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systemagazin Adventskalender (Nachschlag 2): Adventskranz

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Peter Müssen, Köln: Adventskranz

Einleitung
Dank des schönen Beitrags von Martin Rufer im 9. Türchen haben wir ja bereits Menschen im Stall von Bethlehem belauschen können, die sich über die verkündete Freude der Anerkennung der Systemischen Therapie austauschen. Andere fragen sich sorgenvoll, ob diese Anerkennung wirklich die Geburt des Lichtes ist, das das Dunkel der psychotherapeutischen (und beraterischen?) Welt erleuchten kann und wie sich dieses Kind in Zukunft wohl entwickeln wird. Es ist verlockend, sich den Fragen vom „Therapeutes-Hirten“ Tom zu stellen; der Therapeutes ist ja im Ursprung des Wortes auch Pfleger, Diener und Wärter.
Ich möchte dabei gerne im Advent und bei den vier Kerzen des Adventskranzes bleiben. Zum ersten Mal 1925 in Köln in einer katholischen Kirche aufgehängt, gehört er heute zur festen Gewohnheit an vielen Orten. Es ist mir aber in den letzten Wochen mehrfach passiert, dass ich Adventskränze gesehen habe, deren Kerzen nicht entzündet oder elektrisch bereits voll erleuchtet waren … reine Dekoration ohne den Sinn von Erwartung und die Hoffnung auf das zunehmende Licht … auch in zwei Arztpraxen.
So möchte ich denn metaphorisch vier Kerzen entzünden und mit meinen Hoffnungen im Hinblick auf die Zukunft der Systemischen Praxis in ihren verschiedenen Feldern verbinden, auch wenn und weil es natürlich viele berechtigte Ambivalenzen, Fragen und Bedenken im Hinblick auf die Anerkennung gibt:

1. Kerze
Um die Frage beantworten zu können, ob überall dort, wo „systemisch“ drauf steht, auch „systemisch“ drin ist, muss man wissen, was denn eigentlich „systemisch“ ist. Eine Definition – gibt es die? Selbst Jürgen Hargens merkt am 15. Dezember in seinem Türchen an, dass er nicht genau wisse, was „Systemische Therapie“ sei.
Vielleicht ist es empfehlens- und wünschenswert, einer Anregung zu folgen, der ich bei Matthias Varga von Kibéd begegnet bin: Er schlägt eine „Komparativische Fassung“ des Begriffs „Systemisch“ vor: „Systemisch“ ist demnach nicht per se die Eigenschaft eines Ansatzes. Ein Ansatz wird vielmehr immer wieder neu im Vergleich zu anderen Ansätzen betrachtet, um dann zu entscheiden, in welcher Hinsicht er „systemischer“ ist. Diese Heuristik, immer das zu wählen und zu tun, das „systemischer“ erscheint, scheint mir ein gutes Prozesskriterium für die Zukunft zu sein. Die Kriterien oder „basics“, wann ein Ansatz oder ein Vorgehen systemischer ist als andere, das könnte in einem fortlaufenden Dialogprozess verhandelt werden. Jürgen Hargens nennt z.B. „Kontextsensibilität“ und „Selbst-Rückbezüglichkeit“. Matthias Varga von Kibéd findet es u.a. systemischer, wenn man eher von Einzeleigenschaften absieht, zugunsten von Interaktionen im Gesamtsystem, wenn man vom Ursache-Wirkungs-Denken stärker abrückt zugunsten der Betrachtung von Kontexten, wenn von der Analyse von Systemteilen Abstand genommen wird zugunsten der Analyse von Beziehungsstrukturen zwischen den Teilen des Systems oder wenn man sich mehr auf Beschreibungen stützt als auf Erklärungen.
Die Hoffnung, die ich damit verbinde ist, dass „Systemische Identität“ nichts Festgeschriebenes im Sinne eines „semper idem“ ist (das mag vielleicht für die „Semper Idem AG Underberg“ gelten), sondern in Treue zu den Ursprungsideen fluide, kreativ und diskursoffen, resonant in den verschiedenen Kontexten gesucht und gefunden wird. Und, lieber Jürgen Hargens, auch im „Bett des ärztlich/medizinischen Systems“ kann viel passieren …

