
Ambivalenz und All-Parteilichkeit: Ein Plädoyer für mehrdeutige Wirklichkeiten
Die moralische Gut-Böse-Unterscheidung gehört zu den elementaren kognitiven Operationen des menschlichen Denkens. Sie strukturiert unseren Alltag, organisiert gesellschaftliche Kommunikation und gibt unserem Leben Orientierung. Doch gerade die vermeintliche moralische Klarheit, die uns Sicherheit suggeriert, verstellt oft den Blick auf die fundamentale Komplexität menschlicher Verhältnisse. Im professionellen Kontext der systemischen Beratung und Therapie wird die Suche nach moralischer Eindeutigkeit, die in der letzten Zeit zunehmend auch im öffentlichen systemischen Diskurs Einzug gehalten hat, zum methodischen Problem.
Dort wird z.B. „aus rassismuskritischer Perspektive“ gegen Konzepte wie Neutralität oder Allparteilichkeit Stellung bezogen und gefordert, „in einem Mehrpersonensetting […] Position für die [von Rassismus, TL] berichtende Person zu beziehen und damit explizit nicht neutral aufzutreten oder sich allparteilich zu allen Beteiligten zu verhalten“ (Gold et al. 2021, S. 136).
Offensichtlich liegt solchen Positionen aber ein problematisches Verständnis von Allparteilichkeit zugrunde. Allparteilichkeit ist nämlich keinesfalls ein Plädoyer für moralischen Relativismus oder ethische Beliebigkeit. Sie ist vielmehr eine bewusst gewählte temporäre und auf einen spezifischen Handlungsrahmen beschränkte Suspendierung von Werturteilen. Sie ist keine weltanschauliche Gesinnung, sondern Ausdruck professionellen Handlungswissens. Sie erkennt an, dass hinter jeder Position, jeder Haltung, jedem Verhalten ein sinnvoller Grund liegt – eine Absicht, ein Bedürfnis, eine historisch gewachsene Logik, die im Kontext des Bezugssystems nachvollziehbar ist.
Wertekonflikte gehören zu unseren alltäglichen Erfahrungen. Die Unterscheidung von gut und böse ist dabei vergleichsweise einfach. Viel häufiger haben wir es aber mit Konflikten zu tun, die aus der Unvereinbarkeit von Motiven und Interessen resultieren, die jeweils für sich genommen Positivwerte darstellen. Das ist der Hintergrund unserer Ambivalenzen – oder besser gesagt: Polyvalenzen. Sie sind keine Mängel, die therapeutisch behoben werden müssen. Sie sind vielmehr das Material, mit dem jede Praxis der Veränderung zu tun bekommt. Wenn Menschen ihre Situation als problematisch erleben, bedeutet dies, dass sie bereits eine Unterscheidung getroffen haben: zwischen einer gegenwärtigen, als unbefriedigend erlebten Realität und möglichen – anders gestalteten, aber unsicheren – Zukünften. Diese energiegeladenen Ambivalenzen – das gleichzeitige Festhalten an und Zweifeln an etablierten Mustern – ist sowohl Treibstoff als auch Bremskraft für Veränderung.
Eine ambivalenzfreundliche Haltung bedeutet daher nicht, sich in Unentschlossenheit zu verlieren, sondern mehrere widerstreitende Wahrheiten gleichzeitig ernst zu nehmen, ohne dass eine die andere negieren muss.
Hier gilt es, eine entscheidende Grenzziehung vorzunehmen, die in Diskussionen über Neutralität oft verwischt wird: Allparteilichkeit ist kein Lebensprinzip. Sie kann keine Maxime sein, nach der systemische Therapeuten und Berater ihre privaten Angelegenheiten oder gesellschaftlichen Positionen gestalten könnten. Sie ist ein Arbeitsinstrument – begrenzt in Zeit und Raum, funktional auf den spezifischen professionellen Kontext der Arbeit mit einem bestimmten Bezugssystem bezogen.
