Hans Lieb, Edenkoven: Das systemische Feld in zehn Jahren
Wir befinden uns im Jahre 2028 und blicken zurück. Ich zentriere mich auf das mir vertrautere Gebiet der Systemtherapie im klinischen Sektor.
Die Systemtherapie ist sozialrechtlich als kassenfinanziertes Verfahren anerkannt – zuerst für den Bereich der Erwachsenen, dann auch für die Kinder – Jugendlichentherapie.
Welche Prognosen hatte es dazu in 2018 gegeben ?
Man hatte sich sehr viel Positives versprochen: Abrechnungsmöglichkeiten; weitere gesellschaftliche Anerkennung des systemischen Ansatz mit Prestigegewinne für Systemtherapeuten; Zugang vieler Menschen zur Systemtherapie.
Es gab aber auch berechtigte Sorgen: Das unvermeidliche Hantieren mit Sprachfiguren und Logiken des traditionell medizinisch ausgerichteten „Gesundheitssystems“ würden unbenommen aller Konstruktivismus-Bekenntnisse die Köpfe der darin tätigen Systemiker infiltrieren. Auf dem Markt der Selbständigen würde es zu einer Spaltung zwischen finanziell abgesicherten „Kassenabrechnern“ und weiter auf „Selbstzahler“ angewiesenen Systemikern kommen. Es könne zur Gründung einer eigenen Gesellschaft der „Systemischen Vertragspsychotherapeuten“ kommen.
Nun stelle ich 2028 zurückschauend fest: Es ist gut gelaufen – die Negativprognosen haben sich nicht erfüllt.
Systemtherapie wird in etlichen Praxen für Erwachsenen und Kinder / Jugendliche und deren Familien als „Kassenleistung“ durchgeführt. Deren Erfolge haben sich herumgesprochen. Viele Menschen, die sonst keinen Zugang dazu hätten, finden nun zur Systemtherapie. Systemiker haben das, was die damaligen Hauptakteure auf dem Weg zur sozialrechtlichen Anerkennung hierzu bereits erfolgreich aufgebaut hatten, noch weiter entwickelt: Die Systemtherapie hat heute einen festen Platz im Gesundheitssystem: als Kollegen mit Vertragspsychotherapeuten anderer Schulen, als Gutachter, bei Konferenzen. Man anerkennt sich dort gegenseitig. Die Systemiker haben dazu Wesentliches beigetragen: Mit im Gesundheitswesen anders Denkenden selbstbewusst und konstruktiv zu kommunizieren und zu diskutieren.
Die befürchtete subtile Aushöhlung der eigenen systemischen Identität durch die Übernahme ontologischer Krankheitslogiken hat keineswegs stattgefunden. Maßgeblich dafür war die Installation permanenter individueller und vor allem kollektiver diesbezüglicher bewusster Selbstbeobachtungen: In Ausbildungen, Supervisionen, Tagungen und Veröffentlichungen wurde und wird stets reflektiert, was in Köpfen, Interaktionen und Verbänden passiert, wenn man als Systemiker an das Gesundheitssystem ankoppelt und dort mit ontologischen Krankheitskonzepten operiert. Systemiker beherrschen mehr und mehr die Kunst, mir diesen Logiken kreativ umzugehen: mal dekonstruierend, mal diese nützend und manchmal solche auch bewußt konstruierend. So hat man sich im Gesamten die systemische Identität gewahrt.
Die Anerkennung des systemischen Ansatzes ist auf vielen weiteren gesellschaftlichen Gebieten gestiegen – so in der Kinder – und Jugendhilfe, ambulant und stationär, in der Organisationsberatung usw. Die systemische Community geht konstruktiv und kreativ mit der im Gesundheitswesen entscheidenden Leitunterscheidung „krank – gesund“ – bzw. hier genauer „krankheitswertig problembelastet“ (Kasse zahlt) und „nichtkrankheitswertig problembelastet (Kasse zahlt nicht) – um. Das hatte eine innerhalb der systemischen Community einen positiven Effekt für die „Nichtabrechner“: Kraft und Nutzen des Systemische Ansatz für beide Seiten dieser Unterscheidung sind immer bekannter geworden, weshalb die Nachfrage nach systemischer Therapie und Beratung auch bei Systemtherapeuten ohne Kassenzulassung zugenommen hat.
Es gibt jetzt in 2028 begründete Hoffnungen , dass das alles auch bis 2038 so positiv weitergehen weitergeht.