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Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemagazin Adventskalender 2025 – 18. Johannes Herwig-Lempp

| 5 Kommentare

Wie divers bin ich eigentlich selbst? 

Vielfalt ist großartig – stimmt’s?! Ich bin unbedingt für Vielfalt, für Diversität. Für Offenheit gegenüber Verschiedenheit und Unterschiedlichkeit. Andersartigkeit ist fast immer anregend und bereichernd, bringt Farbe und Abwechslung in unser Leben, eröffnet neue Wege, Möglichkeiten und Entwicklungen.

Dies gilt in Bezug auf Menschen, die anders sind – die anders aussehen als ich und die meisten um mich herum, die aus anderen Kulturen kommen („spannend“), mit anderen, Gewohnheiten, Sprachen und Geschichten („interessant“), als ich sie kenne. Die andere Hautfarben, Weltbilder, Identitäten und Meinungen haben. 

Stop! Bei den Meinungen hört der Spaß an Verschiedenheit dann manchmal doch relativ sehr schnell auf – jedenfalls bei mir. Ich halte es nicht so gut aus, wenn Menschen anders denken als ich. Das betrifft selbstverständlich politische Ansichten und Überzeugungen, ganz klar. Aber nicht nur. Manchmal beginnt das bereits beim Geschmack. Ich finde es nicht immer unbedingt schön, wenn jemand andere Lebensmittel, Bücher, Bilder oder andere Menschen mag als ich, andere Vorlieben hat in Bezug auf Musik, Kunst, Kultur. Dann nehme ich sie oder ihn unter Umständen nicht mehr für voll. Oder wenn andere andere Vorstellungen davon haben, was gut und richtig ist, sich in ihren moralischen Ansprüchen von mir unterscheiden. Oder wenn andere etwas gegen Diversität und Vielfalt haben, zum Beispiel gegen andere Sitten und Gebräuche oder gar gegen „andersfarbige“ und „andersartige“ Menschen. Und das scheint nicht nur mir, sondern auch anderen manchmal so zu gehen.

Zum Beispiel auch, wenn Menschen anders gendern, als ich das bevorzuge. Und mich korrigieren, wenn ich das in ihren Augen „falsch“ mache. Oder meine Texte dann auch gleich, bevor sie sie weitergeben oder veröffentlichen, entsprechend ändern und anpassen – nämlich so, wie sie es selbst für richtig halten. Unterschiedliche Auffassungen übers Gendern halt. 

Oder wenn es um „Identität“ geht. Die Vorstellung, sich auf eine einzige („meine“) Identität zu beschränken und festzulegen, erscheint mir absurd. Für mich, aus meiner Sicht, hat jede von uns viele Identitäten, haben wir alle die Fähigkeit, uns auf vielfältigste Weise selbst (und gegenseitig) zu erleben, verstehen und zu beschreiben – so kann ich zugleich Vater, Mutter, Mann, Frau, Deutscher, Europäerin, Weltbürger, Fahrradfahrerin, Systemikerin, Sportler, Leserin, Ausländer („Alle Menschen sind Ausländer. Fast überall.“), Sozialarbeiterin, Hochschullehrer, Autorin etc. sein, und wenn auch nicht immer zugleich, dann doch zumindest zeitversetzt. Wieso sollte ich mich da auf eine einzige Beschreibung beschränken – und wieso sollten sich diese Beschreibungen nicht auch widersprechen, verschieden sein dürfen. Nicht nur ich, wir alle sind divers, jede von uns. 

Und dann natürlich die Meinungen und Ansichten – über alles mögliche, aber eben auch die politischen Überzeugungen. Da fällt es (mir) ganz besonders schwer, Diversität und Vielfalt zu akzeptieren. Ich glaube häufig einfach, dass meine Meinung die (einzig) richtige ist. Und halte es häufiger nicht so gut aus, zu akzeptieren, dass andere Menschen andere politische Ansichten, andere Werte, Vorstellungen und moralische Grundsätze haben als ich. Da komme ich mit meiner Akzeptanz von Vielfalt manchmal ziemlich schnell an meine Grenzen. Da kann ich dann kaum mehr etwas Gutes an der Diversität finden. Da werden diejenigen, die anderer Meinung sind, schnell zu „Gegnern“ oder gar „Feinden“, oder ich spreche ihnen Verstand und Vernunft ab, werte sie für mich ab. 

