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systemagazin Adventskalender: Die Vertreibung ins Paradies?

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Rudolf Klein, Merzig: Die Vertreibung ins Paradies?

Nach jahrelangen Mühen und enormen personellen und finanziellen Investitionen ist es nun endlich so weit: Die Wächter der heiligen Pforte zum Eintritt ins Paradies namens Gesundheitssystem haben den Weg für die systemische Therapie freigemacht. Die sozialrechtliche Anerkennung ist erreicht. Halleluja!

Approbierte psychologische und ärztliche PsychotherapeutInnen können nun systemische Therapien abrechnen. Das haben viele zwar schon in den vergangenen Jahren, unter falscher Flagge segelnd, so praktiziert, nun ist es aber offiziell erlaubt und kann auch so benannt werden.

Diese Entscheidung eröffnet die Möglichkeit, an die Fleischtöpfe der Krankenkassen zu kommen. Und vielleicht wird auch von dem Einen oder Anderen gehofft, damit systemische und kritische Ideen in das sogenannte Gesundheitssystem zu transportieren und dieses entsprechend zu reformieren. Zum Beispiel durch eine Infragestellung der an Defiziten orientierten Diagnostik und einer Dekonstruktion von Krankheit, durch eine kontextsensible Praxis, durch eine flexible Gestaltung von Settings, durch kürzere und effektivere Therapien usw.

Die Sache mit dem Geld mag zutreffen, beim zweiten Punkt bin ich mehr als skeptisch. Denn: Lediglich die Pforte wurde durchlässiger – nicht hingegen die Bedingungen und Strukturen des Gesundheitssystems selbst. Hier wird nach wie vor auf Einhaltung eingeführter Regeln geachtet. Sei es der Umgang mit Diagnosen, sei es das Gutachterverfahren, sei es die Anzahl der Sitzungen und deren Settingwahl.

Wenn man die Entwicklung der Verhaltenstherapie in den letzten Jahrzehnten beobachtet, kann einem angst und bange werden. Ein eher progressiver Ansatz wurde Stück für Stück handzahm gemacht und in Richtung Stromlinie geformt, besser: die VT hat sich ganz von alleine geschmeidig angepasst. Wie gesagt: Fleischtöpfe ja, systemische Veränderungen eher nein.

Auch wird es berufspolitisch zu einer Spaltung kommen. Wenn man bedenkt, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil aller AusbildungskandidatInnen SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen sind, wird für diese Berufsgruppen eher ein Ausschluss aus dem psychotherapeutischen Bereich die Folge sein. Das kann man im stationären Bereich, z.B. in Suchtkliniken, bereits jetzt beobachten. Nicht gerade die beste Lobbyarbeit der beiden Dachverbände.

Während ich so vor mich hinschreibe, fällt mir eine Geschichte ein: Ein sehr, sehr frommes Mütterchen stirbt und kommt nun endlich in den Himmel. Voller Vorfreude glaubt es nun, für alle Entbehrungen in seinem bisherigen gottesfürchtigen Leben entlohnt zu werden. Und was bekommt die alte Frau? Eine vergammelte Kammer, die aus einer Pritsche, einem Tisch, einem Schrank und einem Stuhl besteht. Sie beginnt sofort mit der Reinigung der Kammer.

Am Abend kommt ein Himmelsdiener mit dem Essen vorbei. Wortlos stellt er einen Magermilchjoghurt hin. Die Frau ist enttäuscht, löffelt den Joghurt, bleibt aber voller Hoffnung, dass sich die Dinge noch zu ihren Gunsten regeln werden. Sie putzt weiter und bekommt am nächsten Tag erneut wortlos einen Magermilchjoghurt. Nach etwa einer Woche mit täglich schweigend gereichtem und gelöffeltem Magermilchjoghurt hat sie ihre spartanische Kammer endlich sauber und aufgeräumt.

Am achten Tag erscheint der Diener erneut mit dem schon bekannten, leicht säuerlich schmeckenden, etwas körnig sich anfühlenden Joghurt.

