
Ambivalenz tut weh. Und genau deshalb meiden wir sie.
Ambivalenz hat keinen guten Ruf. Sie gilt als Zeichen von Unentschiedenheit, als Mangel an Klarheit, manchmal sogar als Schwäche. Wer ambivalent ist, so die stille Unterstellung, weiß noch nicht genug, hat sich noch nicht entschieden oder drückt sich vor Verantwortung.
Dabei liegt das Problem woanders.
Ambivalenz ist kein Denkfehler. Sie ist ein körperlicher Zustand.
Man kann das gut beobachten, wenn in einem Gespräch etwas gesagt wird, das sich nicht sofort einordnen lässt. Kein klarer Gegner, kein klarer Verbündeter. Ein Satz, der mehrere Lesarten zulässt. Für einen kurzen Moment entsteht Stille. Jemand rückt auf dem Stuhl hin und her. Ein Blick geht zur Seite. Der Atem verändert sich. Oft folgt rasch eine Nachfrage, eine Zuspitzung, ein Einordnen. Hauptsache: wieder Klarheit. Nicht weil die Ambivalenz falsch wäre, sondern weil sie unangenehm ist.
Ambivalenz bedeutet, dass widersprüchliche Impulse gleichzeitig aktiv sind: Zustimmung und Skepsis, Nähe und Rückzug, Interesse und Abwehr. Der Körper bekommt kein eindeutiges Handlungssignal. Er bleibt in Spannung. Und Spannung will sich lösen.
Schwarz-Weiß-Denken ist in diesem Sinne keine ideologische Verirrung. Es ist eine Regulationsleistung. Eindeutigkeit beruhigt. Sie senkt die innere Komplexität. Sie erlaubt Handlung, Haltung, Positionierung. In polarisierten Zeiten erleben wir genau das: klare Lager, klare Zuschreibungen, klare Feindbilder. Das verschafft Orientierung – und Entlastung.
Differenzierung dagegen kostet. Sie kostet Zeit, weil nichts sofort abgeschlossen ist. Sie kostet Energie, weil mehrere Perspektiven gleichzeitig gehalten werden müssen. Und sie kostet körperlich, weil das Nervensystem länger in erhöhter Erregung bleibt, ohne schnellen Ausgang.
Systemisch gesprochen: Systeme reduzieren Komplexität, um handlungsfähig zu bleiben. Menschen auch. Körper sowieso. Das ist kein Vorwurf, sondern eine nüchterne Beobachtung. Problematisch wird es dort, wo diese notwendige Reduktion verabsolutiert wird. Wo Eindeutigkeit nicht mehr als vorläufige Lösung verstanden wird, sondern als Wahrheit. Wo Ambivalenz nicht mehr als Spannungszustand gilt, sondern als Bedrohung. Dann wird nicht mehr geschaut, sondern sortiert. Nicht mehr gefragt, sondern zugeordnet. Nicht mehr ausgehalten, sondern abgewehrt.
Die Frage ist daher nicht: Wie kommen wir weg vom Schwarz-Weiß-Denken?
Die Frage ist: Wie viel Ambivalenz ist in einem gegebenen Moment überhaupt haltbar? Und für wen?
Eine aktuelle Beobachtung
In meiner derzeitigen Arbeit an einer Buchpublikation zur Psychologie des Autoritarismus begegnet mir Ambivalenz vor allem in ihrer Abwesenheit. Autoritäre Dynamiken leben davon, innere und äußere Widersprüche möglichst früh zu schließen. Mehrdeutigkeit wird nicht ausgehalten, sondern als Unsicherheit erlebt, die rasch in Ordnung, Gehorsam oder moralische Eindeutigkeit überführt werden muss.
Was dabei auffällt: Nicht Überzeugung steht am Anfang, sondern Erleichterung. Die klare Position entlastet. Sie beruhigt. Sie beendet das innere Schwanken. Ambivalenz hingegen würde bedeuten, widersprüchliche Erfahrungen, Gefühle und Wahrnehmungen nebeneinander bestehen zu lassen – ohne sofortige Auflösung. Genau diese Fähigkeit scheint in autoritären Mustern systematisch unter Druck zu geraten.
Diese Form von Ambivalenz ist eine besondere Herausforderung in einer Zeit, in der viele von uns in permanenten Empörungsräumen leben. Öffentliche Kommunikation wird beschleunigt, zugespitzt und durch algorithmische Logiken weiter polarisiert. Das Dazwischen, das Zögern, das Noch-nicht-Festgelegte hat dort kaum Platz – nicht weil es falsch wäre, sondern weil es sich schlecht verstärken lässt.
Vielleicht liegt darin eine unbequeme Einsicht: Wer Differenzierung fordert, sollte auch sagen, welche Unruhe er bereit ist zu ertragen. Ich erlebe mich beim Schreiben ständig auch körperlich gefordert, vor allem in meiner Atmung.
Die Pause
Vielleicht liegt der Ort der Ambivalenz nicht im Einatmen und nicht im Ausatmen.
Sondern in der kurzen Pause dazwischen. In diesem kaum wahrnehmbaren Moment ist noch nichts entschieden. Der Atem ist weder aufnehmend noch entlastend. Der Körper wartet. Nicht angespannt im eigentlichen Sinne, aber auch nicht gelöst. Ein Zwischenzustand.
Viele Menschen überspringen diese Pause. Sie atmen schnell weiter oder halten unwillkürlich an. Beides verkürzt den Moment des Übergangs. Dabei ist genau hier etwas erfahrbar: ein offenes Gleichgewicht, das weder Richtung noch Auflösung vorgibt.
Vielleicht ist Ambivalenz genau das. Kein Mangel an Entscheidung, sondern ein noch nicht beschleunigter Übergang. In dieser Pause drängt sich kein klares Bild auf, keine eindeutige Haltung. Wahrnehmung ist möglich, ohne sofort in Handlung zu kippen. Der Körper ist da – und noch nicht unterwegs.
Schwarz-Weiß-Denken vermeidet diese Pause. Es beschleunigt den Atem. Es zieht ihn entweder nach innen oder drückt ihn nach außen. Ambivalenz dagegen verlangt, diesen Moment auszuhalten, in dem beides möglich bleibt.
Vielleicht beginnt Differenzierung genau hier: nicht im Denken, sondern im Zulassen dieser kurzen Atemlücke, die weder Lösung noch Richtung verspricht – aber Präsenz.
Danke für diesen Beitrag, der mich an meine ethologischen Wurzeln erinnert hat – an das Übersprungsverhalten bei Spannungskonflikten zwischen divergierenden Impulsen. Und die Verlangsamung hilft auch bei n Streitigkeiten und Diskussionen (sic Kommentkampf versus Beschädigungskampf). Die kleine Pause beim Ein und Ausatmen bzw. zwischen zwei Positionierungen zu verlängern finde ishc durchaus reizvoll – in vieler Hinsicht. Alles Liebe Sabine Klar