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Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemagazin Adventskalender2025 – 05 Martin Rufer

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Wenn nichts nicht nichts ist 

Vor Kurzem postet eine mir bekannte, liebe Kollegin auf Linkedin Folgendes: „Wie lässt sich in einer Familienaufstellung erklären, dass der Repräsentant eines Familienmitglieds, das er nie getroffen hat und von dem er nichts weiß, außer dass er der Vater des Klienten ist, plötzlich auf dem rechten Auge nichts mehr sieht. Als er dies realisiert und äußert, kommentiert der Klient, dass der Vater eine Explosion überlebt hat und seit Jahrzehnten ein Glasauge trägt. Solche und ähnliche Beispiele habe ich in meinen Aufstellungsseminaren dutzende erlebt und sie berühren mich immer zutiefst. Wie gerne würde ich verstehen, was da passiert.“

Verstehen und erklären, was scheinbar unmöglich ist. Einstein würde da vielleicht mit einem andern Paradox antworten: „Die Hummel hat eine Flügelfläche von 0,7 cm2 bei 1,2 g Körpergewicht. Die Gesetze der Physik lehren uns, dass es unmöglich ist, so zu fliegen. Die Hummel weiß das nicht und fliegt trotzdem und dies mit höchster Präzision.“ 

Was mich selber betrifft: Vor einem Jahr schrieb ich in meine Adventsgeschichte „Opening the door for change“ mit Blick auf den bevorstehenden Abschied aus der Berufswelt: „So gehe ich nun in offenes Gelände, interessiert und neugierig, was, wem und wie ich mir selber im Nichts, das nicht nichts ist, begegne.“ Nach fast 50 Jahren diese Komfortzone zu verlassen, sich auf das Abenteuer Unsicherheit und Orientierungslosigkeit einzulassen, wurde für mich zum Steigbügel von „draussen nach drinnen“. Dem Nichts nicht auszuweichen, begleitet von Krisen- und Glückgefühlen eigene Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten zu erkennen und erleben, auch ohne zu verstehen.

 Es scheint, dass gerade wir als (systemtherapeutische) Helfer – stets mit Focus auf den Andern und das Andere – uns selber vielleicht erst im Prozess des Loslassens erlauben können, sich berühren zu lassen, sich dünnhäutiger, schutzloser auf Paradoxes, Verborgenes, Verstörendes, aber auch zu tiefst Beglückendes einzulassen.

Vielleicht ist es ja gar nicht das physikalische, das neurobiogische oder psychologisch-psychodynamische Verstehen, das Klarheit und Orientierung schafft. Vielleicht liegt der Schlüssel in der Antwort, die sich die Kollegin am Ende selber gibt. „sie berühren mich immer zu tiefst“. Dieses „Berührt sein“, d.h. sich selber zu begegnen, lässt sich für mich vor allem in der Musik erleben, z.B. in einer von Igor Levit vorgetragenen Beethovensonate …

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