Die Frau aktiviert mit aller Kraft ihren bislang eher versteckt gehaltenen Egostate „mutig“ zu Ungunsten ihrer jahrelang trainierten Egostates „fromm“ und „genügsam“ und fragt den Himmelsdiener: „Ich habe ein langes, gottesfürchtiges Lebern geführt, täglich mehrfach gebetet, Entbehrungen getragen und war voller Hoffnung, im Himmel eine Entschädigung durch ein schönes Zimmer, gute Behandlung, reichliches Essen und wunderbare Getränke zu bekommen. Ich kriege aber immer nur Magermilchjoghurt. Warum ist das so?“ Daraufhin antwortet der Diener: „Hier oben kommen so wenige Leute an, da lohnt sich das Kochen nicht.“

Etwas Gutes hat die Sache mit der Anerkennung schon: Das vermeintlich paradiesische Jenseits lässt einen neuen Blick auf das scheinbar so dürftige Diesseits zu: Die Tatsache, dass es (noch) pauschale Finanzierungsmodelle gibt, in denen systemisch gearbeitet werden kann. Kontexte, in denen flexible Arbeit möglich ist, Klienten nicht be-handelt, sondern mit ihnen ver-handelt wird, was sie als hilfreich ansehen und was nicht. Klassische Domänen der Sozialarbeit, in denen die systemische Arbeit zwar „Beratung“ genannt werden muss, dennoch therapeutische Überlegungen und Vorgehensweisen zum Einsatz kommen.

Wie gut, dass hier weder eine z.T. demütigende Antragsstellung nötig ist noch die Pflicht besteht, Klienten zunächst einmal für krank zu erklären, damit eine beraterisch-therapeutische Arbeit beginnen kann.

Und wie schön, dass hier noch scheinbar krankhaftes Verhalten konsequent plausibilisiert, menschliche Not als Ausdruck einer Verflechtung nachvollziehbarer individueller, sozialer, psychischer und biologischer Bedingungen mit existenziellen Herausforderungen verstanden werden kann.

Liegt das Paradies tatsächlich im Jenseits oder nicht doch eher im Diesseits? Ist das „Konzept Hoffnung“ eine angemessene Haltung für die aufgeworfenen Fragen oder wird man dafür doch nur mit Magermilchjoghurt abgespeist?

Je länger ich nachdenke, desto mehr erscheint mir meine tägliche Arbeit in einer freien Praxis, mit frei ausgehandelten Honoraren zwar unberechenbarer und risikoreicher, dafür aber freier. So verlockend eine Krankenkassenfinanzierung auch auf den ersten Blick erscheint: Ich möchte nicht tauschen.

Und cremigen Sahnejoghurt, sogar Bio, mit einer wunderbaren Textur bekomme ich bereits jetzt.

