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Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemagazin Aventskalender 2025 – 11. Sabine Klar

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Es braucht eine klare Entscheidung …

Systemische Psychotherapeut:innen beschäftigen sich im Allgemeinen nicht damit, eigene Konzepte zu bestätigen und sich damit zu profilieren – sie interessieren sich primär für das Erleben Ihrer Klient:innen und um das, was denen in ihren jeweiligen Problemlagen helfen könnte. Deshalb werden Studierende in einer systemischen Ausbildung üblicherweise dazu angeregt, sich der eigenen Gedanken, Gefühle und Vorannahmen bewusst zu werden, sie als subjektiv und vorläufig zu erkennen, um sie im Klient:inneninteresse verwenden bzw. beiseitelassen zu können. In diesem Lernprozess wird weniger darauf geachtet, ob jemand etwas richtig oder falsch sieht bzw. macht – es geht um ein neugieriges Suchen und um ein (immer wieder auch spielerisches) Experimentieren mit Lösungsideen. Der Ausbildungskontext vermittelt dabei die Gewissheit, mit allen Stärken, Schwächen und unterschiedlichen Sicht- bzw. Erlebnisweisen dazugehören und mitreden zu dürfen. 

Diese Akzeptanz ermöglicht es grundsätzlich, sich auch mit vorerst fremd erscheinenden und unerwarteten Perspektiven auseinanderzusetzen. Sie eröffnet Erlaubnisräume, in denen man direkt und ehrlich über Unterschiedlichkeiten reden darf und gerade jene Facetten als Bereicherung empfinden kann, bei denen es schwierig wird, im Gespräch zu bleiben. Die Entwicklung einer solchen Haltung braucht Zeit. Viele Studierende bringen gerade zu Beginn trotz ihres Interesses an systemischer Therapie eine Menge fixer Vorannahmen und Erwartungen mit, an denen sie ihre Kolleg:innen und die Lehrenden messen. Enttäuschungen, Unsicherheiten, Konflikte und Kränkungen gehören zu diesem Prozess dazu – sie sind eine besonders intensive Gelegenheit, den eigenen wunden Punkten nachzuspüren, auf blinde Flecken aufmerksam zu werden und den diversen Konzepten und Vorstellungen auf den Grund zu gehen.

Im Moment sehe ich dabei zwei mögliche Hindernisse mit sehr unterschiedlichem Charakter:

  • Die Formulierung „wohlwollend-wertschätzend“, die im Zusammenhang mit der systemischen Haltung immer wieder verwendet wird, könnte dazu einladen, undifferenziert alles, was der oder die andere sagt oder tut, positiv konnotieren und entgegenkommend behandeln zu müssen. Unter der Prämisse, dass Respekt vor Menschen primär bedeutet, ihnen in allem zuzustimmen, wird es dann schwierig, eine Meinung zu vertreten, auf Unterschiede hinzuweisen, Position zu beziehen oder sich für eine bestimmte Seite in der Meinungsvielfalt zu engagieren. Widersprüche und Konflikte werden bei so einem „Schongang“ manchmal vermieden – man „geht freundlich auf Eiern“ und weicht damit vorauseilend Formen der Auseinandersetzung aus, die nötig sind, um sich weiterentwickeln zu können. Ärgernisse und Missverständnisse zu vermeiden, damit sich nur ja jeder zu jedem Zeitpunkt wohlwollend wertgeschätzt und verstanden fühlt, wäre aus meiner Sicht aber ein Widerspruch in sich. Dann würde man wieder versuchen, alles „richtig“ zu machen, statt auf die lebendige Dynamik des tastenden, experimentierenden, verspielten, sich reibenden oder erschrockenden Lernens zu vertrauen. Gerade im Zusammenhang mit heiklen Themen (Gendersensibilität, Rassismus, Inklusion usw.) müssen wir als Lehrende klar Stellung beziehen. Wir müssen differenzieren, auf Widersprüche hinweisen, fallweise auch bewerten, unterstützen und verteidigen. Diese klare Positionierung zugunsten marginalisierter Sichtweisen dürfen wir nicht im Dienst diverser freundlich gemeinter Pseudo-Einigkeiten unter den Tisch kehren. Gleichzeitig haben wir selbst einen dauerhaft hohen Lernbedarf und suchen bzw. tasten in bestimmten Bereichen alle – unabhängig davon welche Vorbildungen wir mitbringen und in welchen Rollen wir uns gerade befinden. Eine systemische Haltung kann aus meiner Sicht nur vermittelt werden, wenn wir mit einem dauerhaften Anfängergeist immer wieder zu lernen beginnen und das auch sichtbar machen. 
  • Das andere mögliche Hindernis ergibt sich in Österreich ausgehend von unserem neuen Psychotherapiegesetz (in Deutschland ist es denke ich aber nicht viel anders). Nach der Absolvierung einschlägiger Bachelor- und Masterstudiengänge soll es in Zukunft im dritten, postgraduellen Teil der Psychotherapieausbildung dezidiert um das Erlernen einer anerkannten psychotherapeutischen Methode gehen. Aus systemischer Perspektive ist es dabei wichtig, sich nicht mit bisher gelernten Wissensinhalten zu identifizieren, sondern sich im Interesse der Klient:innen bzw. Klient:innensysteme immer wieder davon zu lösen. Deshalb werden Studierende in systemischen Fachgesellschaften damit konfrontiert, sich von ihrem Wissen fall- und prozessbezogen auch wieder verabschieden zu müssen, um immer wieder von neuem für ein Lernen mit und von den beteiligten Klient:innen offen zu sein. Das Problem besteht nun u.a. darin, dass der postgraduelle Teil der Ausbildung durch eine kommissionelle Approbationsprüfung abgeschlossen wird. In der Prüfungskommission sind auch Psychotherapeut:innen anderer Schulen vertreten. Die Studierenden, die sich im postgraduellen Teil primär mit dem Erlernen und Einüben der gewählten Methode und der Entwicklung einer an dieser Methode orientierten therapeutischen Identität und Haltung beschäftigen sollen, werden über einen umfassenden Prüfungsfragenkatalog mit allgemeinen Aspekten der Psychotherapie befasst, die eigentlich bereits Teil der Masterprüfung waren. Wenn sie am Ende ihrer postgraduellen Ausbildung wieder mit einer Haltung geprüft werden, die von einem allgemein relevanten und objektiven Wissen ausgeht, könnte sich das schädlich für den gesamten Lernprozess im postgraduellen Teil auswirken und langfristig der Identität der systemischen Schule schaden. 