2. Kerze
Der Psychiater und Schriftsteller Irvin Yalom erzählt am Beginn seines Buches Existentielle Psychotherapie, wie er vor vielen Jahren mit einigen Freunden an einem Kochkurs bei einer armenischen Matrone und ihrem betagten Diener teilgenommen hat. Da die Matrone kein Englisch sprach, beobachteten Yalom und seine Freunde die Köchin sehr genau dabei, wie sie wunderbare Auberginen- und Lammgerichte zubereitete. Doch so genau sie auch beobachteten und nachahmten, ihr Ergebnis war nie so gut wie das der Köchin. Was machte diese nur anders? Eines Tages aber beobachtete Yalom, dass die Matrone fast unbemerkt ihr fertiges Gericht dem Diener übergab, damit er es zum Ofen trug und wie dieser ohne zu zögern eine Handvoll ausgewählter Gewürze und Zutaten nach der anderen hineinwarf. Yalom schreibt, dass er fest davon überzeugt ist, dass diese heimlichen Zugaben den ganzen Unterschied ausmachten.
Yalom ist sich sicher, „dass der Therapeut das ‚Eigentliche‘ hineinwirft, wenn niemand zuschaut“. Meine Hoffnung ist, dass auch systemische Therapeuten, Berater, Supervisoren und Coaches außerhalb der formalen Theorien oder Settings mit ihren „Zugaben“ die Rezepte gelingen lassen, in denen das „Eigentliche“ nicht wirklich enthalten ist.
Das können u.a. minimale Interventionen (Manfred Prior), Intuition und Bauchgefühl sein (Gerd Gigerenzer) oder die systemische Sicht des Menschen und seiner Art, die „Welt“ zu erzeugen und sich zu verändern. Resonanzfähigkeit, wie sie umfassend von Hartmut Rosa in seinem Buch Resonanz. Soziologie der Weltbeziehung beschrieben wird, erscheint mir zunehmend als Grundkompetenz systemischer Praktiker wie auch die selbstbewusste „professionelle Arroganz“ bei der „Verwaltung der vagen Dinge“, beim Umgang mit „uncodierten“ Problemen (Peter Fuchs).
Martin Altmeyer ist in dem Buch Auf der Suche nach Resonanz der Meinung, dass auch die zeitgenössische Belletristik gerade dadurch das Interesse fesselt, dass sie „ihren Gegenstand in ein Geheimnis verwandelt“, „realistisch, doch stets dabei, der äußeren Realität ihre inneren Geheimnisse zu entlocken“.
Der amerikanische Romanautor Don DeLillo, den Altmeyer als Zeugen hierfür benennt, schreibt:

„Es geht darum, wer wir sind,
wenn wir gerade nicht inszenieren, wer wir sind.“

Die Offenheit von Systemikerinnen für das Uneindeutig-geheimnisvolle hinter der anscheinend offenkundigen Symptomatik, für die Bedürfnisse hinter dem Inszenierten (beim Therapeuten wie beim Klienten) und für das Thema unter den Themen – auch darauf setzte ich meine Hoffnung, damit die systemische Praxis einen Unterschied macht, der einen Unterschied macht. Systemikerinnen haben doch, so meine ich, alles, um gegen die „Vereindeutigung der Welt“ (Thomas Bauer) und an die Stelle eines zunehmenden Verlustes an Mehrdeutigkeit und Vielfalt eine Kultur der Ambivalenz zu setzen und den „Möglichkeitssinn“ neben dem „Wirklichkeitssinn“ (Robert Musil) aufleben zu lassen.
Ganz in diesem Sinne bittet Rainer Maria Rilke in seinen Briefen den jungen Dichter Herrn Kappus, „die Fragen selbst liebzuhaben“. „Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“