11 Kommentare

  1. Rudolf Klein sagt:

    Lieber Lothar, lieber Herr Rufer,
    leider ist die Diskussion zu schnell für meine Antwortmöglichkeiten. Dennoch freue ich mich über die Diskussion, die tatsächlich schon lange geführt wird und nun doch wieder mehr Raum einzunehmen scheint. Nun schreibe ich eine dem Dialog hinterherhinkende Antwort: Natürlich gehe ich keineswegs davon aus, dass KollegInnen, die mit anderen Verfahren arbeiten, komplett kontextblind und diagnosegläubig sind (Ausnahmen mag es aber durchaus geben). Ich habe ja nun keinen Joghurt auf den Augen, um in der Metapher zu bleiben. Und natürlich schätze ich deren Arbeit und kooperiere durchaus mit „den Anderen“.
    Und ich weiß, dass viele Ideen und Dynamikbeschreibungen, gerade in der Therapie von Alkoholabhängigkeiten, im Rahmen der TP, der PA und VT entwickelt und mit einer anderen Terminologie in die systemische Therapie Eingang gefunden haben. Umgekehrt gilt allerdings dasselbe – die Terminologien unterscheiden sich aber.
    Ich habe in meinem Text auch gar nicht so sehr die Vertreter anderer Verfahren kritisiert, sondern das Regelwerk des Gesundheitssystems, zu dem es ja ab jetzt einen Zugang geben wird. Und hier habe ich besonders den joghurtfreien Blick auf das Suchthilfesystem – sowohl auf die stationären als auch die ambulanten Varianten. Ich habe nämlich nach wie vor den Eindruck, dass bestimmte Vorstellungen darüber, was Sucht „ist“, wie sie „behandelt“ werden soll und was „das“ Ziel ist, bislang unverrückbar die Behandlung dominieren. Und zwar unabhängig davon, wie TherapeutInnen in diesen Suchthilfeeinrichtungen darüber denken, ob sie das für sinnvoll, nützlich oder völlig absurd halten und ob sie an den Bedürfnislagen ihrer Klienten und deren Vorstellungen vorbeiarbeiten.
    Ich vertrete auch nicht die Position, dass alles ja ganz anders „ist“ und sein soll. Ich vermisse eine gewisse Lust und Neugierde an Mehrdeutigkeiten in diesem Bereich. Diese wird nämlich sanktioniert. Und das ist nicht ohne. Wer vom Regelwerk der Rentenversicherer abweicht, wird als Vertragspartner nicht oder nicht mehr finanziell gefördert.
    Daher bin ich extrem skeptisch, was aus einem systemischen Ansatz wird, der sich an anderen Beschreibungen der Problemlagen, an einer Verhandlung des Therapieprozesses und an einer therapiebegleitenden und frei ausgehandelten Zieldefinition orientiert: Magermilchjoghurt.

  2. Martin Rufer sagt:

    Lieber Lothar Eder

    Auch wenn ich mich nicht persönlich angesprochen fühle, finde ich den jetzt allseits angelaufenen Diskurs wichtig. (Dies sage ich auch auf dem Hintergrund meiner schweizerischen Erfahrung als approbierter psychologischer Psychotherapeut, der sich seit Jahren für die Abrechnung von psychologischer PT über die Allgemeinversicherung engagiert, bis dato aber als Selbstständiger seine Psychotherapie leider nur über eine Zusatzversicherung bzw. Selbstzahlende abrechnen konnte, in dieser (unfreiwilligen) Nische allerdings auch im Hinblick auf deren Wirksamkeit signifikante Erfahrungen machen und diese fortlaufend auch kontrover diskutieren konnte. DIe ST allerdings gilt seit Jahrzehnten als kassenrechtlich anerkanntes Verfahren).
    Allerdings läuft man dann, wenn alles noch neu ist, die Gefahr, dass dabei nicht nur jeder seine bisherigen Essgewohnheiten mIt missionarischem Eife verteidigt. DIes auch dann wenn sich von blossem Auge BIO Joghurte oft nur schlecht von anderen unterscheiden lassen, beim Suchen nach dem „Richtigen“ dabei aber gleich der ganze Kühlschrank ausgeräumt, auf den Kopf gestellt oder gar umgekippt wird. Dabei geht vergessen, dass die Frage, wer, wann und wie und mit was auf den Geschmack kommt, im sich verändernden versorgungspolitisch geregelten Kontext (Markt) entschieden wird, den Einzelne, aber auch die Verbände nur bedingt beeinflussen können, man sich selber aber aus dem laufenden (schwer voraussehbare) Prozess heraus immer wieder neu für seinen Weg darin entscheiden können

    Mit herzlichem Gruss
    Martin Rufer

    • Lothar Eder sagt:

      Lieber Martin Rufer,
      der Diskurs ist ja nicht neu. Es ist eine wiederkehrende diskursive Schleife, in der das (deutschsprachige!) systemische Feld sich selbst gefangenhält (meine Beobachtung, keine objektive „diagnostische Realität!). Mir scheint, da schwingen jede Menge Altachtundsechziger Träume im Untergrund mit, jedenfalls entnehme ich das dem gelegentlich doch recht revolutionär anmutenden Ton zumindest in meinen Ohren.
      Es wird so oft angesprochen, über den Tellerrand zu schauen. Liebe systemischen Kolleginnen und Kollegen: ja, schaut doch bitte über den Tellerrand! Schaut zu den Analytikern, zu den Tiefenpsychologen, sogar zu diesen verknöcherten Verhaltenstherapeuten (zu denen ich gehöre), schaut zu den Humanisten und schaut, wenn ich Euch einen Tipp geben darf, vor allem zu den Körpertherapeuten. Wenn Ihr da ohne Scheuklappen hinschaut, dann werdet Ihr einen großen Reichtum an Wertschätzung, an kreativem Umgang mit Ressourcen, an Begegnung von Mensch zu Mensch, innerhalb dessen leidvolle Pathologien in die „Wir“ und „Du“-Perspektive gebracht werden (sehr anregend dazu der Heidelberger Jaspersprofessor Thomas Fuchs!). Ihr müßtet allerdings ein paar klischeehafte Vorurteile über „die Anderen“ aufgeben. Aber das kann ja bekanntermaßen sehr befreiend sein.
      In der Entwicklungspsychologie kann man Reife (in einem friedlichen Umfeld) definieren als einen Zustand, der erlaubt, die eigene Identität zu wahren und sich mit dem Anderen, Andersartigen austauschen zu können ohne unter angstvollen Druck zu geraten, seine Eigenheit aufgeben zu müssen. Das wäre mein Wunsch für diesen Prozess der Integration der ST in die Kassenpsychotherapie.
      herzliche Grüße in die Schweiz! Lothar Eder

      • Martin Rufer sagt:

        Lieber Lothar Eder

        Nun, solange die Anerkennung bzw. Kassenzulassung über Therapieverfahren läuft, solange läuft eben auch der Prozess „schulenorientiert“ bis man dann eben auch einmal dazu gehört. Und die, die drinnen sind, reden anders als die, die noch „draussen“ vor der Tür stehen und vielleicht auch dort bleiben müssen oder wollen.
        Der von Ihnen angeprangerte Diskurs lässt sich im übrigen nicht nur bei der ST, sondern in der ganzen Geschichte der Anerkennung der PT bzw. der Verfahren, insbesondere auch der VT nachzeichnen. Er ist Teil der Positionierung im Versorgungssystem und dem damit einhergehenden, sich verändernden Selbstverständnis. In Zeiten, wo Therapien in jeder denkbaren Form kombiniert, emotions- und mitgefühlfokussiert, bindungsbasiert und prozessorientierte angeboten und verkauft werden, ist auch die VT (genauso wie die ST) nicht mehr das, was sie einmal war…
        In dieser Hinsicht bin ich froh, dass sich bei uns die Geister schon lange nicht mehr am Tellerrand streiten und scheiden. Dass allerdings aus einer, wenn auch durchaus berechtigten Befürchtung vor Mengenausweitung ( der Motor für all das), „Sein oder Nicht-Sein“ bei uns über die (zugelassene) Berufsgruppe gesteuert wird, ist nicht weniger fragwürdig und führt im Übrigen zu ganz ähnlichen Diskussinen über ein System, dessen Regelsystem von der Medizin bestimmt wird. Und die Sorgen, wie der andere Fuchs ein mal gesagt hat, dass eine Psychotherapie, die in er Medizin aufgeht, sich aufgibt, scheinen mir durchaus berechtigt.

        Mit psychotherapeutischem Gruss
        Martin

        • Lothar Eder sagt:

