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systemagazin Adventskalender 2025 – 16. Arist von Schlippe

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Ein kleiner Beitrag zur Beobachtung zweiter Ordnung zum Advent

Es gibt in diesen Zeiten vieles, was zu Besorgnis Anlass gibt. Ich möchte aus den vielen Ereignissen, zu denen man etwas sagen (vielleicht auch schreien) müsste, zwei herausgreifen: die Feiern vom 3.10. zum diesjährigen Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung und zu einem Zeitungsartikel der vergangenen Wochen, zu dem hier der Titel genügen soll: „Brüssel stellt Fahrplan zur Aufrüstung vor“. 

Beide sind für mich Anlass, zu fragen, wie eigentlich jenseits von „Kriegstüchtigkeit“ eine Kommunikationsstrategie aussehen müsste, die von dem Bewusstsein ausgeht, dass Kriege Formen von Kommunikation und Ergebnis von Kommunikation sind. Wer das nicht im Blick hat, macht sich blind dafür, wie er (oder leider auch sie) mit seiner Art zu kommunizieren die Gefahr mit heraufbeschwört, vor der gewarnt wird. Seit dem Angriff auf die Ukraine scheint die westliche Welt einer kollektiven Kriegslogik zu folgen, wie sie etwa Luc Ciompi oder Fritz Glasl beschreiben (s. die von Tom Levold und mir herausgegebene Familiendynamik 4/2024). Einseitig wird die Notwendigkeit eigener Rüstung betont, ohne diese Schritte gleichzeitig durch intensive Kommunikation zu begleiten, die das Risiko von Missverständnissen und damit der Kriegsgefahr begrenzt. Schon vorsichtige Zeichen von Verständigungsbereitschaft werden als Schwäche ausgelegt. Europa wird als Festung verstanden, die sich nun eng gegen Russland zusammenschließen müsse – dabei gehört auch dieses Land zu Europa. Was hätte es geschadet, wenn bei den Feiern zum 3. Oktober von verantwortlicher Stelle deutlich gesagt worden wäre, wie dankbar wir Deutschen dem russischen Volk sind (oder meinetwegen sein sollten), dass uns vor 35 Jahren auch von dieser Seite aus die Wiedervereinigung ermöglicht wurde, wie groß unser Interesse ist, in eine gute Beziehung zu den Menschen in Russland zurückzukommen, und dass wir bereit sind, alles dafür zu tun, dies langfristig wieder zu ermöglichen? Stattdessen wird ein Europa beschworen, das sich gegen Russland zusammenschließen müsse und das damit alle Menschen dieses Landes explizit ausschließt, auch die nachdenklichen, kritischen und so die Feinde mit erzeugt, gegen man sich abgrenzt. Eine Friedenslogik würde neben vielleicht notwendigen Aufrüstungsschritten immer wieder unmissverständliche kommunikative Signale senden, die es der anderen Seite erschweren, diese Schritte als Bedrohung wahrzunehmen. Von Haim Omer habe ich gelernt, dass dies eine wesentliche Qualität von Konfliktkommunikation ist: auf eine Weise zu sprechen, die die Vielstimmigkeit auf „der anderen Seite“ vergrößert. 

Es gilt zu erkennen, dass der eigentliche „Feind“ die Eskalation ist – und diese beginnt in der Kommunikation und setzt sich langsam aber stetig, schrittweise fort. Ohne eine klare Kommunikationsstrategie folgen wir wie die Schlafwandler der Logik des Krieges.

Schließen möchte ich mit einem meiner liebsten Zitate, es ist von Max Frisch:

„In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die anderen in uns hineinsehen, Freund wie Feinde. Und um­gekehrt. Auch wir sind die Verfasser der anderen; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwort­lich für das Gesicht, das sie uns zeigen…. Wir sind es, die dem Freunde, dessen Erstarrtsein uns bemüht, im Wege stehen, und zwar dadurch, dass unsere Meinung, er sei erstarrt, ein weiteres Glied in jener Kette ist, die fesselt und langsam erwürgt. Wir wünschen ihm so, dass er sich wandle, o ja, wir wünschen es ganzen Völkern! Aber darum sind wir noch lange nicht bereit, unsere Vorstellung von ihnen aufzugeben. Wir selber sind die letzten, die sie verwandeln. Wir halten uns für den Spiegel und ahnen nur selten, wie sehr der andere seinerseits eben Spiegel unseres erstarrten Menschenbildes ist, unser Erzeugnis, unser Opfer.“ (Max Frisch (1964). Tagebuch 1946-1949. Frankfurt: Suhrkamp, pp. 33f; Kursivsetzung: AvS)

2 Kommentare

  1. Jürgen Wernicke sagt:

    Vielen Dank für diese leider viel zu selten geäußerte Sicht. Ich bin erschüttert darüber, dass „wir“ so stark dazu neigen, uns einseitig festzulegen, eine Seite der Polarität als alternativlose einzige Option zu propagieren – und zwar sowohl die „Kriegsfreunde“ als auch die „Pazifisten“. Wie wenig Bewusstsein dafür ist, dass auch in einem Krieg zivile Arbeit geleistet werden muss, dass auch ein Frieden möglicherweise mit Verteidigungsbereitschaft durch Waffen ermöglicht wird. Dass es Okay ist, kein Soldat werden zu wollen, aber eben auch Okay als Soldat zu dienen. Dass eine allgemeine Dienstpflicht viel mehr Bewusstsein für einen Dienst an der Gemeinschaft ermöglicht als eine Festlegung auf Wehrdienst. Dass nicht nur Veteranen mit einem Gedenktag aufgewertet werden, sondern jeglicher Einsatz für die Gesellschaft. Ich könnte noch viel mehr Beispiele nennen, das soll aber erstmal reichen.
    So klar wie in Ihrem Beitrag, Herr von Schlippe, habe ich diesen Gedanken noch nirgendwo gelesen oder gehört, auch nicht bei den eigentlich dafür zuständigen Philosophen, Friedensforschern und dergleichen. Vielen dank!

  2. M. Ochs sagt:

    Danke, Arist, für das schöne Max Frisch Zitat – das wunderbar veranschaulicht, was mit epistemologischem sozialen Konstruktionismus gemeint ist… Herzlich, Matthias

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