Gerne würde ich mich dann daran erinnern, dass ich ein Freund von Diversität sein möchte und den Genuss von Vielfalt schätze, sie eigentlich als bereichernd erleben will, und dankbar dafür sein könnte, dass andere Menschen anders denken als ich (denn, mit Karl Valentin: „Wo alle dasselbe denken, wird nicht viel gedacht“). Daran, dass ich diese anderen Auffassungen auch gut finden könnte, so wie ich mich ja auch für „fremde Kulturen“ interessiere. Damit würde ich meine Kommunikation mit diesen Menschen verbessern und vermutlich sogar zu einem besseren Nebeneinander oder gar zu einem Miteinander beitragen (als Systemikerin bin ich sogar davon überzeugt, dass das gelingen kann). Wir könnten beide etwas voneinander haben – wenn es mir gelänge, diese Andersdenkenden als ebenwertig anzusehen.

Und dann sehe ich Gunther Schmidt vor mir und höre ihn, wie er Zweifel und Ambivalenz unterstützt, als er in einer Supervision, in der sich ein Klient veränderungswillig zeigt, spielerisch dagegen hält: „Man weiß nicht, worauf Sie sich einlassen. Es ist mühselig, das sage ich Ihnen gleich. Wenn Sie wirklich sich darauf einlassen würden, […] das wird nicht einfach. Das schaffen nur, also wenige Leute. Die meisten Leute, die da so, durchschnittliche Leute, würden halt sagen: ‚Mein Gott, was soll ich mir die Mühe machen und alles und – ach, lassen wir doch alle Fünfe gerade sein.‘ […] Ich könnt verstehen, wenn Sie sagen: ‚Oh, ist mir zu schwierig! Ich geh den Weg des geringeren Widerstands. Die einfache Variante. Gemütlicher.‘ Ich hätte Verständnis.“ 1

Er hätte sicher auch Verständnis, wenn ich gar nicht erst versuchen würde, mehr Diversität auszuhalten, weil es zu schwierig ist. Und auch ich könnte Verständnis dafür haben, wenn ich es lasse. Wir Menschen sind eben komplex, vielfältig, divers, werden nicht allen unseren Ansprüchen gerecht. Ich bin selbst verantwortlich dafür, wie divers ich sein will, wie viel Andersartigkeit und Vielfalt ich zulassen will – und ich kann dazulernen, üben, auch wenn es anstrengend ist. Und ich weiß, dass ich manchmal andere irritiere und damit ihre Toleranz für Diversität herausfordere.

Gunther Schmidt in: Steve de Shazer, Luc Isebaert, Gunther Schmidt (1999), Teil IV Supervision zu einem obdachlosen Langzeitpatienten, in: diess., Ambulante und stationäre Lösungsmodelle für die effektive Kurzzeittherapie von Suchtproblemen, Ein dreitägiges Lehrseminar auf 6 Videobändern, Video-Cooperative-Ruhr

5 Kommentare

  1. …Beide Texte empfinde ich als angenehm anregend/unaufgeregt/abregend, Danke, Jan Bleckwedel

  2. M. Ochs sagt:

    …ein Kollege hat mich heute darauf aufmerksam gemacht, dass Adorno als Kriterium einer humanen Gesellschaft benannt hat, dass jede*r „ohne Angst verschieden sein kann“…
    Herzliche Grüße
    Matthias

    • Stefan Beher sagt:

      Als alter Adornit wäre mir zu dem Thema hier eher ein Titel aus den Minima Moralia eingefallen (auch wenn sich Auschwitz-Analogien ja, keine Frage, grundsätzlich verbieten): „Immer davon reden, nie daran denken“. Der große Sprachästhet hätte das Gendern im Übrigen noch viel mehr gehasst als das gesamte Klientel der Sozialen Arbeit zusammen – und als Theoretiker des Nicht-Identischen über die ihm zu Grunde liegende Identitäts-Politik vermutlich eine Polemik nach der anderen verfasst 😉

  3. Stefan Beher sagt:

    Lieber Herr Herwig-Lempp,

    vielen Dank für Ihren Adventskalenderbeitrag, der ein wichtiges Thema anspricht: die Schwierigkeit, mit Meinungsvielfalt umzugehen – selbst und gerade wenn man sich Diversität auf die Fahnen schreibt. Ihre Selbstkritik und Offenheit sind wertvoll, nicht zuletzt weil es mittlerweile empirische Belege dafür gibt, dass mangelnde Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen gerade im progressiven Lager ein reales Problem darstellt – die Heterodox Academy dokumentiert dies z.B. eindrücklich.