          Lieber Martin Rufer,
          da bin ich in vielem d’accord.
          Vielleicht noch ein Aspekt: die Sorge, die PT könne in der Medizin aufgehen, ist einerseits berechtigt, andererseits übersieht sie die gewachsenen Zusammenhänge.
          Psychotherapie hat ihre Wurzeln in der Medizin, sie ist gewissermaßen ihr Kind und bleibt in ihr verhaftet. Sie entstammt historisch in gewisser der romantischen Medizin des 19. Jh., die auf dem Weg zur einer – durch die cartesianische Spaltung- verlorenen Ganzheit war. Insofern ist sie Teil der Medizin als Gesamt des heilkundlichen Wissens. Allerdings einer anderen Medizin, wie sie derzeit vorherrscht.
          Daraus ergeben sich Spannungsverhältnisse. die nicht unerheblich sind. Es ist ein Wunder, dass PT in welcher Form auch immer, in D (immer noch) Bestandteil der Kassenleistungen ist. Wir verdanken es dem sog. „Neurosenurteil“ des BSG vom 30.6.1964, das ein immenser Fortschritt für Menschen mit seelischen Leiden war: der Anspruch auf kassenfinanzierte PT bedeutete einen Quantensprung.
          Wir haben seit langem und auch aktuell in D eine mehrfache Bedrohung dieses Bestandsrechts. Die eine Bedrohung kommt aus der Schulmedizin und von den Kassen. Letztere wollen mehr Effektivität und die neurobiologisch orientierte Medizin im Verbund mit der Pharmaindustrie bedienen dieses Bedürfnis gerne. Die andere, wenn auch geringere Bedrohung besteht in organisierten Äußerungen, seelische Krankheiten seien doch gar keine. Damit strebt das systemische Feld, ich vermute ohne sich dessen bewußt zu sein, nach einem Zustand wie er vor dem 30.6.1964 bestand. Und genau dies ist, so meine ich, unbedingt zu verhindern! !Quidquid agis, agis prudenter et respice finem – dieser im Kern systemische Satz wird von Systemikern in ihrer Kritik des angeblich so bösen Gesundheitssytem leider übersehen und das kann fatale Folgen haben!
          Kollegiale Grüße, Lothar Eder

          • Wolfgang Loth sagt:

            Lieber Lothar,
            gut, dass Du an diesen Satz erinnerst (zur Übersetzung: https://de.wiktionary.org/wiki/quidquid_agis,_prudenter_agas_et_respice_finem ). Es wäre dann allerdings wieder Verhandlungssache, was als „Ende“ gelten soll. Am Ende eines „Therapie“ genannten Miteinanders sollten diejenigen, die sie aufsuchten, eine für sie hilfreiche Entwicklung spüren können. Am Ende eines Lebens stellen sich vielleicht andere Fragen. Ob sich das dann nun zuspitzt oder relativiert, ich weiß es nicht. Aber irgendwie erscheint es mir plausibel, wenn Max Frisch gegen Ende seines Lebens die Reduktion auf den eigenen Garten hin- und annimmt und sich relativiert – und dabei (von mir aus im Wortsinn verstanden) konsequent präzisiert: „mit Ausnahme der Freundschaft“.
            Alles Gute für Dich
            und herzlichen Gruß
            Wolfgang