2011 habe ich in Salzburg – wie wohl auch Andreas Manteufel, aus dessen Tagungsbericht im Systemagazin ich das Foto geklaut habe – am Rande der Tagung Neurobiologie und Psychotherapie in einem Schaufenster diesen Satz des österreichischen Publizisten Hans Carl Artmann gesehen.
Ich wünsche mir für die systemische Zukunft, dass wir uns dem Uneindeutigen, den unbeantworteten Fragen, offen, mutig und optimistisch stellen, die Fragen leben und dann gute Antworten erleben, vielleicht sogar ja selber geben können.

3. Kerze
Ein Patient hatte die Wahnvorstellung, eine Leiche zu sein und nahm deshalb keine Nahrung mehr zu sich.
Sein Therapeut fragte ihn: „Bluten Leichen?“
Antwort: „Nein, sie sind blutleer.“
Der Therapeut begeistert: „Dann kann ich Dir beweisen, dass Du keine Leiche bist.“
Er sticht den Patienten in den Finger, aus dem auch gleich ein Tropfen Blut quillt. Die Reaktion des Patienten mit erstauntem Gesicht: „Oh, Leichen bluten ja doch!“
Diese humorvolle Geschichte, die ich – so glaube ich – bei Abraham Maslow gefunden habe, belegt die alte systemische Überzeugung, dass soziale wie psychische Systeme nicht instruierbar sind, sondern strukturdeterminiert der Ankopplung an ihre immanente Weltsicht, Bedürfnisse, Sprache und Logik bedürfen. Unter dieser Voraussetzung versucht die Systemische Theorie und Praxis die Grenzen von Veränderung zu erkunden und zu erweitern. Wenn ich sagen sollte, was ich uns für den Umgang mit zunächst fremden Kontexten wie dem ärztlich-medizinischen System wünsche, dann sind es neben klarer Ehrlichkeit, taktischem Geschick und Einfühlungsvermögen, wohl u.a. eine gewisse diabolische Begabung und humorvolle Schlagfertigkeit.

Diabolik:
Barbara Bräutigam hat ihre „Kleine Dystopie“ im Adventskalender am 6. Dezember, dem Nikolaustag, zum Nachdenken gegeben. Dabei habe ich mich daran erinnert, dass der Nikolaus fast immer in Begleitung des Knecht Ruprechts erscheint. Neben der moralisch-negativen Bewertung ist der Ruprecht in der Brauchtumstradition aber immer auch der, der den Sack mit den Geschenken als Gegenspieler des hl. Nikolaus bringt, zugleich beschenkt und bestraft. Eine Antithetik, wie sie etwa auch der Narr am Königshof darstellt. Ich möchte mit der dritten Kerze die Hoffnung verbinden, dass die Systemikerinnen auch Spaß an der diabolischen Rolle gewinnen, der Rolle des (wörtlich verstanden) Diabolos = Durcheinanderwerfers, der irritiert aber damit auch bereichert. So hat Peter Fuchs eines seiner Bücher Diabolische Perspektiven. Vorlesungen zu Ethik und Beratung genannt. Man kommt mit der konstruktiven Diabolik vielleicht in Teufels Küche, aber ich glaube, dass es sich lohnt, zu versuchen, Systeme von innen heraus durcheinander zu bringen und so zu neuen, selbstorganisierten Formen anzuregen. Loriot hat dies mit viel Humor in seinem Weihnachtsgedicht in Weihnachten bei Hoppenstedts verstanden, in dem Ruprecht bei der Försterin Geschenke für Bedürftige sammelt. Vielleicht ist ja „Diabolos“ auch der Name eines der Hirten an der Krippe. (s.o.) Humor: Humor ist dabei vielleicht die eleganteste Weise des Ebenenwechsels. Michael Titze, wohl der renomierteste Gelotologe in Deutschland, schreibt in seinem Buch Wer zuletzt lacht …: „Humor entsteht durch die Mischung von drei Elementen (Humorformel): Erstens, es gibt ein Problem. Zweitens, dieses Problem wird ernst genommen. Und drittens, es kommt ein Schuss Heiterkeit dazu. Sie kennen den weisen Spruch: »Kitzliche Sachen löst man am besten mit Lachen.« Denn wenn man verbissen ist, findet man keine kreative Lösung für ein Problem. Das Lachen bewirkt Lockerung, Entspannung und fördert gute Lösungen.“ Dann erzählt er beispielhaft von einem Taxifahrer:

Ein Fahrgast stürmt auf ein Taxi zu, reißt die Türe auf und schreit: „So fahren Sie endlich los mit Ihrer Dreckskarre!“ Freundlich erwidert der Taxler:„Gerne, wenn Sie mir sagen, wo ich den Dreck abladen soll!“ Probleme haben wir Systemikerinnen genug, wir nehmen sie auch ernst, was ich mir aber erhoffe ist der Schuss optimistischer Heiterkeit im Umgang mit den anstehenden Herausforderungen. Auf jeden Fall sollten wir Systemiker*innen nicht zu den Gelotophoben gehören, die man schon von weitem erkennt.

4. Kerze
Immer wieder fällt mein Blick auf eine Bronzeplastik des Mailänder Künstlers Alex Pinna in unserem Wohnzimmer, die ich Ihnen und euch hier einmal zeigen möchte. Sie heißt „waiting for“.

Es gibt Tragendes und Ungewisses, Halt und Herausforderung im Blick auf die Zukunft. Ich finde, die Plastik ist auch ein Symbol für unsere Situation als Systemikerinnen und vielleicht ja auch für die persönliche Situation von mancher Leserin / manchem Leser dieser Zeilen. Jeder mag da seinen Gedanken nachgehen.
Das Gebet oder die Bitte um Gleichmut des amerikanischen Theologen, Philosophen und Politikwissenschaftlers Reinhold Niebuhr passt glaub‘ ich ganz gut zu dieser Haltung der entspannten Erwartung dessen, was kommt:

Gott, gib mir die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Johann Wolfgang von Goethe wird der Satz zugeschrieben: „Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“
Ich denke, wir haben beides von unseren „systemischen Eltern“ bekommen. Ich bin sehr gespannt, wohin uns unsere Flügel gut verwurzelt tragen werden.
Ich wünsche Ihnen/Euch allen alles Gute im Neuen Jahr!

2 Kommentare

  1. Wolfgang Loth sagt:

    Lieber Peter,
    Mittlerweile gelang auch die Entzifferung der zweiten Strophe von Heveluks Gedicht „Die alte Linde“. Sie lautete vermutlich:

    Beim festen Stand in einer Lichtung
    vermisst‘ die Linde eine Richtung,
    in die zu beugen vorgegeben –
    galt das nicht als Leben eben?

  2. Lothar Eder sagt:

    Lieber Herr Müssen,

    mit postweihnachtlicher Freude habe ich ihn Ihrem Beitrag das Zitat von RMRilke aus den „Briefen an einen jungen Dichter“ gelesen. In den Briefen steht vieles, was in der Therapie sehr brauchbar ist, vielleicht sogar nach einem systemischen Verständnis.
    Zum diskutierten „Bett des medizinischen Systems“ – sobald wir, unter welcher Flagge auch immer, etwas betreiben was wir „Therapie“ nennen, sind wir mE Teil eines irgendwie gearteten heilkundlichen Systems. Da komme ich garnicht darum herum. Nur geht es eben darum, wie ich dann in der jeweiligen Situation meinen Beitrag gestalte. Und da hat die ST mE einiges beizutragen, ja vielmehr: sie trägt ja bereits einiges bei. Für mich ist die Angst oder Sorge, durch die sozialrechtliche Anerkennung an Identität zu verlieren, nur zum Teil nachvollziehbar. Aber das sagte ich ja bereits,

    raunächtliche Grüße, Lothar Eder

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