Filip Caby, Leer: Gestern, Heute, Morgen
Der Advent macht es möglich. Ich weile in meiner Heimat Flandern und frage mich gerade, wie ich morgen durch den „Schneesturm“ zurück nach Ostfriesland komme. Da ging heute so gut wie gar nichts. Aber morgen …
Und es gibt nur noch bis übermorgen – also bis morgen – Texte für den systemischen Adventskalender. Das geht ja wohl gar nicht. Oder vielleicht doch?
Ich frage mich aber auch, wie es so mit den systemischen Gedanken weitergeht. Es wird immer wieder festgestellt, dass die großen Entwürfe entworfen sind und seitdem nichts Neues mehr entstanden ist.
Ist das wirklich nötig? Müssen neue Entwürfe her um die systemische Szene in Schwung zu halten, oder gar zu bringen?
Ich bin mir da nicht so sicher.
Um den Hintergrund dieser Gedanken etwas zu verdeutlichen, muss ich vielleicht kurz erläutern, dass ich vor 23 Jahren, 10 Monate und 13 Tagen angefangen habe, eine systemisch orientierte kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung innerhalb eines Allgemeinkrankenhauses aufzubauen. Die damals anvisierten 30 Behandlungsplätze wurden inzwischen in ihrer Anzahl verdreifacht, die Zahl der Mitarbeiter gar verfünffacht. Der Spirit von damals ist aber … nicht geblieben. Oder um es mit heutiger Sprache zu sagen: nicht wirklich.
Das Brennen für „das Systemische“ ist irgendwie versickert. Es ist dem Alltag erlegen. Ein Alltag, der daraus besteht, Belegungszahlen aufrecht zu erhalten, Stellen zu besetzen und die Arbeitsmotivation zu pflegen.
Trotzdem wurde die Abteilung innerhalb des Hauses immer etwas neidisch als etwas Besonderes betrachtet: In der KJP ist alles immer anders: da halten Leute zusammen, da gibt es immer eine gute Stimmung. Die sind auch ein bisschen verrückt.
Offensichtlich sind wir immer noch genügend anders, um entsprechend beäugt zu werden. Aus der Sicht des Systemikers fallen manchmal in den Therapien häufig ganze Systemteile unter dem Tisch: die Väter, die Geschwister, das Genogramm. Die werden zwar in den Visiten wieder integriert, aber mir wird dadurch verdeutlicht, dass in unserem Klinikalltag für große Entwürfe kein Platz wäre.
Was würden wir denn von den großen Entwürfen erwarten? Wenn man sich die Geschichte der Psychoanalyse anschaut, dann haben nach den ersten fünf Jahrzehnten keine großen Umwälzungen mehr stattgefunden. Es ging für die erste Psychotherapieschule vielmehr darum, ihre gesellschaftliche Position zu erarbeiten und zu sichern. Das ist der Psychoanalyse bzw. den psychodynamischen Disziplinen gut gelungen. Eine wirkliche Weiterentwicklung hat es bis auf – im Vergleich zum Ursprung – relativ geringfügige Anpassungen nicht gegeben.
Das systemische Denken hat ebenfalls 40 Jahre gebraucht, um sich gesellschaftlich zu etablieren, allerdings ohne dass es zu einer Abrechnungsfähigkeit gekommen ist. Das wäre auch nur ein kleiner Schritt im Vergleich zu dem Stellenwert, den die Systemik in Gesellschaft, Biologie und Wirtschaft bereits hat.
Dass es keine neuen großen Entwürfe mehr gibt oder geben wird, ist eine Hypothese. Systemisch betrachtet sorgt eine Hypothese dafür, dass sie Bestätigung findet. Das würde bedeuten, dass das Gerede über fehlende große Entwürfe dazu führt, dass es keine großen Entwürfe mehr gibt.
Es ist meiner Meinung nach im Moment auch völlig unklar, in welchem Bereich diese großen Entwürfe denn stattfinden sollen. Gibt es eine systemische Schule? Gibt es bis auf kleinere Inseln systemische Kliniken? Gibt es eine systemische Behörde? Und so weiter. Vielleicht hat es vereinzelte Versuche gegeben, aber soweit mir bekannt ist, ist es nicht flächendeckend gelungen, das systemische Denken so zu etablieren, dass es salonfähig wurde. Wenn psychiatrisch oder psychotherapeutisch Unkundige sich über die beiden Fächer unterhalten, fällt die Anspielung auf die „Couch“ selten nicht. Die „Couch“ ist nun das analytische Instrument par excellence. Ich wüsste auch nicht, was das systemische Pendant dazu wäre: der leere Stuhl? Das Reflecting Team?
Ich glaube, wir haben noch viel zu tun, damit die großen Entwürfe, die es mal gab, wirklich eine Chance haben, sich zu etablieren. Eine Erfahrung, die ich als Klinikleiter machen musste, ist, dass man zwar mit systemischem Konzept starten kann, es aber sehr viel schwieriger ist, das systemische Konzept aufrecht zu erhalten. Vor 25 Jahren genügte es, einige hochmotivierte, systemisch denkende Menschen zu haben, um dafür zu sorgen, dass alles von dem gleichen Gedanken durchflutet war. Inzwischen haben wir mehrere (über die Hälfte) der 160 Mitarbeiter, die nicht mehr wirklich wissen, was systemisch heißt. Das bedeutet, dass aus systemischer Sicht betrachtet die Klinik sich immer mehr auf Alltagsbewältigung besinnt und Dinge wie Familiengespräche, Teamkultur, Gesprächskultur, reflektierende Settings und so weiter nicht mehr selbstverständlich sind. Sie mussten alle wiedereingeführt werden, weil sie nicht mehr zum Selbstverständnis der Belegschaft dazu gehörten.
Es lohnt sich m.E. dafür zu sorgen, dass das nicht passiert, weil das, was das Systemische ausmacht, eine Haltung ist. Die nicht selbstverständlich gesellschaftlich verankert ist. Es ist eine Haltung, für die man aufkommen muss, die man schützen muss, weil sie sonst im Alltagsstress verloren geht.
Damit große Entwürfe entstehen können, muss diese Haltung durch Mark und Bein gegangen sein. Das heisst, dass danach gelebt wird. Und das wäre mein Wunsch für diesen Advent: dass die Stimmung länger hält als der Advent dauert…