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systemisch…

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Wahrscheinlich wird jeder von uns schon mal die Erfahrung gemacht haben, in der Adresse eines Briefes, in einem Faltblatt einer Veranstaltung oder sonstigen Druckerzeugnissen als VertreterIn der „systematischen“ Therapie oder Beratung angesprochen worden zu sein. Dies zeugt von der weit verbreiteten Unkenntnis schon des Begriffs „systemisch“, von den Inhalten, für die er steht, ganz zu schweigen.
Durch diese gesellschaftliche Ignoranz häufig narzisstisch gekränkt, horchte ich erfreut auf, als ich jüngst in politischen Kommentaren zur Finanzkrise immer häufiger das Wort „systemisch“ vernahm. So war von der Hypo Real Estate als einer „systemischen Bank“ und von Opel als „systemischem Unternehmen“ die Rede. Schnell verflog meine anfängliche Freude, als mir klar wurde, dass es hier um marode Organisationen ging, die durch Spekulantentum oder Unbeweglichkeit der Manager an den Rand des Ruins getrieben worden sind. Für die Öffentlichkeit erschiene dann „systemisch“ als gleichbedeutend mit unfähig, geldgierig, unsozial und an kurzfristigem Eigennutz orientiert. Könnten diese Konnotationen nicht unsere gerade erst kürzlich errungene wissenschaftliche Anerkennung durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie wieder gefährden?
Als sich schon düstere Zukunftsvisionen meiner zu bemächtigen drohten, brachte ein Perspektivenwechsel einen plötzlichen Stimmungsumschwung: Wenn „systemische“ Manager zunächst mit Bonus-Zahlungen reichlich belohnt und dann ihr Scheitern durch die Öffentlichkeit ausgebadet wird, dann können doch systemische TherapeutInnen einer sorglosen Zukunft entgegen sehen! Welch wunderbare Lösung des Therapeutendilemmas (im Sinne von Kurt Ludewig): „Handle effektiv, ohne jemals genau zu wissen, was Dein Handeln bewirken wird.“ Macht nix, der Staat wird´s schon für uns richten und die Gesellschaft in jedem Fall ihre schützende Hand über uns halten, da sie uns für unverzichtbar hält. Schluss mit dem internen Streit um störungsspezifisches Wissen, ICD-Diagnosen, Preis und Kosten der sozialrechtlichen Anerkennung: „Ich will so bleiben, wie ich bin.“ ruft flehend die Systemische Therapie – „Du darfst!“ antwortet beruhigend der Staat und breitet sein Schutzschild aus.
In diesem Augenblick fiel ich in einen tiefen, wohligen Schlaf.

Stephan Baerwolff, Jork

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