    Ihr Beispiel zum Gendern illustriert das Dilemma besonders gut. Sie schreiben, dass Sie Schwierigkeiten haben, andere Genderpräferenzen zu akzeptieren. Das ist nachvollziehbar, zumal in systemischen und sozialarbeiterischen Kontexten eine klare Erwartungshaltung herrscht: Wer nicht entsprechend gendert, riskiert schnell den Vorwurf mangelnder Geschlechtergerechtigkeit oder Schlimmeres. Diese soziale Dynamik ist real und wirkmächtig. Hätten Sie eine andere Meinung zu dem Thema, könnte das höchst unerfreuliche Konsequenzen nach sich ziehen.

    Gleichzeitig lohnt sich ein Blick auf die Argumente selbst: Die sprachwissenschaftliche Forschung zur geschlechtergerechten Sprache ist mindestens umstritten. Während einige Studien Effekte beschreiben, zeigen andere keine oder gegenteilige Wirkungen. Philip Hübl hat in einer frei auf Youtube verfügbaren Vorlesung zum Thema die methodischen Schwächen vieler Studien und das Missverhältnis ihrer Ergebnisse zu den daraus gezogenen Schlussfolgerungen detailliert und nüchtern analysiert. Schon auf definitorischer Ebene ist schwer zu begründen, dass die Standardsprache ein Gerechtigkeitsproblem aufweist – das generische Maskulinum funktioniert grammatisch anders als biologisches Geschlecht.

    Interessant ist dabei die Diskrepanz zwischen Aktivismus und Akzeptanz: Die deutliche Mehrheit der Bevölkerung – über Geschlechter- und politische Grenzen hinweg – lehnt Genderformen ab. Das gilt übrigens ganz besonders für Bevölkerungsgruppen, mit denen etwa Sozialarbeit hauptsächlich zu tun hat. Hier eine umstrittene Sprachpraxis zum Standard erheben zu wollen, die gerade bei der eigenen Klientel auf besonders große Ablehnung stößt, erscheint mir paradox.

    Was mich an der Gender-Debatte nachdenklich stimmt: Die Praxis funktioniert häufig vor allem als soziales Signal – als Marker für die Zugehörigkeit zu einem bestimmten, progressiv-akademischen Milieu und für eine „richtige Haltung“. Gerade dadurch kann sie aber ausgrenzend wirken. Eine große Mehrheit von Menschen mit anderen sprachlichen Gewohnheiten, nicht zuletzt auch anderen Bildungshintergründen oder einfach anderen Prioritäten, darunter auch zahlreiche der in solchen Kontexten oft bemühten „marginalisierten Gruppen“, etwa Sprachnovizen, können sich schnell außen vor fühlen. Im systemischen Kontext erlebe ich zudem, dass die Frage nicht als offener Diskurs behandelt wird, sondern trotz gewichtiger und gut begründeter Gegenargumente als gelöst gilt – abweichende Positionen sind kaum möglich, ohne moralisch abgewertet zu werden oder sogar berufliche Konsequenzen zu riskieren.

    Persönliche Präferenzen sind selbstverständlich legitim, und im privaten Rahmen sollte jeder sprechen, wie er möchte. Die Frage ist nur, ob daraus ein allgemeiner Standard werden sollte – gerade, wenn er insbesondere außerhalb der eigenen Blase auf breite Ablehnung trifft und möglicherweise genau jene Spaltungen vertieft, die wir doch eigentlich überwinden wollen.

    Mit kollegialen Grüßen
    Stefan Beher

    • Jürgen Wernicke sagt:

      Wie der ursprüngliche Text sehr anregend, nachdenkenswert und zum Glück auch selbst nachdenklich. Vielen Denk! 😉
      Grüße aus Schwerin Jürgen Wernicke

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