe der Zeit Stehende ist – und zwar für jene, die genau diese Attribute damit verbinden. Allerdings referiert das Wort „keinen eindeutigen Sinn“, wie Niklas Luhmann (1984, S. 15) bereits in seinem Klassiker Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Frankfurt/M.: Suhrkamp) formuliert. „,Systemtheorie‘ ist heute ein Sammelbegriff für sehr verschiedene Bedeutungen und sehr verschiedene Analyseebenen. […] Übernimmt man den Systembegriff ohne weitere Klärung […], entsteht eine scheinbare Präzision, die der Grundlage entbehrt. So kommt es zu Kontroversen, bei denen man nur vermuten oder aus der Argumentation rückschließen kann, daß die Beteiligten Verschiedenes meinen, wenn sie von System sprechen“ (ebd.).

So kann an dieser Stelle bereits eine Fehlstelle hinsichtlich des „Systemischen“ konstatiert werden: Zu häufig unterbleibt die konkrete Bestimmung, was denn nun in dem betreffenden Kontext mit diesem Begriff genau gemeint sein soll. Eine präzisierende Begrifflichkeit könnte etwa Komplexität sein. Systemisches Denken befasst sich demnach mit den Grenzen und Möglichkeiten der Beeinflussung von biologischen, psychischen und sozialen Systemen, die jeweils durch das Merkmal der Komplexität gekennzeichnet sind.

Heiko Kleve

Heiko Kleve

Komplexe Systeme können hinsichtlich ihrer Operationsweise niemals gänzlich erfasst werden, sie entziehen sich hinsichtlich ihrer Dynamik einem Blick, der Aufklärung und Transparenz zu schaffen versucht. Unsere Körper, unsere Psychen und die Sozialsysteme, an denen wir teilnehmen, bleiben uns damit grundsätzlich unergründbar und rätselhaft, sie lassen sich nicht abschließend beschreiben und erklären. Die schier unbegrenzten Möglichkeiten, die diese Systeme hinsichtlich ihres miteinander vernetzten (strukturell gekoppelten) Operierens entwickeln können, konfrontieren uns mit einem Nichtwissen (etwa hinsichtlich unserer körperlichen, psychischen und sozialen Zukunft), das jede kommunizierte Gewissheit als Anmaßung erscheinen lässt. So können wir uns nur tastend in die Zukunft bewegen, ohne zu wissen, welche Folgen jeder weitere tastende Schritt zeitigen wird.

Dies ist zweifellos eine radikale, eine an die Wurzel unseres Denkens und Handelns sich heranwagende Perspektive, die selbst diese vermeintliche Wurzel infrage zu stellen erlaubt. Wenn wir ein solches Denken als „systemisch“ bezeichnen (was noch zu klären wäre), dann verwundert es, dass „systemisches“ Denken als ein attraktiver Eye Catcher wirkt. Denn es schafft eben keine sichere Erkenntnis: „Das Gegenteil trifft zu. [Es] reflektiert die Unsicherheit unserer Erkenntnis und bietet dafür Gründe an“ (Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990, S. 58).

Erstaunlich ist, dass systemisches Denken von Praxen wie Therapie, Beratung, Coaching, Supervision, Soziale Arbeit, Unternehmensentwicklung oder auch Politik dankbar aufgegriffen wird, obwohl dieses Denken deutlich veranschaulichen kann, dass das, was in diesen Kontexten tagtäglich und unermüdlich versucht wird, nicht so funktionieren kann, wie dies landläufig intendiert wird, nämlich als vermeintlich planvolles und zielgerichtetes Intervenieren in Körper, Psychen und Sozialsysteme. Systemisches Denken kann die Unmöglichkeit solcher Interventionen, solcher Eingriffe zeigen und damit verdeutlichen, dass Pläne und Ziele im Sande verlaufen oder äußerst problematische Effekte, etwa ungewollte Schäden zeitigen, wenn sie gegen das in Stellung gebracht werden, was Systeme in nicht transparenter Weise voranbringt, deren (autopoietische) Selbstorganisation.

Und so kann pointiert werden, dass im heutigen systemischen Denken tendenziell etwas fehlt, das (wieder) stärker eingeblendet werden sollte: die Sensibilität für die Problematik der Weltveränderung, die mit der Überheblichkeit der menschlichen Vernunft einhergeht, fest daran zu glauben, sicher damit zu rechnen, eine rational konstruierte Welt erschaffen zu können. „Wenn der Mensch in seinem Bemühen, die Gesellschaftsordnung zu verbessern, nicht mehr Schaden stiften soll als Nutzen, wird er lernen müssen, daß er in diesem wie in anderen Gebieten, in denen inhärente Komplexität von organisierter Art besteht, nicht volles Wissen erwerben kann, das die Beherrschung des Geschehens möglich machen würde“ (Friedrich A. von Hayek, Die Anmaßung von Wissen, in: Ders.: Gesammelte Schriften, A 1, Wirtschaftstheorie und Wissen, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, S. 98). Mit Dietmar Kamper (1999, S. 29, Ästhetik der Abwesenheit. Die Entfernung der Körper. München: Fink) scheint hier schließlich eine von Karl Marx‘ 11. Feuerbachthese inspirierte Forderung auf, die das knapp von mir skizzierte systemische Denken – gewissermaßen: antimarxistisch gewendet – stützen könnte: „Die Philosophen, d.h. die Sinnkonstrukteure und Wildbildagenten haben die Welt nur verschieden verändert. Es kommt darauf an, sie zu schonen“.

Ein Kommentar

  1. Lucas sagt:

    In der Analyse der Problematik stimme ich großen Zügen überein, auch wenn ich denke, es wäre für jeden und jede sinnvoll sich damit zu beschäftigen, was „systemisch“ bedeutet. Aus meiner eigenen Erfahrung ist es gerade die Einsicht was „systemisch“ zu arbeiten in verschiedenen Gebieten bedeutet, die einem ermöglich systemisch zu arbeiten und eine Intuition zu bekommen, was die Welt zu schonen bedeuten könnte…

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