Martin Rufer, Bern: Hans und Fritz oder wie Frau Müller zur Therapeutin wird
Hans und Fritz, zwei Kollegen, der eine Psychiater, der andere Psychologe sitzen zusammen beim Bier und unterhalten sich über ihren gemeinsamen Berufsalltag. Beide arbeiten selbstständig, d.h. in eigener Verantwortung in der gleichen Praxisgemeinschaft, sind akkreditierte Psychotherapeuten und verstehen sich zudem als „Systemiker“.
Hans: Die meisten Menschen, die zu mir in die Praxis kommen, sind gesund.
Fritz: Wow, ein erstaunlicher Satz aus dem Munde eines Arztes! Definiert sich doch gemäss unserem Krankenversicherungsgesetz Psychotherapie als „psychische Störung mit Krankheitswert“?
Hans: Niemand, auch die Kasse nicht, verlangt von mir in der Regel eine psychiatrische Diagnose. Genauso wie der Hausarzt, der zu Beginn oft auch (noch) keine eindeutige Diagnose für beklagte Beschwerden stellen kann, behandle auch ich alle, die bei mir um Hilfe suchen, sofern ich dafür Zeit finde und Platz habe.
Fritz: Das heisst also, sobald jemand bei Dir sein Leid klagt, seien es das eigene oder auch Belastungen in Familie oder Partnerschaft, über die Schwelle tritt , kann er die Rechnung für Deine Leistungen an die Kasse weiterleiten und diese wird ihm rückvergütet.
Hans: Ja, so ist es (1). Es sei denn mein Patient entscheidet sich, aus welchen Gründen auch immer, meine Rechnung aus der eigenen Tasche zu bezahlen.
Fritz: Ja, bei mir hat er, wie Du weißt, diese Wahl nicht und muss die Rechnung in der Regel selber bezahlen (1). Weil ich aber trotzdem eine gut laufende Vollzeitpraxis führe, wird dies von KollegInnen dann gerne so erklärt, dass ich wohl ausschliesslich finanzstarke Kunden habe oder Patienten behandle, die nicht krank oder „schwer“ psychisch gestört sind. Obwohl Psychologe, weiss ich aber, dass nicht Wenige mit „krankheitswertigen“ Belastungen zu mir kommen. Umso mehr verblüfft mich natürlich Deine ungeschminkte Aussage als Arzt. Ob meine Klienten sich zu Beginn allerdings selber als Patienten sehen (wollen), ist eine andere Sache. Nicht selten wird nämlich meine Bemerkung, dass ich, im Gegensatz zu meinen ärztlichen Kolleginnen (PsychiaterInnen), keine Medikamente verschreiben und abgeben darf, damit quittiert, dass sie selber sich nicht als krank sehen und daher auch keinen Arzt/Psychiater bräuchten …
Hans: Als Psychiater möchte ich aber auch nicht einfach als „Pillenverkäufer“, sondern wenn schon als „Seelendoktor“ wahrgenommen werden.. Trotzdem stellt sich hier natürlich die Frage: Ist krank wer leidet und wer oder was bestimmt den Umgang mit Krankheit im therapeutischen Prozess?
Fritz: Genau, und zudem: sollen individuell erlebte psychische Belastungen auch vollumfänglich kassenpflichtig sein oder sollen sich Patienten/Klienten auch angemessen an den Kosten beteiligen?
Hans: Während dem Letzteres wohl eine gesundheitspolitische Frage ist (welches Gesundheitssystem will und kann sich eine Gesellschaft leisten), scheint mir Ersteres für die Therapie, insbesondere für eine, die sich als systemische verstehen will, bedeutsam.
Fritz: Wie meinst Du das? Ob jemand krank ist oder nicht, steht doch nicht im Zentrum der Therapie. Mir geht es in erster Linie darum mit einem offenen Ohr für die Probleme meiner Klienten Lösungen zu finden und dies, wenn immer möglich, unter Einbezug von Partner oder Familie.
Währendem Hans und Fritz angeregt und für Andere unüberhörbar diskutieren, meldet sich vom Nachbartisch eine ca. 30-jährige Frau, die bisher ruhig und vertieft in ihre Zeitungslektüre dasaß.
Frau Müller: Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe und mich in ihr Fachgespräch einmische.
Hans und Fritz: Bitte, kein Problem. Setzen Sie sich doch zu uns. Sind wir Kollegen?
Frau Müller: Nein, das nicht, aber ich war bis vor kurzem selber in Therapie und bin dadurch gewissermassen Teil Ihrer Kundschaft und hab mir natürlich zu dem, was ich vorhin aus ihrem Gespräch heraus aufgeschnappt habe, auch so meine Gedanken gemacht..
Fritz (Hans zugewendet): Das würde uns beide natürlich sehr interessieren, oder?
Frau Müller: Nun, sicher ist das, was ich darüber denke, sehr persönlich und bezogen auf das, was ich in Therapien bisher erlebt habe.
