
Wie divers bin ich eigentlich selbst?
Vielfalt ist großartig – stimmt’s?! Ich bin unbedingt für Vielfalt, für Diversität. Für Offenheit gegenüber Verschiedenheit und Unterschiedlichkeit. Andersartigkeit ist fast immer anregend und bereichernd, bringt Farbe und Abwechslung in unser Leben, eröffnet neue Wege, Möglichkeiten und Entwicklungen.
Dies gilt in Bezug auf Menschen, die anders sind – die anders aussehen als ich und die meisten um mich herum, die aus anderen Kulturen kommen („spannend“), mit anderen, Gewohnheiten, Sprachen und Geschichten („interessant“), als ich sie kenne. Die andere Hautfarben, Weltbilder, Identitäten und Meinungen haben.
Stop! Bei den Meinungen hört der Spaß an Verschiedenheit dann manchmal doch relativ sehr schnell auf – jedenfalls bei mir. Ich halte es nicht so gut aus, wenn Menschen anders denken als ich. Das betrifft selbstverständlich politische Ansichten und Überzeugungen, ganz klar. Aber nicht nur. Manchmal beginnt das bereits beim Geschmack. Ich finde es nicht immer unbedingt schön, wenn jemand andere Lebensmittel, Bücher, Bilder oder andere Menschen mag als ich, andere Vorlieben hat in Bezug auf Musik, Kunst, Kultur. Dann nehme ich sie oder ihn unter Umständen nicht mehr für voll. Oder wenn andere andere Vorstellungen davon haben, was gut und richtig ist, sich in ihren moralischen Ansprüchen von mir unterscheiden. Oder wenn andere etwas gegen Diversität und Vielfalt haben, zum Beispiel gegen andere Sitten und Gebräuche oder gar gegen „andersfarbige“ und „andersartige“ Menschen. Und das scheint nicht nur mir, sondern auch anderen manchmal so zu gehen.
Zum Beispiel auch, wenn Menschen anders gendern, als ich das bevorzuge. Und mich korrigieren, wenn ich das in ihren Augen „falsch“ mache. Oder meine Texte dann auch gleich, bevor sie sie weitergeben oder veröffentlichen, entsprechend ändern und anpassen – nämlich so, wie sie es selbst für richtig halten. Unterschiedliche Auffassungen übers Gendern halt.
Oder wenn es um „Identität“ geht. Die Vorstellung, sich auf eine einzige („meine“) Identität zu beschränken und festzulegen, erscheint mir absurd. Für mich, aus meiner Sicht, hat jede von uns viele Identitäten, haben wir alle die Fähigkeit, uns auf vielfältigste Weise selbst (und gegenseitig) zu erleben, verstehen und zu beschreiben – so kann ich zugleich Vater, Mutter, Mann, Frau, Deutscher, Europäerin, Weltbürger, Fahrradfahrerin, Systemikerin, Sportler, Leserin, Ausländer („Alle Menschen sind Ausländer. Fast überall.“), Sozialarbeiterin, Hochschullehrer, Autorin etc. sein, und wenn auch nicht immer zugleich, dann doch zumindest zeitversetzt. Wieso sollte ich mich da auf eine einzige Beschreibung beschränken – und wieso sollten sich diese Beschreibungen nicht auch widersprechen, verschieden sein dürfen. Nicht nur ich, wir alle sind divers, jede von uns.
Und dann natürlich die Meinungen und Ansichten – über alles mögliche, aber eben auch die politischen Überzeugungen. Da fällt es (mir) ganz besonders schwer, Diversität und Vielfalt zu akzeptieren. Ich glaube häufig einfach, dass meine Meinung die (einzig) richtige ist. Und halte es häufiger nicht so gut aus, zu akzeptieren, dass andere Menschen andere politische Ansichten, andere Werte, Vorstellungen und moralische Grundsätze haben als ich. Da komme ich mit meiner Akzeptanz von Vielfalt manchmal ziemlich schnell an meine Grenzen. Da kann ich dann kaum mehr etwas Gutes an der Diversität finden. Da werden diejenigen, die anderer Meinung sind, schnell zu „Gegnern“ oder gar „Feinden“, oder ich spreche ihnen Verstand und Vernunft ab, werte sie für mich ab.
Gerne würde ich mich dann daran erinnern, dass ich ein Freund von Diversität sein möchte und den Genuss von Vielfalt schätze, sie eigentlich als bereichernd erleben will, und dankbar dafür sein könnte, dass andere Menschen anders denken als ich (denn, mit Karl Valentin: „Wo alle dasselbe denken, wird nicht viel gedacht“). Daran, dass ich diese anderen Auffassungen auch gut finden könnte, so wie ich mich ja auch für „fremde Kulturen“ interessiere. Damit würde ich meine Kommunikation mit diesen Menschen verbessern und vermutlich sogar zu einem besseren Nebeneinander oder gar zu einem Miteinander beitragen (als Systemikerin bin ich sogar davon überzeugt, dass das gelingen kann). Wir könnten beide etwas voneinander haben – wenn es mir gelänge, diese Andersdenkenden als ebenwertig anzusehen.
Und dann sehe ich Gunther Schmidt vor mir und höre ihn, wie er Zweifel und Ambivalenz unterstützt, als er in einer Supervision, in der sich ein Klient veränderungswillig zeigt, spielerisch dagegen hält: „Man weiß nicht, worauf Sie sich einlassen. Es ist mühselig, das sage ich Ihnen gleich. Wenn Sie wirklich sich darauf einlassen würden, […] das wird nicht einfach. Das schaffen nur, also wenige Leute. Die meisten Leute, die da so, durchschnittliche Leute, würden halt sagen: ‚Mein Gott, was soll ich mir die Mühe machen und alles und – ach, lassen wir doch alle Fünfe gerade sein.‘ […] Ich könnt verstehen, wenn Sie sagen: ‚Oh, ist mir zu schwierig! Ich geh den Weg des geringeren Widerstands. Die einfache Variante. Gemütlicher.‘ Ich hätte Verständnis.“ 1
Er hätte sicher auch Verständnis, wenn ich gar nicht erst versuchen würde, mehr Diversität auszuhalten, weil es zu schwierig ist. Und auch ich könnte Verständnis dafür haben, wenn ich es lasse. Wir Menschen sind eben komplex, vielfältig, divers, werden nicht allen unseren Ansprüchen gerecht. Ich bin selbst verantwortlich dafür, wie divers ich sein will, wie viel Andersartigkeit und Vielfalt ich zulassen will – und ich kann dazulernen, üben, auch wenn es anstrengend ist. Und ich weiß, dass ich manchmal andere irritiere und damit ihre Toleranz für Diversität herausfordere.
1 Gunther Schmidt in: Steve de Shazer, Luc Isebaert, Gunther Schmidt (1999), Teil IV Supervision zu einem obdachlosen Langzeitpatienten, in: diess., Ambulante und stationäre Lösungsmodelle für die effektive Kurzzeittherapie von Suchtproblemen, Ein dreitägiges Lehrseminar auf 6 Videobändern, Video-Cooperative-Ruhr