Hartwig Hansen, Hamburg: Der Siegeszug des Systemischen?
Eigentlich ist es ganz einfach. Natürlich ist der systemische Grundgedanke bestechend stimmig und überzeugend: Alles hängt miteinander zusammen! Darum tun wir gut daran, über unseren Tellerrand hinauszuschauen. Wer in Beratung, Sozialarbeit und Supervision relevante Faktoren und „Umwelten“ außer Acht lässt, kriegt es mit ziemlicher Sicherheit im weiteren Verlauf „um die Ohren gehauen“.
Als ich vor über 30 Jahren von den noch weitläufig verstreuten Impulsen der systemischen Grundideen hörte und las, entwickelte ich noch eine gewisse Abneigung gegen diesen schick gewordenen neuen Trend, der eigentlich Selbstverständliches gediegen neu zu verpacken und zu transportieren schien. Moden kommen und gehen, dachte ich bei mir.
Bis ich mich schließlich selbst als systemisch denkend und arbeitend wiederfand, damals noch mit der Gewissheit: Geld verdienen lässt sich damit nicht, weil es eben keine Kassenleistung war und absehbar auch nicht werden würde. In gewisser Weise blieb „die systemische Gemeinde“ dadurch auch noch ein bisschen elitär mit den Vor- und Nachteilen eines Außenseiter-Daseins.
Weil der Grundgedanke „Alles gehört miteinander zusammen!“ aber so naheliegend und überzeugend ist, setzte er sich schließlich – wie im Schreibaufruf von Tom Levold skizziert – ausgesprochen erfolgreich durch, und das interessanterweise eben nicht nur im sozialen und therapeutischen Feld, sondern unter dem Label „Globalisierung“ auch in der Politik.
Es galt jetzt zunehmend als zeitgemäß und „alternativlos“, in größeren Zusammenhängen und Dimensionen zu denken und zu handeln.
Der Europäischen Union traten immer mehr Staaten bei und die G-Treffen der Großen bekamen immer höhere Ziffern hintendran.
Es wurde eine UN-Menschenrechtskonvention für die Rechte behinderter Menschen verabschiedet, und der elegant klingende Begriff „Inklusion“ wurde in der Folge zu oft zu einer neuen „Mogelpackung“, um in Wirklichkeit Kosten sparen zu können.
Aktuell soll der UN-Migrationspakt ohne verbindliche Wirkung der Einzelstaaten unterzeichnet werden.
Man denkt und handelt also durchaus unter dem systemischen Motto: Alles gehört miteinander zusammen – unsere Antworten müssen weltweit sein.
Zumindest in den Sonntagsreden denkt man auch schon mal über (die Bekämpfung der) Fluchtursachen nach – und rüstet gleichzeitig Frontex und die libysche Küstenwache auf.
So weit also der sich offenbar stetig fortsetzende Siegeszug der systemischen Idee bis ins aktuelle Jahrzehnt.
Wenn es doch alles wirklich so einfach wäre und sich diese Idee bis zur erfolgreichen Rettung dieser Erde immer weiter fortsetzen würde.
Ist es aber offenbar nicht, denn mittlerweile überfordert, verängstigt und nervt immer mehr Menschen dieses „ewige, alternativlose Über-den-Tellerrand-schauen-müssen“.
Erstmals gibt es in der Bundesrepublik Deutschland ein „Heimat-Ministerium“, damit die eigene Scholle wieder (mehr) gewürdigt werde.
Erstmals hat sich die Mehrheit einer Nation aus dem langjährig bewährten, friedenwahrenden System der Europäischen Union wieder verabschiedet (Stichwort Brexit).
Erstmals streitet eine amerikanische Regierung – entgegen aller wissenschaftlichen Belege – notorisch die menschgemachten Folgen auf das Weltklima ab.
Über das anhaltende Rollback, das Wiedererstarken von national(istisch)en Bewegungen, den zunehmenden Egoismus im öffentlichen und medialen Leben steht jeden Tag diverses in Ihrer Tageszeitung.
Wer die Augen offen hält, stellt fest, dass der einleuchtenden systemischen Idee bei ihrem „Siegeszug“ relevante Wirkfaktoren in der Psyche des einzelnen Menschen entgegenstehen. Um nur einige davon (ohne Rangfolge) zu nennen: Angst, Neid, Überforderung, Gier, Egozentrik, Machthunger, Empathie-Losigkeit. Bitte setzen Sie die Reihe fort.
Sie merken schon: Das Fragezeichen in der Überschrift ist bewusst gewählt.
Ich habe keine Ahnung, wie es in zehn Jahren um „das Systemische“ stehen wird.
Sein Siegeszug scheint derzeit mit erheblichen Gegenkräften zu tun zu haben.
Das Systemischste, was ich denken kann, sind – mal abgesehen von den Theorien um Schwarze Löcher, die ich eben nicht denken kann – die weltweiten Gefahren des Klimawandels durch jahrzehntelanges, fatales Umgehen mit den Ressourcen dieser Welt.
Dass – beispielhaft – die Menschen, die sich in dieser systemischsten aller Fragen um eine Lösung bemühen, die Macht erlangen bzw. behalten werden, diese Lösung(en) auch durchzusetzen, schätze ich aus heutiger Sicht zunehmend skeptisch ein.
Diese Skepsis bezieht sich auch auf die Lösung mittelgroßer systemischer Fragen.
Wie singen die Fantastischen Vier so treffend:
Es könnt‘ alles so einfach sein, isses aber nicht
Das hab ich mir irgendwie schöner gedacht.
Ich glaub ich hab irgend ’nen Fehler gemacht …
Die Attraktivität und unmittelbare Überzeugungskraft der systemischen Idee wird dadurch nicht geschmälert. Wir müssen jedoch wohl weiterhin „den ganzen Menschen“ im Auge behalten.