Hans: Wissen Sie, in den vielen Jahren Berufspraxis habe ich, nicht zuletzt durch die Arbeit mit meinen Patienten – oder vielleicht sag ich besser Klienten? – gelernt, dass das punktgenaue Verstehen des „Persönlichen“ für mich entscheidend und zielführend ist.
Frau Müller: Ja, im Laufe der letzten Jahre haben sich an mir wohl einige TherapeutInnen die Zähne ausgebissen und verschiedenste Therapien wurden an mir ausprobiert, mitunter auch solche unter Einbezug meines Partners oder meiner Eltern. Alle Ihre KollegInnen, Männer und Frauen, waren durchaus nett und auch bemüht mir die richtige Hilfe zukommen zu lassen. Trotzdem habe ich mich, mit Ausnahme einer noch etwas jüngeren Therapeutin, eigentlich nie richtig verstanden gefühlt.
(Hans und Fritz, beide schon etwas in die Jahre gekommen, schauen sich nachdenklich an)
Hans: Ja, was hat denn diese „jüngere Kollegin“ gemacht, bzw. anders gemacht?
Frau Müller: Na ja, schwer zu sagen und auch die richtigen Worte dafür zu finden. Aber ich glaube, Sie war die Einzige, die mich auch mit meinen Emotionen ernst genommen hat, indem Sie mich durch meine Brille und nicht durch ihre „Therapeutenbrille“ sehen konnte oder wollte. Die andern beiden, und wie gesagt die waren sicher genauso kompetent, haben mir mit Ihren Fragen, Erklärungen, Ideen damit immer irgendwie auch Ihre gewerteten Sichtweisen auf mein Problem und die passenden Lösungen dafür suggeriert. Während der eine mit zukunftsorientierten Fragen nichts unterliess, um bei mir ja nicht den Eindruck zu erwecken, dass er oder ich mich selbst als psychisch gestört sehen könnte, sah mich die andere im Gegenteil offensichtlich als derart schweren Fall, dass sie mir mit Nachdruck den Einbezug meines Partners und meiner Eltern in die Therapie nahelegte.
Fritz (immer noch nachdenklich): Darf ich fragen, was hat Sie bei diesem „Einbezug von Partner oder Eltern“, mit denen sie sich ja sicher auch irgendwie verbunden fühlen, gestört?
Frau Müller: Nicht ihre Meinung, dass Angehörige hilfreich sein können, war für mich störend, sondern die suggestive Drucksituation, dass ich es ohne Eltern oder Partner alleine nicht schaffen würde und dass vorwärts schauen ohnehin besser sei, als sich mit seinen Gedanken und Emotionen nur um sich selber zu drehen. Ihre Gesprächsführung erlaubte kaum Widerspruch, wenn ich nicht riskieren wollte erneut als uneinsichtig dazustehen und so die Therapie vorzeitig selber zum Scheitern zu bringen.
Hans: Darf ich ganz offen fragen, auch mit Bezug zum Gespräch mit Kollege Fritz vorher: Sehen Sie sich selbst als krank oder psychisch gestört?
Frau Müller: Das weiss ich nicht. Es interessiert mich auch nicht so. Ich denke aber, dass mir besagte jüngere Kollegin ein Problemverständnis vermitteln konnte, in welchem ich mich wiedererkannte. Dass in meinem Fall aus ihrer professionellen Perspektive heraus auch von „abhängigen, instabilen Persönlichkeitszügen“ die Rede war, hat mich nicht gestört. Im Gegenteil es hat mir geholfen, mein Unwohlsein, meine Instabilität auch ohne pathologisierende oder bewertende Sichtweise zu verstehen und irgendwie einzuordnen. Und genau diese Instabilität und die damit verbundenen Gefühle und Verletzungen aus früheren Zeiten konnte ich durch die Therapie neu z.B. als eine Art „Schutzpatron“ gegen weitere Verletzungen wie aber auch als „Spielverderber“ für Nähe in Beziehungen sehen und würdigen. Sie, meine Gefühle waren mir vertraut und damit gewissermassen meine nächsten „Angehörigen und Helfer“ in der Therapie. Von dieser Therapeutin wurde ich bedingungslos als Regisseurin meiner selbst unterstützt und gefördert. Und noch etwas zu ihrem Gespräch über „Kostenübernahme“: Dass ich einen grossen Teil dieser Therapie selber bezahlen und mir auch absparen musste, ist rückblickend gesehen wohl sehr hilfreich gewesen und für meine „Selbstwirksamkeit“ – wie meine Therapeutin zu sagen pflegte – auf keinen Fall schlecht investiertes Geld.
Fritz (mit Blick auch zu Hans): Herzlichen Dank für Ihre Offenheit. Damit haben Sie uns beiden wohl geholfen, dass wir uns nicht „bierseelig“ im Abstrakten, Allgemeinen und im Philosophieren über das Wohl unserer Patienten oder Klienten verloren haben …
(1) In der Schweiz sind psychotherapeutische Leistungen nur dann kassenpflichtig, wenn diese von Ärzten oder Psychologen in ärztlicher Delegation/Verantwortung durchgeführt werden. Freiwillige Zusatzversicherungen können sich anteilmässig an den Kosten mitbeteiligen.