Liebe Leserinnen und Leser,
es ist wieder so weit: auch dieses Mal gibt es einen Adventskalender im systemagazin – mit einem Thema, mit dem sich vielleicht nicht jeder leicht tut: „Fremd – Vertraut. Begegnungen mit der Fremdheit“ ist das Motto des diesjährigen Kalenders. Die Globalisierung und die damit verbundene Möglichkeit der Echtzeitkommunikation weltweit gibt uns die Chance, jederzeit mit dem fremden in Berührung zu kommen. Wir sehen aber auch gerade gegenwärtig, welche Ängste und Befürchtungen dadurch mobilisiert werden. Der Wunsch nach Abschottung, nach dem vermeintlich Identitären nimmt zu. Betrachten wir die Welt als eine Fülle möglicher Wirklichkeitskonstruktionen, sollte uns das erschrecken. Der zentrale Affekt für Veränderung ist ja Interesse, die Voraussetzung für Exploration und Begegnung mit dem Unbekannten.
Wie auch in den vergangenen Jahren ist der Kalender für mich ein Abenteuer, denn er entsteht gewissermaßen „on the fly“. Die ersten Beiträge sind eingetroffen, aber die Türchen sind noch längst nicht gefüllt. Deshalb möchte ich Sie gerne auch jetzt noch einladen, Ihre Gedanken zum Thema zum beizusteuern. Die damit verbundenen Fragen könnten lauten: Wie wird uns das Fremde vertrauter? Wie können wir das Fremde im Vertrauten erkennen? Welche Erfahrungen in und mit der Fremde haben wir in unterschiedlichen privaten und beruflichen Kontexten gemacht und welche Schlüsse daraus gezogen? Was hat uns geprägt, angezogen, abgestoßen? Welche Rolle spielen dabei unsere eigenen kulturellen und milieugebundenen Vorerfahrungen? Wie ergeht es uns in der Arbeit mit Klientensystemen, die uns nicht ohne weiteres verständlich sind, weil sie ihre Werte und ihre Praxis aus uns fremden Bezugssystemen der Religion, Kultur und Weltanschaung beziehen? Welche Erfahrungen haben uns dabei bereichert, welche auch vorsichtiger gemacht? Welche Haltungen und Vorgehensweisen haben uns in der Auseinandersetzung mit diesen Themen unterstützt und geholfen? Wie sind unsere Klienten mit uns als Fremden zurechtgekommen und umgegangen?
Corina Ahlers aus Wien macht dieses Jahr den Anfang mit einer Geschichte über die Sprachverwirrung(en) in der psychotherapeutischen Praxis. Viel Vergnügen in den nächsten Tagen wünscht Ihnen
Tom Levold
Herausgeber systemagazin
Corina Ahlers, Wien: Die Sprache des Fremden: Über das emotionale Miss-, Neben- und Unverstehen
Vor vielen Jahren sagte eine Chilenin während einer Paarsitzung über ihren Partner: „In Barcelona konnte er zu mir sagen ,te amo’, und hier, in Wien, kann er es in seiner Sprache nicht: ,Ich liebe Dich’. Warum ist das so?“ Ihr österreichischer Partner bestätigte das und kannte keine Antwort. Die Chilenin erinnerte sich an ihre vielen Verehrer in Chile und an deren unglaublich wortgewaltige Liebeserklärungen …
Verbalerotik ist in der spanischen Sprache einfacher, dagegen ist Deutsch die Sprache von Pflicht und Ordnung und des Einhaltens von Verträgen. Deshalb erzählten mir schon als Kind meine spanischen, des Deutschen wenig mächtigen Schulkolleg_innen in der deutschen Schule auf Teneriffa: „Deutsche sind Quadratenköpfe!“. Dieser Satz ist mir bis heute markant in Erinnerung geblieben, denn er drückt ihr Verhältnis zur deutschen Kultur und ihre Vorurteile dazu aus, aber auch zur deutschen Sprache an sich. Sie klingt für sie hart, unerbittlich, kahlgeschoren, antimetaphorisch.
Und die Chilenin erzählte mir auch, dass eigentlich alle ihre chilenischen Verehrer viele Worte der Liebe verwendet, aber wenig davon eingehalten hätten …
So finden lateinamerikanische Frauen ihre österreichischen Männer: Sicherheit in Taten sind dann wichtiger als Worte.
Ein venezolanischer Klient von mir betrieb allerdings Verbalerotik per Skype mit seiner Cousine in Caracas, um seine „slawische“ Liebesbeziehung in Österreich etwas aufzupeppen. Anders gehe das nicht, meinte er.
Ein griechischer Kollege, jetzt Psychotherapeut hier in Wien, früher mein Studierender, verwendete zur Therapie Metaphern. Seine Techniken, Fragen, Moderationen, vollzogen sich sämtlich in Metaphern. Das mag im Deutschen oft affektiert, künstlich wirken. So denken wir und wir wissen nicht, wie seine Klient_innen denken.
Mit vielen Studierenden des internationalen Programms an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien spreche ich durchgehend Englisch. Keiner ist ein Native Speaker. Sie kommen aus allen Ländern und Kontinenten. Jeder spricht sein persönliches Englisch, und es ist oft nicht so einfach für andere, es zu dechiffrieren. Und es ist neben dem körperlichen Ausdruck (Mimik, Gestik, Ton …) unser einziges Vehikel zur Verständigung. Oft spreche ich den Namen dieser Menschen 20 Mal nach, bis ich ihn endlich richtig intoniere. Dann sind diese Menschen sehr happy, und ich bin stolz auf mich, dass ich das endlich schaffe. Unsere gemeinsame Sprache wird im Prozess geformt, angehalten, verfeinert, korrigiert, ver- oder missverstanden. Das ist unheimlich spannend und gleichzeitig sehr anstrengend. Ich bin streichfähig, wenn ich nach Hause komme, vor allem dann, wenn ich nicht die Vortragende bin (da kann ich mein persönliches Englisch reden), sondern wenn ich bei der Selbsterfahrung mehreren Menschen aus verschiedenen Ländern zuhöre und ihre Geschichten mit den Geschichten der anderen in Verbindung bringe. Das ist sehr aufwendig und gleichzeitig befriedigt mich diese Erfahrung. Ich sehe es als Verständnis meiner und derer/n Globalisierung.
Sprache ist Welt! Sprache ist nicht nur – aber auch – Worte!! Sprachlich systemisch umgehen bedingt, über den Tellerrand unserer bisherigen Wahrnehmungsgewohnheiten hinauszugelangen.
Ich wachse täglich an meinen trilingualen Sprachexperimenten mit Klient_innen und Studierenden. Und ich wünsche jedem Lust auf dieses Experiment: Es hat nicht nur bzw. nicht viel mit der Fachkenntnis der Fremdsprache zu tun. Es braucht vor allem Mut und Freude an neuen Kommunikationsformen, um mit dem Fremden zu sprechen.
Liebe Frau Ahlers
Auch das Foto passt so gut zu diesem schönen und anschaulichen Beitrag. Und die Sprache ist ja nur eine von zahllosen Ausdrucksformen
Clemens
Danke für den netten praxisnahen Beitrag über das fremdsprachige Kauderwelschen, das wir alle betreiben
Sabine