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Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemagazin Adventskalender 2025 – 17. Jule Thermann

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„Ich weiß.“

Als mich der Aufruf zum diesjährigen systemagazin-Adventskalender erreichte, erinnerte ich mich spontan an einen Cartoon, den ich irgendwann in den 90ern – ich ging noch zur Schule – irgendwo gesehen hatte. Wie diese Zeichnung damals wirklich aussah? Ich war mir jahrzehntelang sicher, dass sie einen knappen Dialog zwischen einem weißhäutigen Missionar oder Forscher und einem dunkelhäutigen Ureinwohner darstellte. Meine Erinnerung ist allerdings so verlässlich, wie Wirklichkeit eben sein kann, wenn sie sich über eine sehr lange Zeit narrativ oder gedanklich weiterentwickelt hat. Mir ist durchaus bewusst, dass ich mich beim Erinnern irre, das ist okay. Trotzdem wollte ich wissen, wie der Cartoon „wirklich“ aussieht und suchte im Netz. Gefunden habe ich nur eine Zeichnung (von Brösel), die mir völlig fremd vorkam. Irritation pur. Also tat ich, was man heute tut: Ich fragte die KI. Sie erzeugte mir ein Bild, das meiner Erinnerung deutlich näherkam. Dass sie den Missionar durch einen „Schlipsträger“ ersetzte, gefiel mir schließlich sogar noch besser, weil es den kulturellen Unterschied noch deutlicher markiert.

Jedenfalls geht es in dem Comic ungefähr so zu: Der weiße (in meinen Augen!) Mann! – Schublade, zack! – zeigt auf den dunkelhäutigen, kulturell anders sozialisierten Mann! und sagt knapp:

„Du schwarz.“

(Und hier wird es schon ein bisschen interessant, denn eine solch merkwürdige Satzstellung taucht nämlich gern dann auf, wenn wir glauben, unser Gegenüber könne unsere Sprache nicht verstehen. Dann sprechen wir plötzlich selbst, als hätten wir sie gerade erst gelernt – eine Art gut gemeinte, aber unbeholfen anmutende „Tarzansprache“, weil wir eventuell annehmen, dass weniger Grammatik mehr Verständlichkeit bringt?)

Der dunkelhäutige Mann in meinem rekonstruierten bzw. neu erfundenen Comic reagiert herrlich unbeeindruckt und freundlich mit einem Satzbau in perfektem Deutsch:

„Ich weiß.“

Diesen Antwortsatz fand ich schon damals köstlich. Nur zwei Worte – und eine ganze Welt von Bedeutungen geht auf. Mehrfachbedeutungen sind es ja oft, die den Witz zum Witz machen. 

Der Witz entsteht hier mitunter, weil das vermeintlich Offensichtliche plötzlich nicht mehr eindeutig ist. „Ich weiß“ kann in diesem Zusammenhang ganz Unterschiedliches bedeuten, zum Beispiel: „Ach du, ich bin bestens informiert über meine Hautfarbe.“, oder: „Du irrst – ich sehe mich selbst ganz anders, als du mich siehst.“ oder: „Danke für den Hinweis, aber dein sprachlicher Minimalismus ist nicht nötig. Ich bin eine Deutsche.“ (möglicherweise liest sich die dunkelhäutige Person weiblich, wer weiß!?)

„Ich weiß.“ Systemisch betrachtet ist der Comic ein kleines Meisterwerk. Das Zuschreiben verpufft. Das Machtgefälle gleich mit. Eine Person versucht, die Wirklichkeit einer anderen zu definieren – diese sagt schlicht: „Ich weiß“ und holt die Deutung zu sich zurück. Herrlich! Und auch irgendwie entlastend. Denn ein beiläufiges „Ich weiß“ kann Spannungen nehmen und eine Situation quasi durch Nicht-Widerstand entwaffnen.

Was ich an der Idee des Cartoons heute noch mehr schätze als in einer Zeit, in der ich von systemischer Haltung noch nie gehört hatte, ist die Einladung, über meine eigenen schnellen Schubladen nachzudenken. Natürlich nehme auch ich spontan in Kategorien wahr. Es passiert automatisch, so wie Lesen, sobald man es einmal kann. Meiner Tochter fiel auf – als sie das Lesen gelernt hatte –, dass sie nicht mehr nicht lesen konnte. Alles in lateinischer Schrift springt ihr unmittelbar als zu lesendes Wort entgegen. Eine Art „Lesezwang“ vielleicht? So automatisiert „lesen“ wir mitunter auch andere Menschen: Hautfarbe, Kleidung, Körpersprache. Zack – Schublade auf, Schublade zu. Wenn ich einen dunkelhäutigen Menschen auf der Straße sehe, fällt mir das einfach auf. Ich denke bzw. registriere – beiläufig, aber sofort – „dunkle Haut“, manchmal sogar mit einer spontanen Bewertung (ist mir zu dunkel oder schön braun…).

Das falsch erinnerte Cartoon erinnert mich als Systemikerin jedenfalls daran, wie leicht ich mit meinen Zuschreibungen doch danebenliegen kann; wie hilfreich es sein kann, mehr als eine Deutung zuzulassen; wie befreiend es sich anfühlen kann, dass die Welt eben nicht eindeutig ist. Und, wie wohltuend es sein kann, mit Offenheit, Neugier und einer Prise Leichtigkeit in einen Dialog zu gehen – bereit, Widersprüche und Mehrdeutigkeiten auszuhalten oder mich sogar an ihnen zu erfreuen.

Und jetzt mein Schlenker zum Advent: vielleicht passt dieser Comic gerade deshalb für mich so gut in die Adventszeit – als eine Zeit des langsameren Hinschauens, des neugierigen Nachfragens, des Aushaltens und Akzeptierens von Mehrdeutigkeiten. Und: Advent könnte auch eine Zeit des herzlichen Lachens über die eigene (kurzsichtige, einfältige, wunderbar menschliche) Wahrnehmung sein. 

Wirklichkeit ist bunt, nicht nur schwarz oder weiß.

Nun ja… bei meinen Lieblingsweihnachtsplätzchen bestehe ich allerdings genau auf diese unbunte Kombination. Schwarz und Weiß. Zusammen mit einem heißen Punsch und einer Portion Humor sind sie – zumindest für mich – in der Lage, so manch´ Schwieriges wunderbar erträglich zu machen.

    Jule Thermann, Halle (Saale)

KI-generiert

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