Dörte Foertsch, Berlin: Kulturen, Systemische Kultur, Kultur und Systemisch?
Während ich durch meine verschiedenen Arbeitsfelder reise, stelle ich immer wieder fest, wie wenig ich fremde Sprachen, Menschen, ihre Wünsche und Anliegen zunächst verstehe. In Deutschland!
Im Vergleich wird dies noch deutlicher, wenn ich aus einem fremden Land zurückgekehrt bin, in dem ich die Schrift nicht lesen kann und ich nicht weiß, wie ich es schaffen werde, eine Straße zu überqueren, ein Essen zu bestellen, den Busbahnhof zu finden geschweige denn bestimmte Verhaltensweisen zu deuten.
Aber es ist mein Glück, durch meine langjährige systemische Arbeit beobachten zu lernen und mich von keinen voreiligen Interpretationen leiten zu lassen. Das gilt für die kleinere und unmittelbare und für die weltweite Umwelt. Systemische Haltung hat mich dazu gebracht, neugierig und respektvoll mit den und dem mir Fremden umzugehen.
Seit den ersten neuen Flüchtlingsströmen rückt das Thema der interkulturellen Arbeit und der dazu notwendigen Haltungen und Werte wieder näher, obwohl dies eigentlich nicht nur unter aktuellen Bedingungen zu betrachten ist. In meinen Seminaren frage ich am Anfang, wer aus einer Migrationsfamilie kommt und es melden sich vielleicht 5 % der TeilnehmerInnen. Die eigene Geschichte besteht aus blinden Flecken und gewisse Scheuklappen machen es erst schwer, einen Zugang zu finden. Am Ende sind es eventuell 80 % der TeilnehmerInnen, die sich mit Erinnerungen an die eigenen Urgroßeltern und Großeltern einer Kriegs- und Fluchtgeneration beim Thema Migration einbeziehen.
Nun ist die Frage, ob es diesem reichen Deutschland gelingen wird, Menschen aus anderen Ländern zu integrieren und nicht nur am Rande unserer Gesellschaft zu dulden.
Wenn ich mich bei meinen systemischen KollegInnen umschaue, bemerke ich ein hohes Maß an Engagement für die Arbeit mit geflüchteten Menschen, viel Kultursensibilität, Können und Wissen im Umgang mit „anderen“, „fremden“ Menschen und die Nutzung derer eigener Ressourcen. Diese waren und sind schon immer Basics systemischen Arbeitens gewesen. Systemisch betrachtet ist zunächst jeder Mensch mir fremd. Der Fremde ist fremd nur in der Fremde, eine Postkarteninschrift, die ich befremdlich finde, aber sie wirkt.
Es ist auch ein deutsches Thema, das mit Erfahrungen der Flucht, fremd zu sein, traumatischen Kriegserfahrungen einhergeht. Bei diesen Themen stellt systemisches Arbeiten, verbunden mit der Sensibilität für historische, politische und biografische Kontexte, der Rekonstruktion von Geschichten im Rahmen dieser Kontexte und der Chance, Geschichten neu konstruieren zu können, eine Möglichkeit dar, Menschen in ihren persönlichen Entwicklungen zu unterstützen.
Leider stößt dieses Denken und Handeln im Zusammenhang mit der aktuellen Flüchtlingssituation an Grenzen, weil es immer wieder an gesetzlichen, sozialen, bürokratischen und emotionalen Hürden scheitert.
In all den Jahren seit meiner eigenen Weiterbildung in Systemischer Therapie und Supervision bin ich sicherer geworden, eine Haltung einzunehmen, Menschen gegenüber auf neutrale Art zunächst neugierig und möglichst wertfrei zu begegnen. Aber ich habe auch gelernt, mich auf angemessene Art sehr persönlich mit meiner eigenen Geschichte zu zeigen.
Ich habe mit Flüchtlingen und Flüchtlingsunterkünften zu tun und fühle mich dort willkommen, weil ich einige grundsätzliche Wertvorstellungen mitbringe, von denen ich mittlerweile gar nicht mehr sagen kann, ob diese etwas mit Systemisch oder mit Menschlichkeit, Ethik oder Spiritualität zu tun haben. Mit Systemisch verbinde ich auf jeden Fall etwas zu tiefst Demokratisches und Menschliches.
Mein weihnachtlicher Wunsch in diesem Adventskalender ist, dass wir „Systemischen“ etwas für geflüchtete Menschen emotional und politisch, praktisch und integrativ tun können, weil wir die uns fremden „Systeme“ suchen und als Bereicherung empfinden, nicht als Bedrohung. Leben und Entwicklung geht nur in lebenden Systemen.
Ich habe in meiner Tasche eine getrocknete Kastanienfrucht. Kastanien sind keine ursprünglich europäischen Bäume. Sie können sich bei uns nur entwickeln und neue Keime bilden, wenn sie beim Runterfallen aufplatzen, ansonsten fehlt ihnen hier ein natürliches Bakterium, was die Schale und Haut durchdringt um weiterhin zu keimen.
Diese Geschichte hat mir ein Mensch aus Argentinien erzählt.