In Zeiten zunehmender ideologischer Verengung und Polarisierung und in Zeiten zunehmender Standardisierung und Reglementierung von Ausbildungsprozessen braucht es aus meiner Sicht jedenfalls eine klare Entscheidung für das aus systemischer Sicht unerlässlich Wesentliche, das uns in unserer Identität ausmacht. Bei allem nötigen Interesse für diverse Wissensinhalte und technische Spielarten muss unser „Standbein“ die offene, „noch-nicht-genug-wissende“ Haltung bleiben, die sich im Klient:inneninteresse nicht mit Vorannahmen und Vorgehensweisen identifiziert und darauf fixiert. Diese offene Haltung ist aber (wie wir wissen) nichts Beliebiges – sie erfordert Klarheit, Differenzierung, Auseinandersetzung und die Bereitschaft, auch in schwierigen Situationen von und mit anderen zu lernen.

5 Kommentare

  1. Stefan Beher sagt:

    Liebe Sabine Klar,

    vielen Dank für Ihren Beitrag, dessen Aufruf zu Klarheit und Auseinandersetzung, die Sie selbst als wesentlich für systemisches Arbeiten beschreiben, ich hier in einigen Punkten einmal folgen möchte:

    1. Sie fordern, dass wir als systemische Praktiker „gerade im Zusammenhang mit heiklen Themen (Gendersensibilität, Rassismus, Inklusion usw.) klar Stellung beziehen“ und „differenzieren, auf Widersprüche hinweisen, fallweise auch bewerten, unterstützen und verteidigen“ müssen. Diese Forderung wirft unmittelbar die Frage auf: Wozu genau sollen wir uns bekennen? Geht es um Selbstverständlichkeiten wie „jeder Mensch hat die gleichen Rechte“ – Aussagen also, die so basal sind, dass ihre dauernde und kontextfreie Betonung eher rituellen Charakter hätte und die meisten, gerade auch wohlgesonnenen und zustimmenden Klienten vermutlich eher verstören würde, angesichts eines anlasslosen Vortrags? Oder geht es um spezifische, durchaus umstrittene Positionen zu Pubertätsblockern, Quoten, Sprachregelungen oder verschiedenen Standards für unterschiedliche „Opfergruppen“?
    Die konstruktivistische Erkenntnistheorie, auf die sich systemisches Denken wesentlich stützt, legt uns nahe, dass es keine privilegierten Beobachterpositionen gibt und dass jede Wirklichkeitskonstruktion kontextabhängig ist. Wie lässt sich dies mit der Forderung nach „klarer Positionierung zugunsten marginalisierter Sichtweisen“ vereinbaren? Ist nicht gerade die Offenheit für unterschiedliche Perspektiven – auch unbequeme! – das Wesentliche systemischer Arbeit?

