Andreas Wahlster, Lampertheim:
Einmal war ich in der richtigen DDR, 1974 auf der Abiturfahrt. Wir waren neunzehn, zwanzig Jahre alt, wollten irgendwie cool wirken, hatten aber beim erstmaligen Passieren der Grenze bei Hof ziemlich die Hosen voll, als zwei DDR-Grenzbeamte mit leicht mürrischem Blick unsere Pässe kontrollierten. Beim Wiedereintritt in die Bundesrepublik nach West-Berlin änderte sich die Stimmung und wir blieben die ganze Woche über bis auf einen Alibiausflug in das Pergamon-Museum im sicheren, weil bekannten Westen der Stadt. Mein damaliges Wissen über den „Osten“ bestand aus Informationen der westlichen Medien und von Verwandtenberichten, die noch im Osten wohnten.
Dachte ich daran, hatte ich meist ein dumpfes Empfinden von Dunkelheit. Meine Großeltern mütterlicherseits stammen aus Pommern, sie mussten nach dem Krieg die sowjetische Zone schnell verlassen, da mein Großvater Offizier in beiden Weltkriegen war, somit als Nazi galt. Meine Großmutter beklagte den Verlust ihrer Heimat sehr und schimpfte auf den „Scheißkrieg“, untermauert von einem pietistisch getränkten Antikommunismus und heimlicher Sympathie für den „alten Wilhelm“. Es sollte sich noch herausstellen, dass Vorfahren aktiv am Genozid in Namibia, vormals fast zärtlich anmutend „Südwest“ genannt, beteiligt waren. An Weihnachten wurde eine Kerze ins Fenster gestellt, um die Verbundenheit mit den Landsleuten im Osten zu dokumentieren. Der Mauerfall wurde in unserer Familie begrüßt, aber nicht gefeiert, eher war es ein Gefühl der Erleichterung.
Bei aller Neugier, meine Beklemmung gegenüber dem Osten blieb. 2004 fuhr ich erstmals zusammen mit meinem Kollegen Jerzy Jakubowski nach Poznan zu einem Seminar, das ich dort hielt. Trotz sehr freundlicher Begrüßung durch die polnischen Kolleg*innen fühlte ich mich als Deutscher fremd, einhergehend mit einem diffusen Schuldgefühl. Und nach Jahren geschah das: Ein Teilnehmer eines Seminars in Poznan gab mir am Ende eine Rückmeldung, die mir die Tränen in die Augen trieb. Er sagte, er habe zum ersten Mal eine deutsche Männerstimme gehört, die freundlich und sympathisch klang. Er habe bisher deutsche Stimmen nur aus Kriegsfilmen gekannt, als sie Befehle aussprachen oder in Uniform eine Frau küssten. Wir kamen danach noch ins Gespräch und er erzählte, dass zwei Mitglieder seiner Familie von der SS ermordet worden waren. Ich habe sowohl meine Verbindung zur Heimat meiner Mutter gespürt als auch das Trennende als Kind einer Nation, die barbarische Verbrechen begangen hat.
Was ich hier erzähle, mag fragmentarisch erscheinen, für mich hingegen gibt es viele Zusammenhänge, sie lassen sich zusammenfassen in Verbundenheit und Zugehörigkeit, Trennendes und letztlich die Zustimmung zur Tatsache, dass es so war, wie es war. Das kann uns idealtypisch bemächtigen, verantwortlich zu handeln und neugierig interessiert zu bleiben für die Geschichten Anderer.