  3. Lothar Eder sagt:

    Lieber Rudi,
    angeregt durch Deinen Beitrag habe ich heute Morgen in meiner Praxis in meinen kassenpsychotherapeutischen Kühlschrank geschaut. Und was mußte ich sehen: kein Sahneyoghurt, überhaupt kein Yoghurt, nicht mal Magerstufe. Siehst du, sagte mein innerer Kritiker, hättest du was Gescheites gelernt, dann hättest du jetzt auch was Gescheites im Kühlschrank. Stattdessen mache ich jetzt seit fast 30 Jahren Kassenpsychotherapie und quäle aus systemischer Perspektive meine Klienten mit ICD-Diagnosen (die Wahrheit ist: die Leute kommen zu mir, weil sie sich krank fühlen und sind froh, wenn sie anhand von pathologischen Dynamiken verstehen, was mit ihnen los ist. Die zweite Wahrheit ist, dass meine Klienten wesentlich mehr von Krankheit sprechen als ich und die Kassenkollegen/innen, die ich kenne, halten es ebenso).
    Aber im Ernst: seit der sozialrechtlichen Anerkennung der ST lese ich hier im systemagazin und auch in anderen Foren nur Einwände. Diese Haltung kommt mir vor wie die des Mannes, der im Wirtshaus ein Bier bestellt und der dann, als es vor ihm steht, auf den Tresen steigt und eine flammende Rede gegen das Trinken von Alkohol hält.
    Mein spontaner Vorschlag: wir geben die Anerkennung zurück. Bzw. wir reichen sie an die (abgelehnten) Humanisten weiter. Die haben sie erstens noch mehr verdient als die Systemiker. Zweitens würden sie nach der Zulassung nach meiner Vermutung nicht über deren Erhalt rummosern und rumzicken. Sondern sich freuen und mit ihrem Pfund wuchern. Und drittens sind sie nach meiner Kenntnis in der Lage, menschliche Pathologien zu erkennen und sie mit Klienten wertschätzend zu verhandeln (statt ständig in diese ideologisch verklebte Diagnosenablehnung zu verfallen). Also, ich wäre bereit, eine entsprechende Petition zu verfertigen. Dann könnten Systemiker/innen weiterhin in dem Glauben leben, sie seien die Avantgarde (das Lied höre ich seit 30 Jahren und wundere mich zunehmend darüber, dass sich irgendjemand das tatsächlich noch selber glaubt) und hätten diesem verrotteten Gesundheitssystem etwas Einmaliges zu bieten (tatsächlich ist es im Bereich der psychotherapeutischen Versorgung wahrscheinlich das beste der Welt), wofür jenes aber noch nicht in der Lage ist, es wertzuschätzen.
    Wäre ich Kassen- oder KV-Vertreter und ich würde das als Stimmungsbild des systemischen Feldes mitbekommen, zudem die Rede davon „dass es ja ohnehin nur darum geht, an die Fleischtöpfe der Kassen heranzukommen“, also denkt man sich halt Diagnosen für die Patienten aus, wenns halt unbedingt sein muss (welch eine Berufsethik! – keine Kritik an Dir, aber das habe ich hier auch schon gelesen), ich hätte so richtig Lust, mit Systemikern zu kooperieren.
    Lieber Rudi, Hand aufs Herz: bist Du wirklich und ernsthaft der Meinung, dass in der ST das Leid und die Not von Menschen „plausibilisiert“ und in Entstehungsdynamiken und –kontexte eingebettet gesehen werden, während „die Anderen“ (Analytiker, Tiefenpsychologen, Verhaltenstherapeuten, Humanistisch-wachstumsorientierte das nicht tun sondern ihre Patienten mit diagnostischen Etiketten bekleben und Krankheiten statt Menschen behandeln? Falls die Antwort ja ist, wäre mir sehr daran gelegen, Dich (und nicht nur Dich) im persönlichen Gespräch oder auch per Email vom Gegenteil zu überzeugen oder zumindest „die andere Seite“ aufzuzeigen.
    Damit sende ich Dir und allen Kollegen/innen herzliche vorweihnachtliche Grüße!
    Lothar

    • Markus Haun sagt:

      Lieber Herr Eder,

      an kreativer Zuspitzung sind Sie ja selten zu überbieten. Ich fand es sehr wohltuend, dass hier auch ein anderer Pol der Diskussion besetzt wird. Danke, Markus Haun

  4. Wolfgang Traumüller sagt:

    Lieber Rudolf Klein,

    danke für diese Vorausschau und schöne Geschichte aus dem, was man für den Himmel hält… Ich teile ihre Skepsis seit langem. Bert Brecht und Karl Marx und andere haben dazu viel und entscheidendes gesagt, was im Zusammenhang erlebter Geschichte(n) aussagekräftiger und konsistenter erscheint als mancherlei Psychologenträume. Auch habe ich den Eindruck, daß solche kritischen Stimmen im systemischen Feld überwiegend von denen kommen, die nicht in dem nun hieraus erwachsenen klassischen Interessenkonflikt stehen (den jeder Mediziner im übrigen offen legen muß). Wohlmeinend könnte man von Stallblindheit reden, man kann es aber auch anders betrachten… Was Psychologen unter uns da gelegentlich anbieten, schaudert mich eher als schon zu Studienzeiten in Ideologiekritik geschulter Soziologe und Theologe. Anderen Nichtapprobierten die neue Situation schön reden, lässt mich eher Pawlows Hundeexperiment assoziieren. Da hat es auch geklingelt und die Macht der Konditionierung griff um sich. Angesichts der verheißenen Fleischtöpfe scheint der Speichelfluss erkennbar angeregt zu werden. Ich halte mich da mehr an Arnold Retzers bildschönes Diktum: Schön saufen ist schöner. Die „Gründe“, fürchte ich, werden sich ergeben. Und wenn es das Paradies ist, von dem ich etwas zu verstehen meine.