    2. Illustrativ für dieses Spannungsverhältnis erscheint mir bereits die Form Ihrer Präsentation: Sie betonen zu Recht, dass systemische Therapeuten sich „primär für das Erleben ihrer Klient:innen“ interessieren sollten. Gleichzeitig wählen Sie eine grammatische Form (Klient:innen, Kolleg:innen), von der empirisch gut belegt ist, dass sie von 60-80% der deutschsprachigen Bevölkerung – also auch der potentiellen Klientel – abgelehnt und selbst unter Linken oder unter Frauen mehrheitlich als ärgerlich angesehen wird. Wenn die Orientierung an den Wünschen und Bedürfnissen Ihrer Klienten tatsächlich zentral ist: Wie begründet sich dann die Verwendung einer Sprachform, die viele dieser (auch weiblichen, auch politisch linken) Klienten als störend oder aufgezwungen empfinden? Liegt hier nicht genau jener Prioritätenkonflikt zwischen der betonten Klientenorientierung und eigenen normativen Setzungen vor, von dem Sie eigentlich plädieren, ihn gerade andersherum aufzulösen?

    3. Sie schreiben, dass wir „diese klare Positionierung zugunsten marginalisierter Sichtweisen […] nicht im Dienst diverser freundlich gemeinter Pseudo-Einigkeiten unter den Tisch kehren“ dürfen. Gleichzeitig fordern Sie aber auch „Klarheit, Differenzierung, Auseinandersetzung“ und die Bereitschaft, „auch in schwierigen Situationen von und mit anderen zu lernen“. Für mich stellt sich hier die Frage, ob nicht bereits die Rede von „sensiblen Gruppen“ hier womöglich als ein euphemistischer Begriff dafür zu verstehen ist, dass bestimmte Perspektiven nicht mehr kritisch hinterfragt werden dürfen? Ihr eigener Text fordert ja gerade das kritische Nachfragen – aber soll dies nun selektiv nur für bestimmte Positionen gelten? Die Unterscheidung in marginalisierte Sichtweisen, die zu unterstützen sind, und andere Sichtweisen erfordert jedenfalls bereits eine normative Setzung, die aus meinem Verständnis von „systemisch“ eher selbst der kritischen Befragung bedürfte.

    4. Auch Ihr Punkt zur österreichischen Psychotherapeutenreform erschließt sich mir in seiner Kritik nicht vollständig. Sie sehen offenbar ein Problem darin, dass Ausbildungskandidaten „mit einer Haltung geprüft werden, die von einem allgemein relevanten und objektiven Wissen ausgeht“. Wenn aber der zentrale Kritikpunkt darin besteht, dass systemische Kandidaten kognitiv überfordert sein könnten, wenn etwa im Rahmen eines positivistischen Paradigmas statistisch gewonnene Befunde als eine Art „objektives Wissen“ abgefragt werden: wirft dies nicht vor allem Fragen über unterstellte intellektuelle Kapazitäten systemischer Therapeuten auf? Sind systemisch arbeitende Therapeuten nicht in der Lage, positivistische Paradigmen zu verstehen, kritisch einzuordnen und trotzdem ihre eigene methodische Identität zu wahren? Müssen sie vor kognitiver Dissonanz geschützt werden? Das erschiene mir als ein merkwürdig paternalistisches und letztlich auch herabsetzendes Bild.

    Eine konstruktivistische Orientierung steht in fundamentalem Spannungsverhältnis zu eindeutig normativen Positionierungen, was nicht durch bloßes Insistieren auf „Klarheit“ aufzulösen ist.

    Insofern läge die eigentliche systemische Idee vielleicht eher darin, genau diese Spannungen auszuhalten, transparent zu machen und diskutierbar zu halten – ohne sie vorschnell durch normative Setzungen oder gar repetitive und kontextfreie Bekenntnisse aus der Welt schaffen zu wollen. So sehr dies leider in unserem Feld auch ganz abseits Ihres Aufrufs hier in Mode gekommen ist.

    Mit kollegialen Grüßen
    Stefan Beher

  2. Johannes Schneller sagt:

    Liebe Sabine, deine adventlichen Gedanken zum österreichischen Psychotherapiegesetz bilden auch mein Unbehagen darüber ab.
    Danke dir dafür.

  3. Peter Müssen sagt:

    Wenn ich zu Hause meinen Adventskalender öffne, dann freue ich mich auf eine kleine Süßigkeit für den Tag.
    Vielleicht bin ich mit meiner Vorstellung über Adventskalender ja etwas veraltet, aber so ganz aufgeben möchte ich diese Idee nicht. Jeden Tag etwas Nettes für den Tag, was auch immer er bringen mag.
    Im systemagazin Adventskalender werde ich heute Morgen mit dem Aufruf von Frau Klar zu einer klaren Entscheidung konfrontiert. Ohne darauf inhaltlich eingehen zu wollen: ist das der Ort für einen Adventskalender?

    Liebe Frau Klar, ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie eine frohe und schöne Advents- und Weihnachtszeit.

    • Sabine klar sagt:

      Das wünsche ich ihnen auch. Und ja ich glaub schon. Ich warte immer wieder auf etwas das mir und anderen Hoffnung gibt, gerade auch in beruflichen Bereichen die mir ein Anliegen sind und Sorgen machen. Und selbst wenn ich an Advent im ursprünglich christlichen Sinn denke gehts da nicht primär um süßes sondern auch um einen Aufruf sich zu positionieren alles liebe Sabine klar

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