Allparteilichkeit, insbesondere in Mehrpersonensettings, ermöglicht es der Therapeutin oder dem Berater, sich den Bedürfnissen und Sehnsüchten hinter den Positionen zuzuwenden, ohne diesen Positionen inhaltlich zustimmen zu müssen. Wenn ein Elternteil in einer Familientherapie eine Form von Kontrolle ausübt, die dem Therapeuten ethisch fragwürdig vorkommt, und ein anderes Familienmitglied diese als verletzend erfährt, dann bedeutet All-Parteilichkeit nicht, beide Haltungen für gleich gültig zu halten. Sie bedeutet vielmehr, nachzufragen: Was macht diese Kontrollausübung für diesen Elternteil notwendig? Welche Angst, welche Verantwortung, welche Liebesform steckt dahinter? Und gleichzeitig: Welche Autonomie braucht das Kind oder der andere Partner, um sich als Person entwickeln zu können?
Allparteilichkeit öffnet so einen Raum, in dem Verständigung möglich wird – nicht, weil man alles gut findet, sondern weil man die Logik jeder Position versteht, ohne sich für alle erklären zu müssen. Man kann sie auch als „Parteilichkeit für die Ambivalenz“ verstehen.
Diese professionelle Ambivalenzfreundlichkeit darf nicht mit einer Aufweichung von ethischen Grundsätzen verwechselt werden. Wenn es um Kindesmissbrauch, Gewalt oder die Verletzung fundamentaler Menschenrechte geht, hat Allparteilichkeit Grenzen. All-Parteilichkeit in solchen Fällen bedeutet dann, auch die Perspektive des Schutzes, der Grenzziehung, der notwendigen Intervention einzunehmen.
Sich gegen die Moralisierung des Systemischen Ansatzes auszusprechen, führt nicht in einen moralischen Relativismus, sondern sollte als Plädoyer für Differenzierungsfähigkeit verstanden werden. Während jeder Mensch als Bürger in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wie auch privat in seinen vielfältigen sozialen Beziehungen legitim klare Positionen vertreten kann und sollte, ermöglicht die Stärkung der Ambivalenztoleranz in professionellen Kontexten, Menschen nicht auf ihre derzeitige Position zu reduzieren, sondern sie in ihrer Bewegungsfähigkeit wahrzunehmen. Sie schafft Raum für Neugestaltung, ohne dass eine Seite sich als moralisch disqualifiziert erleben muss.
Das ist nicht indifferent gegenüber Wertvorstellungen. Es zeigt nur ein radikales Vertrauen in die Fähigkeit von Menschen, anders zu werden – wenn sie verstanden werden, nicht als das, wofür sie ihre Positionen halten, sondern als Träger von Bedürfnissen, die Anerkennung suchen.
Harry Aponte, ein früher Pionier der Familientherapie, hat Familientherapeuten einmal als „Wertedealer“ bezeichnet. Das bedeutet, sich der moralischen Qualität von Wertekonflikten bewusst zu sein und dennoch die Möglichkeit einer Verständigung über konflikthafte Wertvorstellungen offen zu halten. Kann man das aus guten Gründen nicht, ist nicht die parteiliche Intervention für bestimmte Wertvorstellungen im Klientensystem die Lösung, sondern die Zurückgabe des Arbeitsauftrages. Desungeachtet haben wir Systemiker natürlich auch als Bürger und Vertreter unserer Profession in der Öffentlichkeit die Möglichkeit, zu relevanten gesellschaftlichen Themen Position zu beziehen und Partei zu ergreifen. Zu unserer Profession gehört aber auch, die Logiken der therapeutischen und der politischen Veränderung nicht zu vermischen.
Ilja Gold, Eva Weinberg & Dirk Rohr (2021): Das hat ja was mit mir zu tun!? Macht- und rassismuskritische Perspektiven für Beratung, Therapie und Supervision. Heidelberg (Carl-Auer)
Stimmig
Gut gebrüllt Löwe Tom, und die Ausdifferenzierung mit dem letzten Satz auf den Punkt gebracht!
Dass diese unterschiedlichen Logiken immer wieder vermischt werden und zu Polarierungen führen, zeigt auch, dass wir leider oft selber an der Komplexität scheitern, wenn es um das eigene Eingemachte geht.
Einfach nur: DANKE, lieber Tom!