Konrad Peter Grossmann, Gallneukirchen (A)
Unter all den Fragen, die Tom Levold als Initiator der systemmagazin-Adventkalenders rund um das diesjährige Thema „Systemisches Engagement“ stellte, bewegte mich vor allem diese: „Welche Beispiele für ein solches Engagement haben Sie in diesem Jahr oder in der letzten Zeit besonders beeindruckt?“ Im Nachdenken darüber fiel mir ein Klient ein, der auf mich durch sein Engagement für sein Familiensystem und letztlich auch für sich selbst einen tiefen Eindruck hinterlassen hat und dessen (Therapie-) Geschichte ich im Folgenden erzählen will.
Der junge Mann meldete sich kurz vor Weihnachten letzten Jahres in der Beratungsstelle, in der ich arbeite; die Mutter eines Freundes, die selbst Psychotherapeutin ist, hatte ihn an mich verwiesen. Er litt unter Panikattacken, die sein Leben und sein eben erst begonnenes Studium stark beeinträchtigten – er schämte sich für sie und erlebte sie als Ausdruck persönlicher Schwäche. Sie erschwerten es ihm, sich auf das Studium zu konzentrieren und beeinträchtigten ihn in Prüfungssituationen; sie führten dazu, dass er sich mit wenigen Ausnahmen unter Menschen unsicher bzw. als „Weichei“ fühlte; und sie beschränkten seine nahen sozialen Kontakte auf zwei Freunde und seine Familie.
Er stammte aus demselben ländlichen Gebiet an der nördlichen Landesgrenze Österreichs, in dem auch ich lebe. Die Tatsache, dass wir den gleichen Dialekt sprachen, die gleichen Orte kannten und mochten, trug wohl dazu bei, dass er sich trotz des für ihn unbekannten Kontextes „Psychotherapie“ rasch öffnen und mir anvertrauen konnte.
Im Erstgespräch erzählte er unter anderem von seinem familiären Hintergrund. Er verbrachte einen Gutteil der Woche bzw. all die Tage, wo seine Anwesenheit an der Universität nicht erforderlich war, zuhause bei seiner Familie. Diese umfasste seine Mutter, seinen Vater und zwei jüngere, gleichfalls noch zuhause lebende Geschwister. Seine Eltern hatten kurz vor Beginn seines Studiums beschlossen, sich zu trennen, als seine Mutter an Krebs erkrankte. Ihre Erkrankung war auch der Grund dafür gewesen, dass sie nicht wie geplant von zuhause ausgezogen war. Die so geschaffene neue Lebenssituation hatte dazu geführt, dass der junge Mann die Versorgung der Familie in die Hände nahm (Der Vater war aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit viel unterwegs und kam erst spät abends nach Hause, die jüngeren Geschwister waren mit ihrer schulischen Ausbildung befasst). Für diese Rollenaufteilung war noch ein weiterer Grund maßgeblich gewesen: Er und seine Mutter hatten, ehe sie erkrankte, über ein Jahr hinweg nicht mehr miteinander gesprochen, weil er sie in einem Streitgespräch gekränkt hatte. Sie war – so der Klient – „eine harte Nuss“, aber das Zerwürfnis war seine Schuld gewesen. Seine Versuche der Aussöhnung hatten zu „nichts“ geführt – die Mutter hatte sie zurückgewiesen, so dass ihre Beziehung sich erst jetzt langsam wieder zum Guten wendete (Der Vater hatte sich ebenso wie die Geschwister bei diesem Konflikt abseits gehalten). Die Erkrankung veränderte ihre Beziehung – er wurde ihr zum Vertrauten, zum persönlichen Assistenten im Kontext ihrer zunehmenden körperlichen Beeinträchtigung und zum wichtigsten Ansprechpartner. Zugleich war er es, der die Familie „zusammenhielt“, die Geschwistern tröstete und den Vater entlastete. Er hatte sich eine schwere Last auf seine Schultern gelegt.
Zu den Belastungen, die zum Auftreten seiner Panikattacken geführt hatten bzw. diese aufrechterhielten, zählten die Sorge um seine Mutter und die Angst vor ihrem Tod; das Erleben von Schuld an dem langen Zerwürfnis mit ihr; die Unsicherheit, ob er die richtige Studienrichtung gewählt hatte bzw. der Zweifel, ob nicht die Mitarbeit im väterlichen Betrieb und ein durchgängiges Zuhause-Bleiben die bessere Entscheidung darstellen würden; die hohen Anforderungen der Studieneingangsphase; die Überlastung, die mit dem gleichzeitigen Realisieren von Präsenz für seine Mutter und seine Familie und dem Versuch, seinen eigenen Ausbildungsweg weiterzugehen, einherging; die fehlende Zeit für sich und anderes.