    Daß sich theologumena in letzter Zeit gerade auch hier im Adventskalender häufen, sehe ich jenseits aller saisonalen Metaphorik (wozu sie wenig taugen, wenn man sie ernst nimmt!) kritisch. Oft scheinen sie vorgeschützt. Seltsam, im Nebel zu wandern! 😉

    CAVE: Nicht umsonst endet das von zahlreichen, die sich an ihm üben, leicht als Schlaraffenland mißverstandene Paradies in der notwendigen Vertreibung aus demselben. Erst hiermit -so viele Ernst zu nehmende Interpreten- beginnt die Emanzipationsgeschichte der Menschheit (cf. Bloch, Moltmann u.v.a.). Kaum anders war es im Übrigen mit Ägyptens Fleischtöpfen, denen der Exodus folgte, der Anfang der Geschichte Israels als Volk Gottes – in der Wüste! Im Überfluss (des Roten Meeres) ersoffen die sarko-phagen Ägyper samt ihrer Streitkräfte. Im Jenseits lag das Paradies, dessen Erzählung Bestandteil der bibl. Urgeschichte ist, noch nie, und -cum tempore- nicht zu verwechseln ist mit apokalyptischen Endzeitvisionen, wo Lamm und Löwen beinträchtig beieinander liegen.

    Jenseits aller Bemäntelung herrscht auch in der systemischen Famiglia Konkurrenz und Druck. Daß die Welt, in die sie nun einwandern wollen, ein „Haifischbecken“ ist, ist ja nun wirklich kein Geheimnis. Dort herrscht auch noch das große Fressen!

    Mit dem dort drohenden Verlust ihrer Grunderkenntnisse hat die ST ihre Emanzipation vermutlich hinter sich. Krank bleibt krank und gesund gesund.

    Das nur mal eben kurz als ein paar Anregungen nebenbei. – Klappte nur alles so gut wie die Türchen des Adventskalenders! 😀 Advent heißt Ankunft. Ich bitte und bete, daß es anders kommt: Veni Creator Spiritus!

    …und sende herzliche Grüße!

    Wolfgang Traumüller

  5. Wolfgang Loth sagt:

    Lieber Rudi,
    hab Dank für Deine Einschätzung der Lage der SysTher n.K. (anstelle n.Chr., aber das ginge jetzt zu weit), also n.K., nach Kassensitzwinkewinke, mir wäre lieber Du hättest nicht recht, doch vermutlich hast Du. Und ich kann für mich nur sagen: d’accord. Womöglich helfen die „Saarländische Freude“ und der bekannte Eifeler Frohsinn weiter beim Blick über Tellerränder. Wommama hoffen.
    Und die embedded Systemütterchen-Geschichte ist genial.
    War es nicht Oscar Wilde, der meinte, es gebe zwei Quellen des Unglücks. Die eine sei, dass einem die Wünsche nicht erfüllt werden. Die andere, dass sie erfüllt werden.
    In diesem Sinne: lass uns unseren wunschlosen Joghurt genießen.
    Schöne Grüße aus der heiter-verregneten Eifel ins freudvolle Saarland
    Wolfgang

  6. MArtin Rufer sagt:

    Lieber Rudolf Klein

    Auch wenn ich die Stimmen derjenigen schon höre, die uns aus dereinst „geschützten Werkstätten“ (Zitat eines Kassen zulässigen, ärztlichen Psychotherapeuten) zurufen, dass sich eben nicht jeder ein BIO-Sahnejoghurt leisten kann und damit „Zwei Klassen Medizin“ unterstützt würde, weiss ich, dass mir und vor allem meinen Gästen BIO einfach schmeckt und inzwischen nicht wenige meiner, auch jüngeren KollegInnen auch auf den Geschmack kommen, ihren Betrieb inzwischen umgestellt haben oder umstellen wollen..

    MIt herzlichem Gruss aus einem BIO Betrieb in der Schweiz der demnächst sein 30.Jubiläum feiert
    Martin Rufer

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