Die Therapie nahm ein Jahr in Anspruch. Unsere Gespräche drehten sich um potenzielle Strategien, aufkeimende Panikgefühle rückzuregulieren; darum, sein panikartiges Erleben nicht als Ausdruck persönlicher Schwäche, sondern als Hinweis auf persönliche Überlastung wahrzunehmen; um seine Möglichkeiten, sich selbst in Form von Selbstfürsorge etwas Gutes zukommen zu lassen; um die Vergebung von Schuld. Sie drehten sich um seine Angst vor dem Sterben seiner Mutter und seine Sorge, vor ihrem Tod nicht hinreichend für sie dagewesen zu sein; um seine Studienwahl; und das Bewältigen von Prüfungssituationen; um die familiäre Rollenaufteilung und das damit verbundene Zurückstellen persönlicher Wünsche und Bedürfnisse; um seine Einsamkeit und seinen Wunsch nach einer Beziehung, dem er in der gegenwärtigen Lebenssituation keinen Platz einräumen wollte.
Im Sommer dieses Jahres verschlechterte sich der Gesundheitszustand seiner Mutter. Sie übersiedelte in ein Hospiz, und der Klient verbrachte so viel Zeit bei ihr wie möglich. Trotzdem gelang es ihm, in dieser Zeit eine kurze Auszeit zu nehmen, in der er sich einen langersehnten Wunsch erfüllte – er hatte bereits als Jugendlicher davon geträumt, einmal die Ostsee zu besuchen. Eines Abends – nach einem bei seiner Mutter im Hospiz verbrachten Tag – lieh er sich das Auto das Vaters, fuhr die Nacht über bis Rostock, erlebte einen Sonnenaufgang am Ostseestrand, um sich gleich darauf wieder auf den Nachhauseweg zu machen und abends seine Mutter zu besuchen.
Seine Mutter verstarb im Herbst. Sie verstarb, während er bei ihr war. In den Therapiestunden nach ihrem Tod bildeten die sparkling moments im Leben seiner Mutter und deren Bedeutung für ihn wie auch all die guten und die schwierigen Erfahrungen, die ihn mit ihr verbanden, das zentrale Therapiethema. Im November überraschte er mich mit der Mitteilung, dass er eine Freundin gefunden hatte – eine junge Krankenschwester, die in eben jenem Hospiz arbeitete, in dem auch seine Mutter verstorben war. Er erzählte, wie sie einander kennengelernt hatten – bei einem seiner letzten Besuche im Hospiz hatte ihn seine Mutter in einem der zunehmend seltenen Momente von klarem Bewusstsein auf sie mit der Bemerkung aufmerksam gemacht, sie hätte „ein Auge auf ihn geworfen“ und dabei geschmunzelt. Er hätte das – so der junge Mann – damals gar nicht beachtet, aber beide waren sich in den Tagen nach dem Tod der Mutter nahegekommen und so zu einem Paar geworden.
Vor der letzten Therapiesitzung, die zu Beginn der Adventzeit stattfand, bat ich ihn, einen an sein zukünftiges Selbst adressierten Brief zu schreiben, in dem er die für ihn wesentlichen Erfahrungen der Therapie zusammenfassen sollte (Meine Hoffnung war, dass er sich dadurch ein persönliches Archiv wichtiger Erkenntnisse verschaffen würde, auf die er in Zeiten eventueller erneuter Überlastung zurückgreifen würde können. Das Medium des Abschiedsbriefs hatte sich bereits im Kontext seines Trauerns rund um den bevorstehenden Tod seiner Mutter als hilfreich erwiesen). Er modifizierte diese Anregung – aus dem Brief an sich wurde ein Brief an mich, den er mir überreichte. In dieser Abschlussstunde redeten wir über all die persönlichen Schritte, die er im Laufe dieses Jahres gemacht hatte. Seine Panikattacken, die sich rund um den Tod seiner Mutter verstärkt hatten, waren verschwunden, seine vorlesungsfreien Tage verbrachte er mit seiner Freundin oder mit dem Entwerfen eines Computerprogramms, das ihn aufgrund seiner mathematischen Herausforderungen faszinierte. Mit dem Tod seiner Mutter – so der Klient – war er „im Reinen“. Das, was er sich zu Beginn ihrer Erkrankung vorgenommen hatte – für sie da zu sein und ihren Schmerz mitzutragen – hatte er erfüllt und so nicht nur mit ihr, sondern auch mit sich selbst Frieden geschlossen.